20.

LIWDZ (Liebesbriefe im Wandel der Zeit)

Ich weiß noch ganz genau, wie ich meinen ersten richtigen Liebesbrief geschrieben habe. Die älteren Leser (also alle) werden sich erinnern: Das war früher mal richtig Arbeit! Vor dem gemeinsamen Schwitzen im Bett hatte Gott lange den Schweiß am Schreibtisch gesetzt – wunderschöne, seitenlange Gedichte haben wir damals mit unseren Füllfederhaltern verfasst. Nicht kurz und profan, nach dem Motto: »Was klappert in der Lederhose, da ist wohl ein Hoden lose.« Nein, Gott bewahre, unsere Gedichte waren voller Leidenschaft und meistens länger als alle Werke Goethes zusammen. Gut, gerade dieser bekannte Weimarer Sportsfreund half uns mit seiner Vorarbeit natürlich ungemein. Auch von Shakespeare oder Heine ließen wir uns bei unseren Liebesbriefen gerne inspirieren. Will sagen: Wir haben geklaut wie die Weltmeister. Schöne, unendlich poetische Formulierungen der Großen, auf die wir selbst in hundert Leben nie gekommen wären, neu »geremixt«, würde man heutzutage wohl sagen. Aus Heine, Goethe und Shakespeare haben wir einen echten Heinthepeare gemacht. Der wiederum wurde meiner Angebeteten dann verkauft als echter Mockridge.

Mit dreizehn Jahren – das Feuer war gerade entdeckt – war ich unsterblich verliebt in Susan Osissely. Nein, die kam nicht etwa aus der DDR, die hieß einfach nur so. Jedenfalls hab ich mir in unzähligen Liebesbriefen die Finger für sie wundgeschrieben. Schon damals musste der halbe Regenwald für all das edle Büttenpapier sterben, das ich extra dafür aus der Schreibtischschublade meines Vaters klaute. Vom Irish Moss meines alten Herren, das ich flaschenweise auf Papier und Umschlag schüttete, ganz zu schweigen. Das Risiko, das meine Liebesbriefe nie bei Susan ankamen, weil der Postbote vorher vom Gestank ohnmächtig umfiel, musste ich eingehen.

So ein typischer Liebesbrief schaute damals einfach noch ganz anders aus. Das galt natürlich auch für den Inhalt. Ein typischer Liebesbrief vom jungen Bill circa 1960 (NACH Christus!) las sich zum Beispiel folgendermaßen:

Heutzutage sähe genau derselbe Liebesbrief so aus:

Von: Bill
An: Susan
LSDOMSDBMGTGHDMIDDMHIMDTVDEADEAWI100MDWMDMSNDVZH? AEDB

Sie erkennen das Problem: Die heutige Jugend liebt es abzukürzen. Nämlich den Weg zum Koitus, daher wird keine unnötige Zeit mehr verschwendet, Liebesschwüre noch altmodisch auszuschreiben. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich respektiere durchaus dieses ökonomische Zielbewusstsein – doch wo bleibt da die Romantik? Abgesehen davon, dass es selbst fürs iPhone meines Wissens noch keine App gibt, die die SMS vor dem Absenden in Irish Moss tunkt.

Und: Im Zeitalter von SMS und E-Mail geht ein weiterer wichtiger Aspekt unweigerlich flöten – das Warten. Beim klassischen Liebesbrief mit der Schneckenpost durftest du deutlich länger hoffen. Und das war schön. Solange du keine Abfuhr erhalten hattest, war theoretisch noch immer alles drin.

Wenn man die ersten zwei, drei Tage von der holden Angebeteten nichts hörte, konnte man sich beruhigen: »Gut, Susan hat den Brief sicher noch nicht zugestellt bekommen.«

Nach fünf oder sechs Tagen: »Ach, der ist Susan bestimmt vom Stapel mit den anderen Verehrerbriefen (die haben keine Chance!) unter den Tisch gefallen, und sie hat ihn noch nicht gesehen …« (Dass sie ihn eindeutig hätte riechen müssen, habe ich bei diesem Erklärungsversuch stets erfolgreich verdrängt.)

Und wenn mich nach zwei oder drei Wochen immer noch keine Antwort von Susan erreicht hatte, war ich mir sicher: »Die Post hat den Irish-Moss-Liebesbrief als vermeintlichen terroristischen Bio-Anschlag aus dem Verkehr gezogen!«

Wie gesagt: Dies alles ist schwieriger geworden in Zeiten der modernen, unmittelbaren Kommunikation. Kaum hast du die SMS oder E-Mail auf den Flügeln eines Kusses durch die Luft abgeschickt, ist sie auch schon angekommen. Kaum willst du dich dem Genuss der Hoffnung hingeben, dieser schönen Zeit des Wartens, in der du deine Phantasie vom Leben zu zweit auf Reisen schickst und bereits gemeinsame Pläne für euch ausmalst, piept auch schon dein Handy mit der kalten »KBVP«-Abfuhr. »Kein Bock! Verpiss Dich!«

Ruckzuck geht das heutzutage.


