39

Maggie war schon auf den Beinen, als der Kurier kam. Sie hatte fast die ganze Nacht lang wach gelegen.
Als sie beinahe eingeschlafen war, war die erste Besucherin in ihrem Zimmer erschienen. Dann die nächste, dann noch eine. Die Gespräche hatten sie so beschäftigt, dass es ihr kaum gelungen war, sich wieder zu beruhigen.
Als Erste war Miranda zu ihr gekommen. Sie hatte dreimal an Maggies Tür geklopft, sich an ihr Bett gesetzt und war gleich zur Sache gekommen: »Maggie, ich mache mir Sorgen wegen Gabriel. Irgendetwas ist da komisch. An ihm und an der ganzen Situation.«
Maggie hatte sich aufgesetzt und ihre Nachttischlampe eingeschaltet. Wieder hatte sie sich gewünscht, sie könnte die Wahrheit sagen, aber das ging nicht. Noch nicht. Sie hatte stattdessen gelacht und mit Humor auf Mirandas Bemerkung reagiert. »Miranda, ich bitte dich. Nur weil ich mit Angus einen Fehler gemacht habe, heißt das nicht, dass ich gleich wieder einen machen werde.«
»Ich sehe nur mit Sorge, dass du im Moment sehr verwundbar bist und er das womöglich ausnutzen könnte.«
Miranda lallte ein wenig. Sie hatte beim Essen kräftig dem Wein zugesprochen. Maggie malte sich aus, wie ihre Tante reagieren würde, wenn sie ihr in diesem Moment die Wahrheit erzählen würde. Sie wäre außer sich vor Wut, weil man sie hinters Licht geführt hatte. Sie würde Leo in Stücke reißen, dann Maggie und schließlich auch Gabriel, weil er mit in die Sache verwickelt war, und dann würde sie vermutlich wutentbrannt abrauschen. Eliza würde ihr sehr wahrscheinlich nachfolgen. Leo wäre außer sich. Jede Aussicht auf ein Wiedersehen mit Sadie – falls die Frau in Dublin wirklich Sadie war -, während sie alle in Donegal waren, wäre ruiniert. Maggie musste durchhalten.
Miranda war noch nicht fertig. »Ich will ja nur, dass du vorsichtig bist. Das mit Gabriel ist alles so schnell gegangen. Du hast ihn niemals zuvor erwähnt – im Grunde hast du überhaupt nie etwas aus deinem Leben in New York erwähnt -, und auf einmal taucht er hier auf. Kann einfach alles stehen und liegen lassen. Weicht all meinen Fragen aus …«
»Deshalb bist du so misstrauisch. Da hast du einmal deinen Meister gefunden.«
»Ich bin misstrauisch, weil ich dich sehr lieb habe und nicht will, dass dir schon wieder wehgetan wird. Überstürze nichts. Lerne ihn erst noch ein wenig besser kennen. Hör auf deinen Bauch.«
»Ich brauche nicht auf meinen Bauch zu hören. Ich habe doch eine Mutter und vier Tanten, die mir Ratschläge erteilen.«
»Vier?«
»Vier. Du, Juliet, Eliza und Sadie.«
»Macht drei einsatzfähige Tanten. Und was deine Mutter und ihre Fürsorge angeht«, höhnte Miranda, »deine Mutter würde doch nicht einmal merken, wenn du mit einem Erdmännchen als Verlobtem ankommen würdest.«
»Das würde sie wohl. Clementine ist eine tolle Mutter.«
»Wenn es ihr in den Kram passt, ja. Wenn ihre Forschungsprojekte ihr Zeit dafür lassen.«
»Das ist nicht fair.« Maggie bemerkte in diesem Moment, dass ihre Tante ziemlich betrunken war.
