39
Maggie war schon auf
den Beinen, als der Kurier kam. Sie hatte fast die ganze Nacht lang
wach gelegen.
Als sie beinahe
eingeschlafen war, war die erste Besucherin in ihrem Zimmer
erschienen. Dann die nächste, dann noch eine. Die Gespräche hatten
sie so beschäftigt, dass es ihr kaum gelungen war, sich wieder zu
beruhigen.
Als Erste war
Miranda zu ihr gekommen. Sie hatte dreimal an Maggies Tür geklopft,
sich an ihr Bett gesetzt und war gleich zur Sache gekommen:
»Maggie, ich mache mir Sorgen wegen Gabriel. Irgendetwas ist da
komisch. An ihm und an der ganzen Situation.«
Maggie hatte sich
aufgesetzt und ihre Nachttischlampe eingeschaltet. Wieder hatte sie
sich gewünscht, sie könnte die Wahrheit sagen, aber das ging nicht.
Noch nicht. Sie hatte stattdessen gelacht und mit Humor auf
Mirandas Bemerkung reagiert. »Miranda, ich bitte dich. Nur weil ich
mit Angus einen Fehler gemacht habe, heißt das nicht, dass ich
gleich wieder einen machen werde.«
»Ich sehe nur mit
Sorge, dass du im Moment sehr verwundbar bist und er das womöglich
ausnutzen könnte.«
Miranda lallte ein
wenig. Sie hatte beim Essen kräftig dem Wein zugesprochen. Maggie
malte sich aus, wie ihre Tante reagieren würde, wenn sie ihr in
diesem Moment die Wahrheit erzählen würde. Sie wäre außer sich vor
Wut, weil man sie hinters Licht geführt hatte. Sie würde Leo in
Stücke reißen, dann Maggie und schließlich auch Gabriel, weil er
mit in die Sache verwickelt war, und dann würde sie vermutlich
wutentbrannt abrauschen. Eliza würde ihr sehr wahrscheinlich
nachfolgen. Leo wäre außer sich. Jede Aussicht auf ein Wiedersehen
mit Sadie – falls die Frau in Dublin wirklich Sadie war -, während
sie alle in Donegal waren, wäre ruiniert. Maggie musste
durchhalten.
Miranda war noch
nicht fertig. »Ich will ja nur, dass du vorsichtig bist. Das mit
Gabriel ist alles so schnell gegangen. Du hast ihn niemals zuvor
erwähnt – im Grunde hast du überhaupt nie etwas aus deinem Leben in
New York erwähnt -, und auf einmal taucht er hier auf. Kann einfach
alles stehen und liegen lassen. Weicht all meinen Fragen aus
…«
»Deshalb bist du so
misstrauisch. Da hast du einmal deinen Meister
gefunden.«
»Ich bin
misstrauisch, weil ich dich sehr lieb habe und nicht will, dass dir
schon wieder wehgetan wird. Überstürze nichts. Lerne ihn erst noch
ein wenig besser kennen. Hör auf deinen Bauch.«
»Ich brauche nicht
auf meinen Bauch zu hören. Ich habe doch eine Mutter und vier
Tanten, die mir Ratschläge erteilen.«
»Vier?«
»Vier. Du, Juliet,
Eliza und Sadie.«
»Macht drei
einsatzfähige Tanten. Und was deine Mutter und ihre Fürsorge
angeht«, höhnte Miranda, »deine Mutter würde doch nicht einmal
merken, wenn du mit einem Erdmännchen als Verlobtem ankommen
würdest.«
»Das würde sie wohl.
Clementine ist eine tolle Mutter.«
»Wenn es ihr in den
Kram passt, ja. Wenn ihre Forschungsprojekte ihr Zeit dafür
lassen.«
»Das ist nicht
fair.« Maggie bemerkte in diesem Moment, dass ihre Tante ziemlich
betrunken war.
»Wir haben alle
unseren Beitrag geleistet, Maggie. Wir alle haben geholfen, dich
großzuziehen. Deshalb fühle ich mich auch in hohem Maße berechtigt,
so mit dir zu sprechen.«
»Das bist du nicht.
