44.
Glasmurmel
Wie die Zeit vergeht … Kennen Sie das auch? Dieses Gefühl, dass die Zeit scheinbar immer schneller vergeht, je älter Sie werden? Dass das Buch, welches Sie gerade erst angefangen haben zu lesen, fast schon wieder zu Ende ist?
Der Tag hat natürlich weiterhin vierundzwanzig Stunden, aber diese Stunden haben bei mir nur noch fünfzehn Minuten. Früher fühlte sich eine Stunde wie neunzig Minuten an, vor allem in der Schule oder wenn ich an Heiligabend den ganzen Tag auf die Geschenke warten musste. Jetzt geht alles so schnell. Die Zeit wird im Alter flüchtig wie ein Luftballon, aus dem man die Luft ablässt. Pffffffrrrrrrrt! Schon wieder ein Tag vorbei, eine Woche, ein Monat, ein Jahr … Die Zeit rast. Schrecklich! Ständig nimmt man sich Dinge vor und macht sie dann nicht. »Das kann ich noch später erledigen oder morgen …«
Passen Sie auf! In zwei Tagen ist morgen schon gestern. Und wieder ist eine Gelegenheit vorbei, eine Chance oder einfach nur ein schöner, sonniger Tag, den man wieder nicht wahrgenommen hat.
Ich habe einen Bekannten, der war Banker. Eigentlich ist er es heute noch: Früher hat er in einer Bank gearbeitet, heute lebt er auf einer – einer Parkbank. Finanzkrise …
Jedenfalls sagte er früher immer zu mir: »Bill, Zeit ist Geld!«
Klar, Zeit ist Geld, aber ich würde furchtbar gerne wissen, wie viel ich dann noch auf dem Konto habe. Das kann dir nämlich keiner sagen, weder dein Banker noch dein Arzt. Vielleicht ist es gut, dass niemand genau weiß, wie lange er noch hat. Trotzdem frage ich mich oft: Würde ich anders leben, mich anders geben, wenn ich wüsste, wie viel Zeit ich noch auf dem Konto habe?
Ich habe eine Antwort auf diese Frage bekommen. Ehrlich! Hätten Sie die Zeit für meine kleine Geschichte? Schön!
Ich gehe jeden Samstag joggen – um sieben Uhr, morgens. Seit vielen Jahren mache ich das. Ich laufe von zu Hause los, über Lengsdorf hoch auf den Kreuzberg. Dort komme ich so gegen acht Uhr an. Etwas schlapp, aber glücklich, den inneren Schweinehund wieder bezwungen zu haben. Auf dem Kreuzberg steht eine Bank. Auf die setze ich mich keuchend hin und belohne mich mit einem phantastischen Blick über das Tal und auf die Stadt Bonn. Dort ist um diese Uhrzeit eine herrliche Ruhe, nur die Vögel zwitschern, und ab und zu hört man das Rascheln eines Eichhörnchens im Laub. (Ich verschweige an dieser Stelle die Flugzeuge, die den Flughafen Köln-Bonn anfliegen. Die passen nicht so gut in die Stimmung der Geschichte.) Dort kann ich ganz in Ruhe meine Gedanken ordnen und Pläne machen, für den Tag und die kommende Woche.
Vor gar nicht so langer Zeit kam ich wieder da oben an und freute mich darauf, gleich auf der Bank sitzen zu können. Meine Beine fanden die Idee auch ganz hervorragend. Aber an dem Morgen saß bereits ein älterer Herr auf der Bank. Er hatte lange, graue Haare, trug einen Panamahut und stützte sein Kinn nachdenklich auf den versilberten Knauf seines Spazierstockes. Er genoss sichtlich den Blick auf mein Tal und hörte meinen Vögeln beim Zwitschern zu.
Ich zwar zunächst enttäuscht, ich hatte mich auf meine Bank gefreut, die ich alleine besitzen wollte. Nun war sie besetzt. Ich wusste nicht so recht, ob ich den Mann stören sollte. Ein paar Monate zuvor war die Bank schon mal besetzt gewesen, durch ein junges Pärchen – er um die fünfzig, sie auch. Die habe ich nicht gestört. Aber gut, die haben auch geknutscht.