»Wir haben alle unseren Beitrag geleistet, Maggie. Wir alle haben geholfen, dich großzuziehen. Deshalb fühle ich mich auch in hohem Maße berechtigt, so mit dir zu sprechen.«
»Das bist du nicht. Ich bin doch kein Kind mehr.«
»Aber du hörst doch nicht auf, meine Nichte zu sein, nur weil du alt genug bist, wählen zu gehen.«
»Ich treffe seit Jahren meine eigenen Entscheidungen. Außerdem habe ich es die letzten drei Monate auch allein geschafft, oder?«
Miranda höhnte wieder. »In einem mietfreien Apartment in einer der besten Gegenden Manhattans, das dir eine Freundin von mir zur Verfügung gestellt hat, weil du meine Nichte bist. Es allein schaffen, Maggie, sieht anders aus. Für mich klingt das nach Um-dich-Kümmern.«
Maggie war nicht länger amüsiert. Sie war wütend. »Bist du mit Sadie auch so umgesprungen?«
»Was meinst du mit so?«
»So herrisch? Bestimmend? Gemein?«
»Schau an, da brüllt die Maus.« Miranda lächelte, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen. Es gelang ihr nicht ganz. »Weshalb fragst du? Sag mir nicht, du hast dich all die Jahre heimlich mit Sadie getroffen und darüber gelästert, wie gemein wir alle zu ihr waren?«
»Ist sie deshalb gegangen?«
Miranda stand auf. »Ich weiß nicht, warum sie gegangen ist. Aber ich kann dir sagen, warum sie niemals zurückgekommen ist. Weil sie sich nämlich letzten Endes als die Klügste von uns allen erwiesen hat. Sie hat ihre Freiheit über ihre Familie gestellt. Und ich wünschte manches Mal, ich hätte es ebenso getan.«
Maggie hatte kaum Gelegenheit, Mirandas Auftritt zu verdauen, als es fünf Minuten später erneut an ihrer Tür klopfte. Es war Eliza.
»Maggie, bist du wach? Kann ich reinkommen?«
Eliza hatte niemals Alkohol benötigt, um ihren Ansichten den nötigen Ausdruck zu verleihen. Maggie wusste augenblicklich, dass sie nun einige dieser Ansichten hören würde. Sie hätte das niemals geäußert, aber von all ihren Tanten hatte sie Eliza immer am wenigsten gemocht. Es war kindisch, in solchen Kategorien zu denken, aber sie hatte immer ein leichtes Magendrücken verspürt, wenn sie zu Eliza fahren musste. Nicht dass sie grausam oder gemein zu ihr gewesen wäre. Bei ihr war es nur nie besonders lustig. Für Eliza war die Welt ein Ort, den man aushalten, und das Leben eine Phase, durch die man sich durchkämpfen musste. Als Personal Trainerin war sie schon schlimm gewesen. Seit sie Lebenscoach war, hatte sich die Menge ihrer Ratschläge und Thesen noch vervielfacht.
Sie setzte sich mit feierlicher Miene auf den Stuhl neben Maggies Bett. »Maggie, ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, aber ich mache mir Sorgen um dich, und ich hatte bislang einfach noch keine Gelegenheit, mit dir darüber zu sprechen.«
»Worüber machst du dir denn solche Sorgen?«
Eliza beugte sich vor. »Mir scheint, dass dein Leben im Moment keine Richtung hat. Du hast keine Ziele, keinen Ehrgeiz. Du hast ein großes Talent für Zahlen, Maggie, und ich fände es bitter, wenn du es verschwenden würdest. Ich wollte dir nur sagen, dass ich für dich da bin, wenn du mit mir über deine Optionen sprechen und deinen Berufsweg neu bewerten möchtest. Neue Wege erkunden und Pläne machen willst.«
Maggie war versucht, ihrer Tante zu sagen, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Stattdessen überraschte sie sich selbst und ihre Tante mit einer ganz anderen Frage. »Hast du jemals irgendetwas Spontanes getan, Eliza?«
»Entschuldige?«
»Hast du jemals einen Fehler gemacht, etwas getan, was du hinterher bereut hast? Hat es dich jemals umgehauen, hast du dich jemals Hals über Kopf verliebt?«
»Warum fragst du?«
Maggie wollte es wirklich wissen. Wenn Eliza schon kam und ihr einen Vortrag hielt, wollte Maggie dabei wenigstens auch ihre eigenen Ansichten äußern. »Es ist nur, ich kenne niemanden, der so beherrscht ist wie du. So organisiert und diszipliniert. Und manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn du einmal aus der Rolle fallen würdest – dich auf den ersten Blick verlieben, eine vorschnelle Entscheidung treffen und alle Bedenken über Bord werfen würdest.«
Eliza gab keine Antwort.