Ich bin doch kein Kind mehr.«
»Aber du hörst doch
nicht auf, meine Nichte zu sein, nur weil du alt genug bist, wählen
zu gehen.«
»Ich treffe seit
Jahren meine eigenen Entscheidungen. Außerdem habe ich es die
letzten drei Monate auch allein geschafft, oder?«
Miranda höhnte
wieder. »In einem mietfreien Apartment in einer der besten Gegenden
Manhattans, das dir eine Freundin von mir zur Verfügung gestellt
hat, weil du meine Nichte bist. Es allein schaffen, Maggie, sieht
anders aus. Für mich klingt das nach Um-dich-Kümmern.«
Maggie war nicht
länger amüsiert. Sie war wütend. »Bist du mit Sadie auch so
umgesprungen?«
»Was meinst du mit
so?«
»So herrisch?
Bestimmend? Gemein?«
»Schau an, da brüllt
die Maus.« Miranda lächelte, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen.
Es gelang ihr nicht ganz. »Weshalb fragst du? Sag mir nicht, du
hast dich all die Jahre heimlich mit Sadie getroffen und darüber
gelästert, wie gemein wir alle zu ihr waren?«
»Ist sie deshalb
gegangen?«
Miranda stand auf.
»Ich weiß nicht, warum sie gegangen ist. Aber ich kann dir sagen,
warum sie niemals zurückgekommen ist. Weil sie sich nämlich letzten
Endes als die Klügste von uns allen erwiesen hat. Sie hat ihre
Freiheit über ihre Familie gestellt. Und ich wünschte manches Mal,
ich hätte es ebenso getan.«
Maggie hatte kaum
Gelegenheit, Mirandas Auftritt zu verdauen, als es fünf Minuten
später erneut an ihrer Tür klopfte. Es war Eliza.
»Maggie, bist du
wach? Kann ich reinkommen?«
Eliza hatte niemals
Alkohol benötigt, um ihren Ansichten den nötigen Ausdruck zu
verleihen. Maggie wusste augenblicklich, dass sie nun einige dieser
Ansichten hören würde. Sie hätte das niemals geäußert, aber von all
ihren Tanten hatte sie Eliza immer am wenigsten gemocht. Es war
kindisch, in solchen Kategorien zu denken, aber sie hatte immer ein
leichtes Magendrücken verspürt, wenn sie zu Eliza fahren musste.
Nicht dass sie grausam oder gemein zu ihr gewesen wäre. Bei ihr war
es nur nie besonders lustig. Für Eliza war die Welt ein Ort, den
man aushalten, und das Leben eine Phase, durch die man sich
durchkämpfen musste. Als Personal Trainerin war sie schon schlimm
gewesen. Seit sie Lebenscoach war, hatte sich die Menge ihrer
Ratschläge und Thesen noch vervielfacht.
Sie setzte sich mit
feierlicher Miene auf den Stuhl neben Maggies Bett. »Maggie, ich
hoffe, du nimmst es mir nicht übel, aber ich mache mir Sorgen um
dich, und ich hatte bislang einfach noch keine Gelegenheit, mit dir
darüber zu sprechen.«
»Worüber machst du
dir denn solche Sorgen?«
Eliza beugte sich
vor. »Mir scheint, dass dein Leben im Moment keine Richtung hat. Du
hast keine Ziele, keinen Ehrgeiz. Du hast ein großes Talent für
Zahlen, Maggie, und ich fände es bitter, wenn du es verschwenden
würdest. Ich wollte dir nur sagen, dass ich für dich da bin, wenn
du mit mir über deine Optionen sprechen und deinen Berufsweg neu
bewerten möchtest. Neue Wege erkunden und Pläne machen
willst.«
Maggie war versucht,
ihrer Tante zu sagen, sie solle sich um ihre eigenen
Angelegenheiten kümmern. Stattdessen überraschte sie sich selbst
und ihre Tante mit einer ganz anderen Frage. »Hast du jemals
irgendetwas Spontanes getan, Eliza?«
»Entschuldige?«
»Hast du jemals
einen Fehler gemacht, etwas getan, was du hinterher bereut hast?