Noch ehe mein Kopf entscheiden konnte, hatten meine Beine ihn angesprochen: »Entschuldigen Sie, darf ich mich dazusetzen?«
Der alte Mann sah mich mit wachen, freudigen Augen an. Ich merkte gleich: Das war ein ganz direkter, toller Typ.
»Ja, selbstverständlich, Junge! Komm, setz dich! Ich freue mich über ein bisschen Gesellschaft! Ein herrlicher Morgen, nicht? Sag mal, wer bist du? Was machst du denn so?«
Ich holte tief Luft und fing gleich an zu erzählen, von zu Hause, den Kindern, meinem Beruf etc. Der Mann schien aber nicht beeindruckt zu sein. Nach einer knappen Minute verlor er die Beherrschung: »Junge, hör auf! Ich kann mir das gar nicht anhören! Du hast ein stressiges Leben, kann das sein?«
Das hat mich so kalt erwischt. Ich antwortete kleinlaut: »Klar, mit Drehtagen, Proben, Aufführungen, Autogrammstunden, Benefizkonzerten – da kommt schon was zusammen.«
Und ich erzählte ihm, wie sehr ich mich vor einigen Monaten geärgert hatte, weil ich die Schulaufführung meines Sohnes nicht sehen konnte. Er stand zum ersten Mal auf der Bühne, und ich saß in der »NDR Talk Show«. Er mit seinen Schulfreunden und ich mit Alice Schwarzer und Florian Silbereisen.
Nach der Show saß ich allein auf dem Hotelbett, köpfte einen Rotwein aus der Minibar und dachte bei mir: Was um Himmels willen machst du da, Bill? Du hast die Prioritäten im Leben nicht mehr präsent! Ich wusste anscheinend nicht mehr, was wichtig und was unwichtig ist.
Er schaute mich an und sagte: »Ich weiß genau, wovon du redest. Ich war in deinem Alter immer unterwegs. Der nächste Kunde war sooo wichtig. Der nächste Vertrag musste unbedingt unterschrieben werden. Irgendwann habe ich in der Zeitung einen Satz gelesen, der mich nachdenklich gestimmt hat: Der Mensch wird im Durchschnitt fünfundsiebzig Jahre alt.«
Er prüfte mit schnellen Blicken meinen verschwitzten Körper. Wahrscheinlich schätzte er gerade mein Alter. Ich traute mich nicht zu fragen.
»Fünfundsiebzig Jahre«, fuhr er fort. »Ich habe immer gerne mit Zahlen gearbeitet. Da habe ich mir Stift und Papier genommen und diese fünfundsiebzig Jahre mal zweiundfünfzig Wochen genommen. Ich kam auf die Zahl 3900. Weißt du, was das ist?«
Ich schüttelte den Kopf. Dabei flogen einige Schweißtropfen auf sein sommerliches Leinen-Jackett. Ich ließ mir nichts anmerken. Er auch nicht.
»3900: Das ist die Zahl der Samstage, die ein Durchschnittsmensch im Laufe seines Durchschnittslebens erlebt. Als ich die Nachricht las, war ich Ende fünfzig. Ich hatte also schon sehr viele Samstage hinter mir, eigentlich die meisten. Dann rechnete ich aus, wie viele Samstage mir noch blieben. Es waren noch genau 1004 Samstage bis zu meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag.«
»1004 …«, stammelte ich etwas hilflos, »das ist ja, ääh, eine ganze Menge …« Zahlen sind nicht so mein Ding.