»Entschuldige«, sagte Maggie verlegen, »das geht mich wirklich nichts an.«
»Ich vergesse nur manchmal, dass du erwachsen bist. Aber, ja, ich habe vorschnelle Entscheidungen getroffen. Alle Bedenken über Bord geworfen. Und mich verliebt. Ich bin es immer noch.«
»Du? Wirklich? Warum haben wir ihn denn nie kennengelernt?«
Eliza gab keine Antwort.
Maggie hatte eine Idee. »Es ist eine Sie?«
»Nein, es ist ein Er. Der Mann, in den ich mich vor sechsundzwanzig Jahren verliebt habe. Dreizehn Jahre davon sind wir zusammen.«
»Zusammen? Du bist verheiratet? Und von uns weiß niemand davon?«
»Man kann auch lieben, ohne zu heiraten, Maggie.«
»Aber warum bringst du ihn nie mit? Warum haben wir ihn nie kennengelernt?«
»Weil ich es nicht will. Weil das alles ändern würde. Ich will nicht euer aller Meinung über ihn hören. Ich will nicht mit ansehen müssen, wie er Leos Geschwafel erduldet, Mirandas beleidigende Kommentare, Juliets bemutterndes Getue …« Sie brach ab. »Das Risiko gehe ich nicht ein.«
»Darf ich ihn kennenlernen?«
Eliza schüttelte den Kopf. »Das brauchst du nicht. Er braucht dich auch nicht kennenzulernen.«
»Aber wir sind doch deine Familie.«
»Sicher.« In dem Moment schien Eliza bewusst zu werden, was sie gerade gesagt hatte. »Maggie, ich will nicht, dass du das den anderen erzählst. Auch nicht Clementine oder Gabriel. Ich weiß nicht einmal, warum ich es dir erzählt habe.«
»Das werde ich nicht. Versprochen.« Maggie war fassungslos. Eliza, ausgerechnet Eliza hatte eine geheime Liebesaffäre. Maggie hätte Eliza gerne mit Fragen bestürmt.
Doch es war zu spät. Eliza war wieder ganz sie selbst, sachlich und geschäftsmäßig. Sie stand auf und glättete ihren seidenen Morgenmantel. »Denk über mein Angebot nach. Wenn du über deine Karriereziele und deinen Weg sprechen möchtest, bin ich immer für dich da, okay?«
»Danke, Eliza.«
»Gerne. Schlaf gut.«
Maggie war nicht überrascht, als dann zehn Minuten später Juliet erschien. Sie klopfte sanft an die Tür. »Maggie, bist du wach? In Plauderstimmung?«
»Absolut.«
Juliet setzte sich neben Maggies Bett, strich die Laken glatt und steckte sie dann fest, so wie sie es früher immer getan hatte. »Ich wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht. Du musstest in den letzten Tagen ja eine Menge verarbeiten. Aber ich bin froh, dass du hier bist, und ich bin froh, dass ich Gabriel kennengelernt habe.«
»Ich bin auch froh, dass ich hier bin.«
Juliet strich wieder über das Laken. »Maggie, es gibt da ein paar Dinge, die ich dir sagen wollte, unter vier Augen.« Sie machte eine Pause. »Über die Ehe. Über Beziehungen. Ich habe dich und Gabriel beobachtet und ihr versteht euch offensichtlich ganz toll, was wunderbar ist, aber hast du auch wirklich das Gefühl, dass du deine Eigenständigkeit behaupten kannst? Dass deine Meinung wichtig ist? Dass du dir sicher bist?«
»Nun, ich denke schon, aber wir stehen ja auch noch am Anfang.«