Hat es dich jemals umgehauen, hast du dich jemals Hals über Kopf
verliebt?«
»Warum fragst
du?«
Maggie wollte es
wirklich wissen. Wenn Eliza schon kam und ihr einen Vortrag hielt,
wollte Maggie dabei wenigstens auch ihre eigenen Ansichten äußern.
»Es ist nur, ich kenne niemanden, der so beherrscht ist wie du. So
organisiert und diszipliniert. Und manchmal frage ich mich, wie es
wäre, wenn du einmal aus der Rolle fallen würdest – dich auf den
ersten Blick verlieben, eine vorschnelle Entscheidung treffen und
alle Bedenken über Bord werfen würdest.«
Eliza gab keine
Antwort.
»Entschuldige«,
sagte Maggie verlegen, »das geht mich wirklich nichts
an.«
»Ich vergesse nur
manchmal, dass du erwachsen bist. Aber, ja, ich habe vorschnelle
Entscheidungen getroffen. Alle Bedenken über Bord geworfen. Und
mich verliebt. Ich bin es immer noch.«
»Du? Wirklich? Warum
haben wir ihn denn nie kennengelernt?«
Eliza gab keine
Antwort.
Maggie hatte eine
Idee. »Es ist eine Sie?«
»Nein, es ist ein
Er. Der Mann, in den ich mich vor sechsundzwanzig Jahren verliebt
habe. Dreizehn Jahre davon sind wir zusammen.«
»Zusammen? Du bist
verheiratet? Und von uns weiß niemand davon?«
»Man kann auch
lieben, ohne zu heiraten, Maggie.«
»Aber warum bringst
du ihn nie mit? Warum haben wir ihn nie
kennengelernt?«
»Weil ich es nicht
will. Weil das alles ändern würde. Ich will nicht euer aller
Meinung über ihn hören. Ich will nicht mit ansehen müssen, wie er
Leos Geschwafel erduldet, Mirandas beleidigende Kommentare, Juliets
bemutterndes Getue …« Sie brach ab. »Das Risiko gehe ich nicht
ein.«
»Darf ich ihn
kennenlernen?«
Eliza schüttelte den
Kopf. »Das brauchst du nicht. Er braucht dich auch nicht
kennenzulernen.«
»Aber wir sind doch
deine Familie.«
»Sicher.« In dem
Moment schien Eliza bewusst zu werden, was sie gerade gesagt hatte.
»Maggie, ich will nicht, dass du das den anderen erzählst. Auch
nicht Clementine oder Gabriel. Ich weiß nicht einmal, warum ich es
dir erzählt habe.«
»Das werde ich
nicht. Versprochen.« Maggie war fassungslos. Eliza, ausgerechnet
Eliza hatte eine geheime Liebesaffäre. Maggie hätte Eliza gerne mit
Fragen bestürmt.
Doch es war zu spät.
Eliza war wieder ganz sie selbst, sachlich und geschäftsmäßig. Sie
stand auf und glättete ihren seidenen Morgenmantel. »Denk über mein
Angebot nach. Wenn du über deine Karriereziele und deinen Weg
sprechen möchtest, bin ich immer für dich da, okay?«
»Danke,
Eliza.«
»Gerne. Schlaf
gut.«
Maggie war nicht
überrascht, als dann zehn Minuten später Juliet erschien. Sie
klopfte sanft an die Tür. »Maggie, bist du wach? In
Plauderstimmung?«
»Absolut.«
Juliet setzte sich
neben Maggies Bett, strich die Laken glatt und steckte sie dann
fest, so wie sie es früher immer getan hatte. »Ich wollte nur
sichergehen, dass es dir gut geht. Du musstest in den letzten Tagen
ja eine Menge verarbeiten. Aber ich bin froh, dass du hier bist,
und ich bin froh, dass ich Gabriel kennengelernt
habe.«
»Ich bin auch froh,
dass ich hier bin.«
Juliet strich wieder
über das Laken. »Maggie, es gibt da ein paar Dinge, die ich dir
sagen wollte, unter vier Augen.« Sie machte eine Pause. »Über die
Ehe. Über Beziehungen. Ich habe dich und Gabriel beobachtet und ihr
versteht euch offensichtlich ganz toll, was wunderbar ist, aber
hast du auch wirklich das Gefühl, dass du deine Eigenständigkeit
behaupten kannst? Dass deine Meinung wichtig ist? Dass du dir
sicher bist?«
»Nun, ich denke
schon, aber wir stehen ja auch noch am Anfang.«
»Aber ihr seid
verlobt, also musst du ihn lieben. Und offenkundig tust du das, und
er liebt dich offenkundig ja auch …«
»Wirklich?«
Juliet lachte leise.
