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»So, dann lass mich
mal rekapitulieren«, sagte Gabriel zu Maggie. Sie saßen
nebeneinander in der Businessklasse, Leo auf der anderen Seite des
Gangs. »Du hast drei Brüder, zwei Schwestern, deine Mutter ist
Ballerina und außerdem bist du in Afrika
aufgewachsen?«
»Genau. Sehr gut. Du
wirst mit Bravour bestehen.«
»Danke, Millie. Du
heißt doch Millie, oder?«
»Du hast wirklich
einen scharfen Verstand.«
»Scharf wie ein
Rasiermesser.«
»Würde es dir etwas
ausmachen, wenn ich mir die Decke über den Kopf ziehe und
schreie?«
»Warum? Ist das auch
so eine Faraday’sche Familientradition? In der Beziehung seid ihr
ja wirklich sehr rege.«
Während der letzten
Stunden hatte Maggie Gabriel einen Schnellkurs in
Familiengeschichte gegeben. Erst hatte er das sehr ernst genommen,
ihr viele Fragen gestellt, sich alles gemerkt. Doch nun war es
damit vorbei.
»Es ist noch nicht
zu spät, Gabriel, und das meine ich ernst. Du kannst deine Meinung
immer noch ändern.«
»Wie denn? Soll ich
aus dem Flieger springen? Über« – er sah an ihr vorbei aus dem
Fenster – »über Gewässer voller gefräßiger Haie? Nein, jetzt wird
nicht gekniffen. Ich ziehe das bis zum bitteren Ende durch.« Er
lächelte. »Schau mich nicht so besorgt an, Maggie. Wenn wir damit
durchkommen, prima. Wenn nicht, sagen wir eben, das Ganze war ein
verspäteter Aprilscherz.«
»Das wird ihnen so
oder so nicht gefallen.«
»Dann überlass es
mir. Mir wird schon etwas einfallen, um das Ganze sehr
beeindruckend zu beenden. Auf dich wird keine Schuld fallen, das
verspreche ich dir. Und bis dahin musst du mich eben korrigieren,
wenn ich etwas vollkommen falsch verstehe. Macht nicht genau das
unsere Beziehung so wunderbar? Dass wir jeden Tag neue Dinge
aneinander entdecken?« Die beiden letzten Sätze sagte er mit
honigsüßer Stimme.
Maggie entspannte
sich. »Wenn du weiter so mit mir redest, erzähle ich, dass du als
Avon-Beraterin arbeitest.«
»Ach ja? Dann
erzähle ich deiner Familie, dass ich dich als Gogo-Girl in einem
dubiosen Nachtclub in SoHo kennengelernt habe.«
»Gogo-Girl?« Sie
musste lachen.
Leo versuchte,
Gabriels Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Entschuldige,
Schatz«, sagte Gabriel zu Maggie.
»Aber bitte,
Schatz«, sagte Maggie.
Sie schloss die
Augen und lehnte sich zurück, immer noch lächelnd. Sie hätte es
nicht für möglich gehalten, aber das Ganze machte ihr Spaß. Mit
Angus hatte sie nie so viel gelacht. Gabriel hielt sie mit
schnellen, geistreichen Antworten und unzähligen Geschichten auf
Trab. Sie hatten fast den ganzen Tag zusammen verbracht, am
Flughafen gewartet, weil ihr Flug Verspätung hatte, und Maggie
hatte sich nicht eine Sekunde gelangweilt oder unwohl gefühlt.
Ihnen ging nie der Gesprächsstoff aus. Sie hatte ihn nach seiner
Kindheit gefragt und war hervorragend unterhalten worden – eine
Kindheit in New York war so ganz anders als im beschaulichen
Hobart. Je mehr er ihr erzählte, umso mehr wollte sie wissen.