»Aber ihr seid verlobt, also musst du ihn lieben. Und offenkundig tust du das, und er liebt dich offenkundig ja auch …«
»Wirklich?«
Juliet lachte leise. »Tu doch nicht so überrascht. Hätte er dir sonst einen Antrag gemacht? Er hat dir doch einen Antrag gemacht, oder? Oder hast du ihm einen gemacht?«
»Es war so eine Art gegenseitiges Übereinkommen«, sagte sie. Maggie lag auf der Zunge zu sagen: »Ehrlich gesagt hat Leo uns beiden den Antrag gemacht.«
»Habt ihr schon über Kinder gesprochen, Maggie?«
Sie war verblüfft. »Dafür ist es doch wirklich noch ein bisschen zu früh, findest du nicht?«
»Nein, ist es nicht. Ist es nie. Du bist schon sechsundzwanzig, und ab fünfundzwanzig nimmt die Fruchtbarkeit einer Frau mit jedem Jahr ab. Du musst umgehend herausfinden, ob es Komplikationen geben könnte.« Eine weitere Pause. »Du weißt, dass Myles und ich nicht freiwillig kinderlos sind, oder?«
Maggie nickte. Sie hatte Juliet niemals direkt gefragt, aber das mit den In-vitro-Behandlungen war ihr zu Ohren gekommen.
»Wir haben zu lange gewartet, Maggie. Wenn wir es früher versucht hätten, hätten sich die Probleme vielleicht noch beseitigen lassen. Dann hättest du Cousinen und Vettern, vielleicht sogar sehr viele.«
»Du wolltest viele Kinder?«
Zu Maggies Entsetzen füllten sich Juliets Augen mit Tränen. »So viele wie möglich. Und ich habe nicht einmal eins.«
Maggie nahm ihre Tante in die Arme, sie war schockiert und traurig zugleich. Sie hätte sich niemals träumen lassen, dass Juliet deswegen immer noch so verzweifelt war. Nach all den Jahren musste sie sich doch damit abgefunden haben. Sie hatte ein tolles Leben mit Myles, ihr Geschäft lief gut, sie waren ständig auf Reisen … Maggie sagte all das, versuchte, Juliet zu trösten, doch ihre Tante riss sich los.
»Das hat mir nie etwas bedeutet. Es hat Myles etwas bedeutet, nicht mir, aber ich habe das trotzdem alles mitgemacht. Ich war so dumm, ich war so idiotisch, ihm die Entscheidungen zu überlassen, und was habe ich jetzt? Nichts. Eine perfekt eingerichtete Küche und ein leeres Leben. Ich möchte nicht, dass es dir so ergeht. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du auch so etwas durchmachen müsstest.«
»Aber Juliet, Miranda hat keine Kinder, und Eliza auch nicht. Es muss doch nicht alles …«
»Ihnen bedeutet es vielleicht nicht viel, mir aber wohl.« Sie richtete sich auf. »Ich wollte dir nur einen Rat geben. Wenn du Kinder haben möchtest, Maggie, dann warte nicht. Männer verstehen nicht, was das für eine Frau bedeutet. Sie sehen das unter intellektuellen oder finanziellen Aspekten, aber damit hat das für eine Frau doch gar nichts zu tun. Es geht allein um Gefühle, aber Männer denken einfach nicht so.«
»Aber Myles …«
»Nun, in ein paar Tagen erfahrt ihr es ja sowieso alle. Maggie, ich verlasse Myles. Wir werden uns trennen.«
»Ihr werdet – was?«
Juliet erzählte ihr von der Nachricht, die in Manchester auf Myles wartete.