»Tu doch nicht so überrascht. Hätte er dir sonst einen Antrag
gemacht? Er hat dir doch einen Antrag gemacht, oder? Oder hast du
ihm einen gemacht?«
»Es war so eine Art
gegenseitiges Übereinkommen«, sagte sie. Maggie lag auf der Zunge
zu sagen: »Ehrlich gesagt hat Leo uns beiden
den Antrag gemacht.«
»Habt ihr schon über
Kinder gesprochen, Maggie?«
Sie war verblüfft.
»Dafür ist es doch wirklich noch ein bisschen zu früh, findest du
nicht?«
»Nein, ist es nicht.
Ist es nie. Du bist schon sechsundzwanzig, und ab fünfundzwanzig
nimmt die Fruchtbarkeit einer Frau mit jedem Jahr ab. Du musst
umgehend herausfinden, ob es Komplikationen geben könnte.« Eine
weitere Pause. »Du weißt, dass Myles und ich nicht freiwillig
kinderlos sind, oder?«
Maggie nickte. Sie
hatte Juliet niemals direkt gefragt, aber das mit den
In-vitro-Behandlungen war ihr zu Ohren gekommen.
»Wir haben zu lange
gewartet, Maggie. Wenn wir es früher versucht hätten, hätten sich
die Probleme vielleicht noch beseitigen lassen. Dann hättest du
Cousinen und Vettern, vielleicht sogar sehr viele.«
»Du wolltest viele
Kinder?«
Zu Maggies Entsetzen
füllten sich Juliets Augen mit Tränen. »So viele wie möglich. Und
ich habe nicht einmal eins.«
Maggie nahm ihre
Tante in die Arme, sie war schockiert und traurig zugleich. Sie
hätte sich niemals träumen lassen, dass Juliet deswegen immer noch
so verzweifelt war. Nach all den Jahren musste sie sich doch damit
abgefunden haben. Sie hatte ein tolles Leben mit Myles, ihr
Geschäft lief gut, sie waren ständig auf Reisen … Maggie sagte all
das, versuchte, Juliet zu trösten, doch ihre Tante riss sich
los.
»Das hat mir nie
etwas bedeutet. Es hat Myles etwas bedeutet, nicht mir, aber ich
habe das trotzdem alles mitgemacht. Ich war so dumm, ich war so
idiotisch, ihm die Entscheidungen zu überlassen, und was habe ich
jetzt? Nichts. Eine perfekt eingerichtete Küche und ein leeres
Leben. Ich möchte nicht, dass es dir so ergeht. Ich könnte es nicht
ertragen, wenn du auch so etwas durchmachen müsstest.«
»Aber Juliet,
Miranda hat keine Kinder, und Eliza auch nicht. Es muss doch nicht
alles …«
»Ihnen bedeutet es
vielleicht nicht viel, mir aber wohl.« Sie richtete sich auf. »Ich
wollte dir nur einen Rat geben. Wenn du Kinder haben möchtest,
Maggie, dann warte nicht. Männer verstehen nicht, was das für eine
Frau bedeutet. Sie sehen das unter intellektuellen oder
finanziellen Aspekten, aber damit hat das für eine Frau doch gar
nichts zu tun. Es geht allein um Gefühle, aber Männer denken
einfach nicht so.«
»Aber Myles
…«
»Nun, in ein paar
Tagen erfahrt ihr es ja sowieso alle. Maggie, ich verlasse Myles.
Wir werden uns trennen.«
»Ihr werdet –
was?«
Juliet erzählte ihr
von der Nachricht, die in Manchester auf Myles
wartete.