Es gibt allerdings auch Beispiele mit positivem Ende: Mein Sohn Jeremy, damals vierzehn Jahre alt, verliebte sich Hals über Kopf unsterblich in Jessica, eine Klassenkameradin. Jessica hatte im Sportunterricht einen Kopfstand gemacht und vergessen, vorher ihr T-Shirt in die Hose zu stecken. Da war es um Jeremy geschehen. Was machte er also? Er drückte seine Gefühle dort aus, wo Literaturhistorikern zufolge bereits Goethe und Heine ihre frühe Poesie verewigt haben: auf der Rückseite vom Vordersitz im Bus. Zwar hatten sich dort bereits andere vor ihm ausgetobt, aber zwischen »Kevin war da« und »Chantal ist die Matratze der 11a« war noch ein wenig Platz. Jeremy zückte seinen Edding und schrieb hingebungsvoll den romantischsten Satz, den ein Vierzehnjähriger sich vorstellen kann: Jessica, ich find dich voll geil!

Da die überkochenden Hormone das Rechtschreibzentrum im Kopf meines Sohnes weitgehend lahmlegten, habe ich die Fehler (zwei allein in »Jessica«) zum Verständnis korrigiert. War ja auch egal – Jessica würde es verstehen, und allein das zählte. Dazu musste sie Jeremys Liebebrief aber natürlich erst mal lesen.

Um 13:40 Uhr war Jeremy zu Hause, setzte sich an den Computer und schrieb seiner Kopfstandgöttin eine Mail:

Jessica,
Buslinie 636, 14:35 Uhr Richtung Hauptbahnhof, drittletzte Reihe rechts, unbedingt lesen!

Kaum hatte Jeremy auf »Senden« gedrückt, erfüllte ihn Panik: Was, wenn Jessica gerade nicht online war? Jeremy griff sich ein Blatt Papier, kritzelt hastig:

Schau in deine Mails!

Er rannte zum Fax – weg damit. Doch kaum hatte Jeremy erneut auf »Senden« gedrückt, erfüllte ihn schon wieder Panik: Was, wenn sie das Fax nicht findet? Jeremy stolperte über seine eigenen Füße, als er zum Handy hechtete und mit seinem Lichtgeschwindigkeitsdaumen tippte:

Guck aufs Fax!

Doch kaum hatte Jeremy ein drittes Mal auf »Senden« gedrückt, erfüllte ihn ein drittes Mal Panik: Was, wenn sie das Handy aus hat? Jeremy rannte mich, seinen eigenen Vater, fast über den Haufen, als er zum Telefon raste, um die Festnetznummer von Jessicas Eltern zu wählen. Jessica ging direkt ran, und Jeremy keuchte mit letzter Kraft ins Telefon: »Jessica, guck auf dein Handy!« – und legte wieder auf.

Jessica machte daraufhin ihr Handy an, las die SMS, lief zum Faxgerät, überflog das Papier, rannte zum PC, fuhr ihn hoch, rief ihre Mails ab, spurtete zur Bushaltestelle und suchte im 636er die Liebeserklärung von Jeremy. »›Chantal ist die Matratze der 11a‹?«, wunderte sich Jessica. »Das weiß doch jeder. Warum schickt mich Jeremy dafür extra hierher?«

Dann jedoch entdeckte Jessica sie endlich – die Worte aus den tiefsten Herzen meines Sohnes:

Jessica, ich find dich voll geil!

»Wie süüüüüß!«, dachte Jessica verzückt. Sie war hin und weg. »Ein ganzer Satz! Er ist ein Romantiker!«

Die Beziehung von Jeremy und Jessica hielt knapp sechs Wochen, bevor der noch süßeren Steffi im Sportunterricht versehentlich die Hose runterrutschte. Aber immerhin: Sechs Wochen länger als meine Beziehung damals mit Susan. Acht Tage nachdem ich ihr meinen Liebesbrief geschickt hatte, erhielt ich ihre Antwort. Acht Tage, in denen ich unser gemeinsames Leben vom ersten Kuss bis zur Goldenen Hochzeit bereits minutiös durchgeplant hatte. Und Susans Brief versprach bereits äußerlich, dieses Versprechen einzulösen: rosa Umschlag, mein Name und meine Adresse in ihrer süßesten Mädchenhandschrift drauf. Und: Er roch nach Tosca!

Voller Erwartung rannte ich in mein Zimmer, riss den Umschlag auf, um die heiß ersehnten Zeilen zu verschlingen. Ich hörte ihr niedliches Pieps-Lispeln beim Lesen förmlich vor meinem geistigen Ohr:

»Lieber Bill«! Sie hatte »Lieber« zu mir gesagt!!! Mein Herz führte vor Freude einen Tanz auf, bei dem mein heutiger Kardiologe vor Schreck tot umfallen würde. Leider ging der Brief noch weiter …

Mein Herz zersplitterte in tausend Teile wie eine fallengelassene Schellack-Platte. (Ja, ich bin wirklich so steinalt.) Ich war am Boden zerstört. Auf das Eis mit Susan habe ich natürlich verzichtet. Sollte doch der ach so tolle Elvis ihr von seinem Taschengeld einen Banana Split spendieren. Am liebsten hätte ich dem Typen eins mit seiner eigenen Gitarre übergezogen. Ich wollte nur noch sterben.

Heute weiß ich natürlich: Das wäre selbst Susan nicht wert gewesen. Ich bin dann einfach allein Eis essen gegangen. Und habe Susans Hälfte vom »Coppa d’amore« einfach mitverputzt.

Im Nachhinein gebe ich zu: In diesem Moment wären auch damals schon SMS praktisch gewesen. Ich hätte es mir wohl nicht verkneifen können, Susan aus der Eisdiele eine allerletzte romantische Abschieds-Nachricht zu schreiben:

Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig
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