»Aber warum hast du zu niemandem etwas gesagt?«
»Hier herrscht doch schon so genug Aufregung.«
Maggie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Es tut mir leid, Juliet. Ich mochte Myles sehr.«
»Ich habe keine Wahl, Maggie. Ich kann nicht vergeben, und ich kann nicht vergessen, was also bleibt mir? Aber mach bitte nicht denselben Fehler wie ich.« Juliet stand abrupt auf und ging aus dem Zimmer.
Maggie hatte danach lange in ihrem Bett gesessen und gegrübelt. Sie bildete es sich nicht ein. Etwas war dieses Jahr anders. Ihre Tanten hatten noch nie so mit ihr gesprochen, ihr noch nie solche Dinge erzählt. Aber sie selbst hatte auch noch nie so mit ihnen gesprochen. Sie hatte sich niemals Miranda gegenüber behauptet, Eliza herausgefordert oder so offen mit Juliet geredet. Hatte sie gerade die perfekte Gelegenheit versäumt, nach Sadie zu fragen und ihnen zu sagen, dass sie die Wahrheit kannte, und ihre Reaktionen zu beobachten?
Maggie wartete erst gar nicht mehr, bis Clementine zu ihr kam. Sie schlich leise durch den Flur, machte einen großen Schritt über die quietschende Diele hinweg und schlüpfte in das Zimmer ihrer Mutter. Durch das offene Fenster fiel helles Mondlicht. Clementine schlief immer bei offenen Vorhängen.
Maggie flüsterte. »Clementine?«
»Maggie?« Clementine setzte sich augenblicklich auf. »Alles in Ordnung?«
»Kann ich kurz unter deine Decke schlüpfen?« Der Satz stammte noch aus Kindertagen.
Clementine lächelte, sie erinnerte sich auch. »Natürlich.« Sie hob ihre Decke, und Maggie legte sich neben sie. Sie hatte seit ihrer Kindheit nicht mehr im Bett ihrer Mutter gelegen. Wenn sie damit doch nicht so lange gewartet hätte. Es war noch immer tröstlich.
Clementine machte kein Licht an. Sie drehte sich zur Seite und strich ihrer Tochter das Haar aus dem Gesicht. »Was ist denn, Maggie? Was ist denn los?«
Am liebsten hätte Maggie ihr alles erzählt, von Leos Verschwörung, der falschen Verlobung. Es war nicht richtig, ihrer Mutter das alles zu verheimlichen. Sie hätte ihr gerne erzählt, was sie über Sadie wusste, und sie gefragt, wie das damals gewesen war, was Clementine damals empfunden hatte und ob sie ihrer Schwester inzwischen vergeben und warum sie ihr in all den Jahren niemals die Wahrheit gesagt hatte.
Aber auch jetzt hielt sie der Gedanke an die Konsequenzen davon ab. Clementine würde sicher nicht so ein Drama wie die anderen machen, aber wütend wäre sie trotzdem. Sie würde einen Streit mit Leo vom Zaun brechen. Doch noch musste alles so bleiben, wie es war. Nur für den Fall, dass Sadie wirklich kommen wollte …
»Was ist los, Maggie?«, fragte Clementine wieder.