»Aber warum hast du
zu niemandem etwas gesagt?«
»Hier herrscht doch
schon so genug Aufregung.«
Maggie wusste nicht,
was sie sagen sollte. »Es tut mir leid, Juliet. Ich mochte Myles
sehr.«
»Ich habe keine
Wahl, Maggie. Ich kann nicht vergeben, und ich kann nicht
vergessen, was also bleibt mir? Aber mach bitte nicht denselben
Fehler wie ich.« Juliet stand abrupt auf und ging aus dem
Zimmer.
Maggie hatte danach
lange in ihrem Bett gesessen und gegrübelt. Sie bildete es sich
nicht ein. Etwas war dieses Jahr anders. Ihre Tanten hatten noch
nie so mit ihr gesprochen, ihr noch nie solche Dinge erzählt. Aber
sie selbst hatte auch noch nie so mit ihnen gesprochen. Sie hatte
sich niemals Miranda gegenüber behauptet, Eliza herausgefordert
oder so offen mit Juliet geredet. Hatte sie gerade die perfekte
Gelegenheit versäumt, nach Sadie zu fragen und ihnen zu sagen, dass
sie die Wahrheit kannte, und ihre Reaktionen zu
beobachten?
Maggie wartete erst
gar nicht mehr, bis Clementine zu ihr kam. Sie schlich leise durch
den Flur, machte einen großen Schritt über die quietschende Diele
hinweg und schlüpfte in das Zimmer ihrer Mutter. Durch das offene
Fenster fiel helles Mondlicht. Clementine schlief immer bei offenen
Vorhängen.
Maggie flüsterte.
»Clementine?«
»Maggie?« Clementine
setzte sich augenblicklich auf. »Alles in Ordnung?«
»Kann ich kurz unter
deine Decke schlüpfen?« Der Satz stammte noch aus
Kindertagen.
Clementine lächelte,
sie erinnerte sich auch. »Natürlich.« Sie hob ihre Decke, und
Maggie legte sich neben sie. Sie hatte seit ihrer Kindheit nicht
mehr im Bett ihrer Mutter gelegen. Wenn sie damit doch nicht so
lange gewartet hätte. Es war noch immer tröstlich.
Clementine machte
kein Licht an. Sie drehte sich zur Seite und strich ihrer Tochter
das Haar aus dem Gesicht. »Was ist denn, Maggie? Was ist denn
los?«
Am liebsten hätte
Maggie ihr alles erzählt, von Leos Verschwörung, der falschen
Verlobung. Es war nicht richtig, ihrer Mutter das alles zu
verheimlichen. Sie hätte ihr gerne erzählt, was sie über Sadie
wusste, und sie gefragt, wie das damals gewesen war, was Clementine
damals empfunden hatte und ob sie ihrer Schwester inzwischen
vergeben und warum sie ihr in all den Jahren niemals die Wahrheit
gesagt hatte.
Aber auch jetzt
hielt sie der Gedanke an die Konsequenzen davon ab. Clementine
würde sicher nicht so ein Drama wie die anderen machen, aber wütend
wäre sie trotzdem. Sie würde einen Streit mit Leo vom Zaun brechen.
Doch noch musste alles so bleiben, wie es war. Nur für den Fall,
dass Sadie wirklich kommen wollte …
»Was ist los,
Maggie?«, fragte Clementine wieder.