Der alte Mann erlöste mich: »Mir ging es so wie dir, Junge. Zahlen sind zwar mein Ding, aber ich konnte mir diese 1004 nicht so richtig vorstellen. Da hatte ich eine Idee: Ich bin in die Stadt zu »Puppenkönig« gegangen, dem Spielwarenladen, und habe zu der Verkäuferin gesagt: ›Ich hätte gerne sämtliche Glasmurmeln, die sie auf Lager haben!‹ Sie schaute mich lächelnd an. Wahrscheinlich dachte sie, ich wollte mir zu Hause in der Badewanne ein Bällchenbad für Senioren einrichten. Ich habe die Glasmurmeln bekommen, zwei große Säcke. Es war wirklich nicht leicht, die nach Hause zu schleppen. Ich habe das alte Aquarium meiner Kinder aus dem Keller geholt und es in meinem Arbeitszimmer auf das Fensterbrett gestellt. Ich öffnete die beiden Säcke und habe die Glasmurmeln einzeln in das Aquarium gefüllt – genau 1004 Stück. Die restlichen Glasmurmeln verschenkte ich an die Kinder in meiner Nachbarschaft. So, Junge und jetzt kommt’s: Seit dieser Zeit nehme ich jeden Samstagmorgen, noch vor dem Frühstück, eine Glaskugel aus dem Aquarium heraus und schmeiße sie weg. Nichts rückt die Prioritäten schneller zurecht, als zu sehen, wie dein Leben Samstag für Samstag, Glaskugel für Glaskugel, weniger und weniger wird. Da bekommst du sehr schnell wieder den Blick für das Wesentliche!«
Er stand langsam auf und lächelte mich an: »Eines muss ich dir noch sagen, bevor ich nach Hause zu meiner Frau gehe. Ich habe heute Morgen meine letzte Glasmurmel rausgenommen. Mein Aquarium ist ab heute leer.«
Er griff in seine Hosentasche und zog eine Glasmurmel heraus. »Da ist sie: Das ist Nr. 1004! Und ich kann dir sagen, wenn der liebe Gott mir noch ein paar Jährchen vergönnt, wird das die schönste Zeit meines Lebens. Ich freue mich ab jetzt auf jeden einzelnen Tag. Denn ich habe ab heute ein überdurchschnittliches Leben!«
Er sah mich erwartungsvoll an, aber ich bekam kein Wort heraus. Er lachte laut auf und drückte mir die Glasmurmel in die Hand. »Komm, Junge, ich schenke sie dir. Sie soll dir Glück bringen! Vielleicht sehen wir uns am nächsten Samstag. Mach’s gut!«
Er ging mit festen Schritten den Wanderweg entlang. Er hob kurz seinen Spazierstock, der silbrige Knauf glänzte in der Morgensonne. Dann verschwand er hinter der Kreuzberg-Kirche.
Und ich stand da – mit Nr. 1004 in der Hand.
Ich hatte eigentlich vor, nach Hause zu gehen und den ganzen Tag an einem neuen Programm für die Springmäuse zu arbeiten. An einem Samstag. Bekloppt!
Stattdessen bin ich zu meiner Frau ins Schlafzimmer gegangen, habe sie mit einem kurzen, zärtlichen Kuss geweckt und in ihr Ohr geflüstert: »Ich möchte mit dir, allen sechs Jungs, der Oma und den Hunden in die Stadt gehen und ganz groß frühstücken. Mit allen zusammen und ganz viel Zeit, zum Zuhören, Reden und vielleicht ein bisschen Zeitunglesen. Und danach gehe ich zu Puppenkönig! Ich glaube, ich brauche dringend Glasmurmeln.«
Das war der schönste Tag, den wir seit langem mit der Familie verbracht hatten. Seitdem nehme ich jeden Samstag in der Früh, als erste Handlung des Tages, eine Glasmurmel aus meinem Aquarium. Und ich habe festgestellt: Das funktioniert wirklich. Weil ich mich jetzt, Samstag für Samstag, auf das Positive konzentriere und nicht auf das Negative. Das Negative würde mich nur runterziehen, aber das Positive macht den Tag besonders schön.
Ich bin inzwischen ein Mensch der sagt: Ja, das Glas ist noch halb voll! Und nicht: Das Glas ist schon halb leer. Meine Kinder haben diese Einstellung noch nicht, sie sagen: »Ey, mein Glas ist schon voll leer!« Das kommt vielleicht mit dem Alter, so wie bei meinem Großvater: »Halb voll, oder halb leer – Hauptsache, meine Zähne passen da rein!«
Noch etwas haben die Glasmurmeln in meinem Leben verändert: Wenn ich mir etwas vornehme, dann mache ich es einfach. Alles kann so schnell vorbei sein, genau wie dieses Buch.
Zeit ist nicht Geld, aber Zeit ist das Wertvollste, was man im Leben zu verschenken hat – an die Familie, an Freunde und sich selbst. Es hat viel Zeit gekostet, dieses Buch zu schreiben. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, es zu lesen.
In diesem Sinne,
Ihr Bill Mockridge