»Ich hatte gerade ein paar Besucher.«
»Du meinst, ein paar Tanten?«
Maggie nickte. »Alle drei.«
»Wie die Heiligen Drei Könige mit ihren Gaben?«
»Gaben würde ich das nicht nennen.«
»Oje.« Clementine zupfte ihr Kissen zurecht und lächelte. »Vielleicht irre ich mich ja, aber hatte Miranda womöglich etwas über Gabriel zu sagen?«
»Woher weißt du das?«
»Sie spricht von nichts anderem. Hör nicht auf sie, Maggie. Hör auf dein Herz und deinen Verstand. Ich hatte ja bisher kaum Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, aber er scheint ein feiner Kerl zu sein. Er ist aufmerksam, klug, und offensichtlich liegt ihm sehr viel an dir.«
»Du magst ihn?«
»Soweit ich das bisher beurteilen kann, ja. Was hat Eliza denn für eine Meinung zu ihm?«
»Sie war nicht wegen Gabriel bei mir.« Maggie zögerte. »Findest du auch, ich müsste längst wieder einen Job haben?«
»Nein, warum? Du weißt doch noch nicht, was du machen willst, oder?«
»Nein.«
»Warum etwas überstürzen? Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
»Und findest du auch, ich sollte so schnell wie möglich Kinder bekommen?«
»Noch bevor ihr heiratet?«
»Solange ich jung bin.«
»Hast du mit Gabriel darüber geredet?«
»Nein, noch nicht.«
»Na, dann warte doch ab. Wenn ihr es wollt und es klappt, umso besser.«
Maggie hatte noch eine weitere Frage auf dem Herzen. »Du bereust es doch nicht, dass du mich bekommen hast, oder?«
»Ich habe es nie auch nur eine Sekunde bereut.«
»Du meinst also nicht, dass du beruflich mehr erreicht und ein besseres Leben gehabt hättest, wenn ich dich nicht eingeschränkt hätte?«
»Ich habe in meinem Beruf alles erreicht, was ich wollte. Weil ich immer tun konnte, was ich wollte. Und zwar wegen dir, Maggie. Ohne dein Verständnis wäre das nicht gegangen.«
Ihr Verständnis? Aber hatte sie immer Verständnis gehabt? Maggie war sich nicht mehr so sicher. Die Enthüllungen und Ereignisse der letzten Tage hatten sie zu sehr mitgenommen. Es hatte Zeiten in ihrer Kindheit gegeben, in denen sie sich gewünscht hatte, Clementine wäre nicht so oft fort. Zeiten, in denen sie lieber nicht bei ihren Tanten geblieben wäre. Clementine hatte wichtige Ereignisse in ihrem Leben verpasst, weil sie auf irgendeiner Insel oder irgendeinem Berg war. Maggie war sehr stolz auf ihre Mutter, aber wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie Clementines Arbeit nicht auch manchmal gehasst? Ihr kamen Mirandas Worte in den Sinn. Dass Clementine nur dann Mutter war, wenn es ihr passte. Stimmte das?
»Als das da in London passiert ist, die Sache mit dem Mann und mit Angus …«
Clementine nickte.
»Wärst du gekommen, wenn Miranda es nicht geschafft hätte?«
»Natürlich. Wir hätten dich so etwas doch nicht allein durchstehen lassen.«
»Wir?«
»Wir alle. Ich, Leo, deine Tanten. Ich hätte dich mit zu mir nach Hobart geholt, aber du warst ja schon in New York, ehe wir überhaupt begriffen hatten, was geschehen war.«
»Du hättest mich nach Hause geholt?«
»Wenn du das gewollt hättest, ja.«
Nach Tasmanien zu fahren, war Maggie überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Wie es wohl wäre, wieder in ihrem alten Zuhause zu sein, umgeben von so viel Natur? Das Wasser, die Berge, die reine Luft, die dramatischen Sonnenuntergänge. In der Nähe ihrer Mutter zu sein. Doch sie wäre ja nicht bei ihr, sondern in der Antarktis.
Clementine erriet ihre Gedanken. Sie strich Maggie das Haar aus der Stirn. »Ich fahre erst in vier Monaten, Maggie. Du hast also noch viel Zeit, dich zu entscheiden. Und wenn du willst, dass ich zu Hause bleibe, mache ich das.«
»Das meinst du ernst, oder?«
»Natürlich meine ich das ernst.«
Zu ihrer beider Überraschung fing Maggie an zu weinen.