»Ich hatte gerade
ein paar Besucher.«
»Du meinst, ein paar
Tanten?«
Maggie nickte. »Alle
drei.«
»Wie die Heiligen
Drei Könige mit ihren Gaben?«
»Gaben würde ich das
nicht nennen.«
»Oje.« Clementine
zupfte ihr Kissen zurecht und lächelte. »Vielleicht irre ich mich
ja, aber hatte Miranda womöglich etwas über Gabriel zu
sagen?«
»Woher weißt du
das?«
»Sie spricht von
nichts anderem. Hör nicht auf sie, Maggie. Hör auf dein Herz und
deinen Verstand. Ich hatte ja bisher kaum Gelegenheit, mit ihm zu
sprechen, aber er scheint ein feiner Kerl zu sein. Er ist
aufmerksam, klug, und offensichtlich liegt ihm sehr viel an
dir.«
»Du magst
ihn?«
»Soweit ich das
bisher beurteilen kann, ja. Was hat Eliza denn für eine Meinung zu
ihm?«
»Sie war nicht wegen
Gabriel bei mir.« Maggie zögerte. »Findest du auch, ich müsste
längst wieder einen Job haben?«
»Nein, warum? Du
weißt doch noch nicht, was du machen willst, oder?«
»Nein.«
»Warum etwas
überstürzen? Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
»Und findest du
auch, ich sollte so schnell wie möglich Kinder
bekommen?«
»Noch bevor ihr
heiratet?«
»Solange ich jung
bin.«
»Hast du mit Gabriel
darüber geredet?«
»Nein, noch
nicht.«
»Na, dann warte doch
ab. Wenn ihr es wollt und es klappt, umso besser.«
Maggie hatte noch
eine weitere Frage auf dem Herzen. »Du bereust es doch nicht, dass
du mich bekommen hast, oder?«
»Ich habe es nie
auch nur eine Sekunde bereut.«
»Du meinst also
nicht, dass du beruflich mehr erreicht und ein besseres Leben
gehabt hättest, wenn ich dich nicht eingeschränkt
hätte?«
»Ich habe in meinem
Beruf alles erreicht, was ich wollte. Weil ich immer tun konnte,
was ich wollte. Und zwar wegen dir,
Maggie. Ohne dein Verständnis wäre das nicht
gegangen.«
Ihr Verständnis?
Aber hatte sie immer Verständnis gehabt? Maggie war sich nicht mehr
so sicher. Die Enthüllungen und Ereignisse der letzten Tage hatten
sie zu sehr mitgenommen. Es hatte Zeiten in ihrer Kindheit gegeben,
in denen sie sich gewünscht hatte, Clementine wäre nicht so oft
fort. Zeiten, in denen sie lieber nicht bei ihren Tanten geblieben
wäre. Clementine hatte wichtige Ereignisse in ihrem Leben verpasst,
weil sie auf irgendeiner Insel oder irgendeinem Berg war. Maggie
war sehr stolz auf ihre Mutter, aber wenn sie ganz ehrlich war,
hatte sie Clementines Arbeit nicht auch manchmal gehasst? Ihr kamen
Mirandas Worte in den Sinn. Dass Clementine nur dann Mutter war,
wenn es ihr passte. Stimmte das?
»Als das da in
London passiert ist, die Sache mit dem Mann und mit Angus
…«
Clementine
nickte.
»Wärst du gekommen,
wenn Miranda es nicht geschafft hätte?«
»Natürlich. Wir
hätten dich so etwas doch nicht allein durchstehen
lassen.«
»Wir?«
»Wir alle. Ich, Leo,
deine Tanten. Ich hätte dich mit zu mir nach Hobart geholt, aber du
warst ja schon in New York, ehe wir überhaupt begriffen hatten, was
geschehen war.«
»Du hättest mich
nach Hause geholt?«
»Wenn du das gewollt
hättest, ja.«
Nach Tasmanien zu
fahren, war Maggie überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Wie es
wohl wäre, wieder in ihrem alten Zuhause zu sein, umgeben von so
viel Natur? Das Wasser, die Berge, die reine Luft, die dramatischen
Sonnenuntergänge. In der Nähe ihrer Mutter zu sein. Doch sie wäre
ja nicht bei ihr, sondern in der Antarktis.
Clementine erriet
ihre Gedanken. Sie strich Maggie das Haar aus der Stirn. »Ich fahre
erst in vier Monaten, Maggie. Du hast also noch viel Zeit, dich zu
entscheiden. Und wenn du willst, dass ich zu Hause bleibe, mache
ich das.«
»Das meinst du
ernst, oder?«
»Natürlich meine ich
das ernst.«
Zu ihrer beider
Überraschung fing Maggie an zu weinen.
Clementine setzte
sich auf und zog sie in ihre Arme. »Maggie, was ist denn? Warum
weinst du denn?«
»Ich hatte gedacht,
du würdest Nein sagen.«
»Warum sollte ich
denn Nein sagen? Du bist doch meine Tochter. Du bedeutest mir mehr
als alles andere auf der Welt.«
»Wirklich?«
Clementine lachte.