Außerdem musste sie genauso viel von ihm wissen wie er von ihr. Sie
sah schon vor sich, wie ihre Tanten sie ins Kreuzverhör nahmen, von
Clementine ganz zu schweigen. Wieder nagte das schlechte Gewissen
an ihr, weil sie lügen musste, doch sie unterdrückte es rasch. Es
war schließlich Leos Idee, nicht ihre. Er hatte alles
ausgeheckt.
Was sie daran
erinnerte, dass sie nicht nur zum Vergnügen unterwegs war. Sie
musste die Tagebücher lesen. Dann war da die Sache mit Sadie. Leo
hatte vor der Abreise noch versucht, den Privatdetektiv anzurufen,
aber er war nur an seine Voicemail geraten. »Keine Nachrichten sind
gute Nachrichten«, hatte er zu Maggie gesagt. »Ich muss mich in
Geduld üben.«
Maggie hatte
überlegt, ob sie Gabriel das ganze Sadie-Drama erzählen sollte.
Wenn das, was Leo erhoffte, stimmte, wenn Sadie tatsächlich gesund
und glücklich in Dublin lebte, dann würde Gabriel sie vermutlich
eines Tages kennenlernen. Warum sollte er? Wie albern, einen Moment
lang war sie selbst davon überzeugt, dass er ihr Verlobter
war.
Wunschdenken!,
meldete sich eine Stimme in ihrem Innern.
Es stimmte. Je mehr
Zeit sie mit ihm verbrachte, umso besser gefiel er ihr. Nicht nur,
weil man sich so gut mit ihm unterhalten konnte oder weil er so gut
aussah. Es war das Gesamtpaket, seine Intelligenz, sein Humor, sein
Äußeres. Wieso ihn sich noch keine andere Frau geschnappt hatte,
war ihr ein Rätsel, aber es war nicht zu leugnen -
O Gott. Sie war in
Gabriel verliebt.
»Maggie?«
Sie fuhr herum. Sie
war überzeugt, dass ihr der Gedanke ins Gesicht geschrieben
stand.
»Möchtest du noch
etwas trinken?«
Sie hatte die
Flugbegleiterin mit dem Getränkewagen gar nicht bemerkt. »Nein,
vielen Dank.«
Leo und Gabriel
vertieften sich wieder in ihr Gespräch. Maggie holte Luft. Sie
musste sich ihrer Aufgabe zuwenden. Die Tagebücher waren das
Dringlichste. Sie hatte es ausgerechnet – neun Tagebücher, jedes
mit hundert Seiten. Neunhundert Seiten. Sie würde mehrere Minuten
pro Seite benötigen. Das hieß, einige Tage intensiven Lesens. Sie
sollte auf der Stelle beginnen.
Der Aktenkoffer mit
den Tagebüchern war im Gepäckfach. Sie stand auf, ging an Gabriel
vorbei und öffnete das Fach.
Er stand auch auf.
»Ich mach das schon«, sagte er. Er nahm die Aktentasche heraus und
reichte sie Maggie.
»Ich dachte, ich
fange am besten an«, sagte Maggie zu Leo.
»Danke, Liebes.« Er
strahlte sie an, in seinem Blick lag eine große Verletzlichkeit.
»Das gehört alles zu dem Projekt, an dem du ja auch beteiligt bist,
Gabriel. Das muss unbedingt zwischen uns dreien bleiben, aber ich
habe Maggie zur Chefleserin und Chefredakteurin von Tessas
Tagebüchern ernannt. Also, unterbrich mich, wenn ich mich
wiederhole, aber habe ich dir schon einmal von meiner ersten
Erfindung erzählt?«
Gabriel war bis zur
Landung in Irland beschäftigt.
Maggie öffnete den
Aktenkoffer und nahm das erste blaue Notizbuch heraus. Sie machte
es sich in ihrem Sitz bequem, schlug das Buch auf, fuhr mit dem
Finger über die ausladende Schrift auf der Innenseite –
Tessa Faraday, streng vertraulich – und
begann zu lesen.