Clementine setzte sich auf und zog sie in ihre Arme. »Maggie, was ist denn? Warum weinst du denn?«
»Ich hatte gedacht, du würdest Nein sagen.«
»Warum sollte ich denn Nein sagen? Du bist doch meine Tochter. Du bedeutest mir mehr als alles andere auf der Welt.«
»Wirklich?«
Clementine lachte. »Maggie! Natürlich. Woher kommt das denn alles? Was haben dir meine lieben Schwestern da eingeflüstert?«
»Das waren nicht nur sie. Ich konnte nicht schlafen. Ich habe nachgegrübelt …« Über so vieles. Sadie. Die Tagebücher. All die Lügen. Wenn sie doch mit Clementine offen über alles sprechen könnte.
Clementine strich ihr wieder übers Haar. »Maggie, du bist müde, das sehe ich. Du hast in letzter Zeit viel mitgemacht und hast gerade deinen Verlobten in die Familie eingeführt. Das würde jeden normalen Menschen umhauen, sogar dich. Würdest du mir also einen Gefallen tun?«
Maggie nickte.
»Dann hör auf, so viel nachzudenken. Entspann dich ein wenig und versuch zu schlafen. Möchtest du hierbleiben? Ich hole dir noch ein Kissen.«
»Nein, ich gehe wieder in mein Bett.« Sie glitt unter der Decke hervor, dann hielt sie inne. »Macht es dir etwas aus, dass ich dich Clementine nenne? Oder wäre es dir lieber, ich nenne dich Mum?«
»Du kannst mich nennen, wie du magst.«
»Dann bleibe ich vielleicht mal eine Weile bei Mum.«
»Dann also Mum.«
Maggie umarmte sie fest. »Ich liebe dich.«
»Und ich liebe dich.«
»Wie viele Mal?«
Clementine lächelte. »Das weißt du genau. Sechsundzwanzig Mal. Und jetzt geh ins Bett.«
Maggie war kaum eingeschlafen, da wurde sie schon wieder wach. Ein Auto quälte sich geräuschvoll den steilen Abhang zu ihrem Haus hinauf. Sie stand auf und sah aus dem Fenster. Es war der orangefarbene Lieferwagen eines Kurierdienstes.
Als sie nach unten kam, stand Leo schon im Bademantel an der Tür. »Ich bin eben angerufen worden, dass der Kurier auf dem Weg ist«, erklärte Leo ihr leise. »Mein Handy hat ausnahmsweise funktioniert. Ein Wunder. Unglaublich effiziente Firma. Ich habe gesagt, sie sollten es auf dem schnellsten Weg senden, egal, was es kostet. Sie müssen eine Rakete losgeschickt haben.«
Der Kurier stieg aus dem Wagen, kam auf sie zu und reichte ihnen den Umschlag. Leo quittierte. Maggie hätte ihm den Umschlag am liebsten aus der Hand gerissen. Leo wollte ihn gerade öffnen, da erschien Miranda.
»Was treibt ihr beiden denn da?«
»Das kommt von meinem Anwalt aus London«, sagte Leo nach kurzem Zögern. »Es geht um ein neues Patent für die Rasenmähererfindung.« Leo klemmte sich den Umschlag unter den Arm. »Maggie, warum ziehst du dich nicht an, und dann machen wir beide einen kleinen Morgenspaziergang? Wir sollten uns ein wenig unterhalten, meinst du nicht?«
Sie wollten gerade aufbrechen, als Gabriel in schwarzen Jeans und einem blauen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln erschien.
»Wir gehen ein wenig spazieren. Willst du mit?«, sagte Leo zur Begrüßung.
»Sicher, gerne«, erwiderte Gabriel.
»Und der Bericht?«, flüsterte Maggie. »Ich dachte, du wolltest …«
»Gabriel können wir vertrauen«, sagte Leo.
Leo öffnete den Umschlag, sobald sie außer Sichtweite waren. Maggie hielt den Atem an, als Leo vorsichtig eine Aktenmappe herauszog und auf eine Mauer legte, damit sie alle gut sehen konnten. Es war ein sehr geschäftsmäßiger Bericht. Name, Alter, Personenbeschreibung. Firmenbroschüren. Adresse und Fotografie des Hauses in Phibsboro, einem Vorort von Dublin. Ein weiteres Foto. Die Frau mit Mann und Tochter.