»Maggie! Natürlich. Woher kommt das denn alles? Was haben dir meine
lieben Schwestern da eingeflüstert?«
»Das waren nicht nur
sie. Ich konnte nicht schlafen. Ich habe nachgegrübelt …« Über so
vieles. Sadie. Die Tagebücher. All die Lügen. Wenn sie doch mit
Clementine offen über alles sprechen könnte.
Clementine strich
ihr wieder übers Haar. »Maggie, du bist müde, das sehe ich. Du hast
in letzter Zeit viel mitgemacht und hast gerade deinen Verlobten in
die Familie eingeführt. Das würde jeden normalen Menschen umhauen,
sogar dich. Würdest du mir also einen Gefallen tun?«
Maggie
nickte.
»Dann hör auf, so
viel nachzudenken. Entspann dich ein wenig und versuch zu schlafen.
Möchtest du hierbleiben? Ich hole dir noch ein
Kissen.«
»Nein, ich gehe
wieder in mein Bett.« Sie glitt unter der Decke hervor, dann hielt
sie inne. »Macht es dir etwas aus, dass ich dich Clementine nenne?
Oder wäre es dir lieber, ich nenne dich Mum?«
»Du kannst mich
nennen, wie du magst.«
»Dann bleibe ich
vielleicht mal eine Weile bei Mum.«
»Dann also
Mum.«
Maggie umarmte sie
fest. »Ich liebe dich.«
»Und ich liebe
dich.«
»Wie viele
Mal?«
Clementine lächelte.
»Das weißt du genau. Sechsundzwanzig Mal. Und jetzt geh ins
Bett.«
Maggie war kaum
eingeschlafen, da wurde sie schon wieder wach. Ein Auto quälte sich
geräuschvoll den steilen Abhang zu ihrem Haus hinauf. Sie stand auf
und sah aus dem Fenster. Es war der orangefarbene Lieferwagen eines
Kurierdienstes.
Als sie nach unten
kam, stand Leo schon im Bademantel an der Tür. »Ich bin eben
angerufen worden, dass der Kurier auf dem Weg ist«, erklärte Leo
ihr leise. »Mein Handy hat ausnahmsweise funktioniert. Ein Wunder.
Unglaublich effiziente Firma. Ich habe gesagt, sie sollten es auf
dem schnellsten Weg senden, egal, was es kostet. Sie müssen eine
Rakete losgeschickt haben.«
Der Kurier stieg aus
dem Wagen, kam auf sie zu und reichte ihnen den Umschlag. Leo
quittierte. Maggie hätte ihm den Umschlag am liebsten aus der Hand
gerissen. Leo wollte ihn gerade öffnen, da erschien
Miranda.
»Was treibt ihr
beiden denn da?«
»Das kommt von
meinem Anwalt aus London«, sagte Leo nach kurzem Zögern. »Es geht
um ein neues Patent für die Rasenmähererfindung.« Leo klemmte sich
den Umschlag unter den Arm. »Maggie, warum ziehst du dich nicht an,
und dann machen wir beide einen kleinen Morgenspaziergang? Wir
sollten uns ein wenig unterhalten, meinst du nicht?«
Sie wollten gerade
aufbrechen, als Gabriel in schwarzen Jeans und einem blauen Hemd
mit hochgekrempelten Ärmeln erschien.
»Wir gehen ein wenig
spazieren. Willst du mit?«, sagte Leo zur Begrüßung.
»Sicher, gerne«,
erwiderte Gabriel.
»Und der Bericht?«,
flüsterte Maggie. »Ich dachte, du wolltest …«
»Gabriel können wir
vertrauen«, sagte Leo.
Leo öffnete den
Umschlag, sobald sie außer Sichtweite waren. Maggie hielt den Atem
an, als Leo vorsichtig eine Aktenmappe herauszog und auf eine Mauer
legte, damit sie alle gut sehen konnten. Es war ein sehr
geschäftsmäßiger Bericht. Name, Alter, Personenbeschreibung.
Firmenbroschüren. Adresse und Fotografie des Hauses in Phibsboro,
einem Vorort von Dublin. Ein weiteres Foto. Die Frau mit Mann und
Tochter.
Leo nahm es aus der
Mappe. Seine Hände zitterten. Er sah es lange an. »Sie ist
verheiratet und hat eine Tochter.« Seine Stimme war kaum mehr als
ein Flüstern. Er las den Bericht ein zweites Mal. »Eine
achtzehnjährige Tochter. Meine zweite Enkelin. Deine Cousine,
Maggie.«
Maggie nahm das Bild
in die Hand und sah es atemlos an. Es war ein Schnappschuss. Eine
Frau, lächelnd und entspannt in der Sonne. Ein Mann, mit rundem
Gesicht, ebenfalls lächelnd. Eine braunhaarige junge Frau. Eine
glückliche Familie.
»Ist sie das,
Tollpatsch?«, fragte Maggie. »Ist das Sadie?«
Er nahm das Foto und
betrachtete es aufmerksam und andächtig. »Das ist sie. Das muss sie
sein.« Er war sehr aufgeregt. »Sie lebt gewissermaßen gleich um die
Ecke, Maggie. Das muss Schicksal sein, dass sie auch in Irland
gelandet ist. Bist du mit den Tagebüchern fertig? Weißt du genug?
Wir müssen uns beeilen, wenn wir Sadie herholen wollen. Noch sind
alle da. Das ist jetzt die Gelegenheit. Eliza spricht schon davon,
ihren Flug umzubuchen und früher nach Hause zu
fahren.«
»Ich lese, so
schnell ich kann. Ehrlich.« Was stimmte. Sie wollte es hinter sich
bringen. »Ich habe noch vier Bücher vor mir.«
»Und immer noch
nichts? Hast du noch immer nicht gefunden, was Sadie so aus der
Fassung gebracht haben könnte?«
Maggie zögerte, dann
schüttelte sie den Kopf. Sie wollte erst alle neun Bücher lesen,
bevor sie mit Leo sprach.
Er sah wieder auf
das Foto. »Ich mache mir Sorgen, Maggie. Ich habe das nicht richtig
durchdacht. Was, wenn es Sadie ist, sie mich aber nicht sehen will
und mir die Tür vor der Nase zuschlägt? Das ist nicht
unwahrscheinlich. In all den Jahren, in denen ich ihr geschrieben
habe, hat sie niemals zurückgeschrieben.«
»Mir hat sie immer
geschrieben«, sagte Maggie. Sie hoffte, dass er sie nicht in die
Falle gelockt hatte, dass es nicht das war, was er die ganze Zeit
beabsichtigt hatte. Aber selbst wenn, sie machte das Angebot. »Ich
könnte doch zu ihr fahren.«
Sein Erstaunen war
nicht gespielt. »Was? Du willst selbst nach Dublin
fahren?«
»Ich könnte ja
mitkommen«, sagte Gabriel. »Wenn die anderen nichts erfahren
sollen, ist das sogar noch besser. Wir könnten heute Nachmittag
aufbrechen, sagen, dass Maggie und ich ein wenig die Umgebung
erkunden wollen, und morgen zurückkommen.«
»Das ist zu früh«,
sagte Maggie. »Ich muss die Tagebücher erst lesen.«
»Ich könnte fahren,
und du liest.«
»Und wenn wir alle
drei fahren?«, schlug Leo vor.
»Du kannst nicht
mit«, sagte Maggie. »Da alle so weit gereist sind, um dich zu
sehen.«
»Sie sind
deinetwegen gekommen, nicht meinetwegen.«
»Mich haben sie ja
jetzt gesehen. Gabriel hat recht. Wir könnten morgen schon wieder
hier sein. Ihr könnt heute Morgen noch ein wenig filmen, und heute
Nachmittag fahren wir los.«
»Was aber, wenn es
nicht Sadie ist? Wenn sich der Privatdetektiv getäuscht hat?«,
fragte Leo ängstlich.
Maggie hatte ihren
Großvater noch nie so erschüttert gesehen. Sie legte ihm eine Hand
auf den Arm. »Das werden wir herausfinden, Tollpatsch. Aber wenn
sie es ist und mitkommen kann, dann holen wir sie.«