Leo nahm es aus der Mappe. Seine Hände zitterten. Er sah es lange an. »Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er las den Bericht ein zweites Mal. »Eine achtzehnjährige Tochter. Meine zweite Enkelin. Deine Cousine, Maggie.«
Maggie nahm das Bild in die Hand und sah es atemlos an. Es war ein Schnappschuss. Eine Frau, lächelnd und entspannt in der Sonne. Ein Mann, mit rundem Gesicht, ebenfalls lächelnd. Eine braunhaarige junge Frau. Eine glückliche Familie.
»Ist sie das, Tollpatsch?«, fragte Maggie. »Ist das Sadie?«
Er nahm das Foto und betrachtete es aufmerksam und andächtig. »Das ist sie. Das muss sie sein.« Er war sehr aufgeregt. »Sie lebt gewissermaßen gleich um die Ecke, Maggie. Das muss Schicksal sein, dass sie auch in Irland gelandet ist. Bist du mit den Tagebüchern fertig? Weißt du genug? Wir müssen uns beeilen, wenn wir Sadie herholen wollen. Noch sind alle da. Das ist jetzt die Gelegenheit. Eliza spricht schon davon, ihren Flug umzubuchen und früher nach Hause zu fahren.«
»Ich lese, so schnell ich kann. Ehrlich.« Was stimmte. Sie wollte es hinter sich bringen. »Ich habe noch vier Bücher vor mir.«
»Und immer noch nichts? Hast du noch immer nicht gefunden, was Sadie so aus der Fassung gebracht haben könnte?«
Maggie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. Sie wollte erst alle neun Bücher lesen, bevor sie mit Leo sprach.
Er sah wieder auf das Foto. »Ich mache mir Sorgen, Maggie. Ich habe das nicht richtig durchdacht. Was, wenn es Sadie ist, sie mich aber nicht sehen will und mir die Tür vor der Nase zuschlägt? Das ist nicht unwahrscheinlich. In all den Jahren, in denen ich ihr geschrieben habe, hat sie niemals zurückgeschrieben.«
»Mir hat sie immer geschrieben«, sagte Maggie. Sie hoffte, dass er sie nicht in die Falle gelockt hatte, dass es nicht das war, was er die ganze Zeit beabsichtigt hatte. Aber selbst wenn, sie machte das Angebot. »Ich könnte doch zu ihr fahren.«
Sein Erstaunen war nicht gespielt. »Was? Du willst selbst nach Dublin fahren?«
»Ich könnte ja mitkommen«, sagte Gabriel. »Wenn die anderen nichts erfahren sollen, ist das sogar noch besser. Wir könnten heute Nachmittag aufbrechen, sagen, dass Maggie und ich ein wenig die Umgebung erkunden wollen, und morgen zurückkommen.«
»Das ist zu früh«, sagte Maggie. »Ich muss die Tagebücher erst lesen.«
»Ich könnte fahren, und du liest.«
»Und wenn wir alle drei fahren?«, schlug Leo vor.
»Du kannst nicht mit«, sagte Maggie. »Da alle so weit gereist sind, um dich zu sehen.«
»Sie sind deinetwegen gekommen, nicht meinetwegen.«
»Mich haben sie ja jetzt gesehen. Gabriel hat recht. Wir könnten morgen schon wieder hier sein. Ihr könnt heute Morgen noch ein wenig filmen, und heute Nachmittag fahren wir los.«
»Was aber, wenn es nicht Sadie ist? Wenn sich der Privatdetektiv getäuscht hat?«, fragte Leo ängstlich.
Maggie hatte ihren Großvater noch nie so erschüttert gesehen. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das werden wir herausfinden, Tollpatsch. Aber wenn sie es ist und mitkommen kann, dann holen wir sie.«