13.

Brille? Nie, Mann!

Ich mag meine Augen. Tue ich wirklich. Ich wäre ja auch schön blöd, wenn nicht – schließlich ermöglichen sie mir jeden Tag aufs Neue, meine Frau in voller Schönheit zu bewundern. Wie wundervoll perfekt die Netzhaut das einfallende Licht in Nervenimpulse zu meiner geliebten Margie umwandelt – das schaffen nur meine Augen. Gleichzeitig üben sie sich in vertraulicher Diskretion über das, was sie im Badezimmerspiegel sehen müssen, wenn ich mich morgens kurz nach dem Aufstehen wasche. Denn auch wenn meine Pupillen vor Grauen und Furcht über diesen Anblick zittern – sie stehen ihn tapfer durch. Nein, auf meine Augen lasse ich nichts kommen. Allerhöchstens eine kleine Linsentrübung.

Womit wir beim Problem wären.

Schauen Sie: Ich hatte immer perfekte Sehkraft. Schilder mit Schriftgröße 0,5, noch zweihundert Meter entfernt, bei dickem Nebel – gar kein Problem für mich. In meinem Freundeskreis nannte man mich nicht umsonst viele Jahre den »Adler von Bonn-Endenich«. Ab circa fünfzig wurde ich von denselben Hobby-Ornithologen sogar noch genauer kategorisiert – nämlich als »Weißkopfseeadler von Bonn-Endenich«. Allerdings nicht wegen meiner Augen. Doch während mein Haupthaar langsam an Farbe verlor, verlor auch die Welt um mich herum langsam an Schärfe. Du merkst das anfangs ja gar nicht. Oder willst es nicht merken. Nie hätte ich als junger Mann gedacht, dass ich mal Probleme mit den Augen kriegen könnte. Und ich habe es auch noch nicht gedacht, als es längst so weit war. Und als ich es dann doch irgendwann dachte, habe ich zumindest noch versucht, es zu vertuschen. Doch die Zeichen wurden verräterischer.

»Schatz?«, fragte eines Tages meine Frau, als ich gerade gemütlich im Sessel mein druckfrisches, noch warmes Exemplar der »Apotheken-Umschau« las. Ich schaute hoch.

»Ja?«

»Werden dir nicht langsam die Arme müde?«

»Hä? Ich versteh nicht, was du meinst.«

Meine Frau blickte mich mit einer Melange aus Mitleid und Verständnis an. »Na, du sitzt da jetzt seit dreißig Minuten in Kniebeuge-Position …«

Ich analysierte verdutzt meine Leseposition. Erst jetzt wurde auch mir selbst wirklich klar, dass ich meine Rentner-BRAVO mit komplett ausgestreckten Armen von mir weg hielt, sie sogar noch bis zu meinen Fingerspitzen vorgeschoben hatte, nur damit ich die Buchstaben erkannte.

Oh-oh.

Und noch ehe ich mich in Selbsterkenntnis üben konnte, sprach meine Frau auch schon die unglaublichen Worte. Brutal, schonungslos, mir ungeschönt mitten ins Herz stechend. Eben so, wie nur meine Frau mit mir reden darf.

»Könnte es vielleicht sein, dass du langsam ein klitzeklein bisschen altersweitsichtig wirst?«

Da! Da war es, das böse Wort! Altersweitsichtig! Alter plus weitsichtig zusammen!!

»Ach, Quatsch …«

»Geh doch mal zum Augenarzt und mach einen Sehtest.«

Das wurde ja immer besser!

»Zum Augenarzt?« Ich gab mich betont locker. »Zum Au-gen-arzt? Margie, Schätzchen, ich bitte dich: Geht ein Nobelpreisträger Albert Einstein zum Gedächtnistrainer? Geht ein Stefan Raab mit vierundsechzig Beißern zum Zahnarzt? Wenn überhaupt, dann müsste der Augenarzt zu mir kommen, um seine unwürdigen Glupscher testen zu lassen … Glaub mir: Ich brauch nicht zum Augenarzt.«

Meine Frau schaute mich unbeeindruckt an. »Na, ich glaub doch.«

»Ich glaub nicht!«, entgegnete ich.

»Ich glaub doch.«

»Ich glaub nicht!«

»Ich glaub doch.«

»Ich glaub nicht!«

»WILLIAM! Ich glaub doch.«

Da ich aus langjähriger Ehe-Erfahrung wusste, dass ich nicht den Hauch einer Chance hatte, den mitunter tagelangen »›Ich glaub doch – Ich glaub nicht‹ vor allem mit der Verstärkung des ›Williams‹ vorneweg«-Kampf gegen meine Frau zu gewinnen, gab ich diesmal frühzeitig auf.

»Okay, okay … Wenn du unbedingt darauf bestehst, dich angemessen bei mir entschuldigen zu müssen, wenn ich mit meinem ›120% Sehkraft‹-Testergebnis zurückkommen werde, dann guck ich halt mal beim Augenarzt vorbei. Dafür musst du mir aber auch einen Gefallen tun.«

»Was?«

Ich reichte meiner Frau die aufgeschlagene »Apotheken-Umschau« und zeigte in die gegenüberliegende Wohnzimmerecke. »Kannst du dich bitte da drüben damit hinstellen? Ich sag Bescheid, wenn du umblättern sollst …«


Zwei Tage später. Ich sitze beim Augenarzt, hab vorher extra noch zwei Kilo Karotten gefuttert. Er: ein junger Typ, der mich mit einem kleinen Lämpchen in der Hand blendet. Er beugt sich so weit vor, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Schau mir in die Augen, Kleiner.

»Wie funktionieren Ihre Augen?«, verlangt der Augenarzt meine Selbsteinschätzung, während er mir weiter das schmerzhaft helle Licht auf die Pupille knallt.

»Gut«, antworte ich, während ich gleichzeitig versuche, mit der Zunge die vielen Karottenstückchen aus meinen Zähnen zu lutschen. »Sehr gut sogar. Sehen ist mein liebster Sinn, direkt nach Schmecken.«

»Aha.« Er knipst das Lämpchen aus und dreht mir so einen komischen Apparat hin. »Schauen Sie da bitte mal durch, und lesen Sie die obere Buchstabenreihe vor.«

Ich kneife die Augen zusammen, versuche, das, was da steht, zu entziffern.

»C …, X … nee, halt: U… uuuuuuuh, nein, natürlich: H … haaahaaa, reingelegt – ich meine selbstverständlich … Ach, was soll’s: Ich nehm den Telefonjoker!«

»Herr Mockridge, bitte!«

»Ist doch wahr!« Ich kompensiere mein Versagen mit Angriff. »Merken Sie denn nicht, dass Sie sich da komplett verschwommen gedruckte Buchstaben haben andrehen lassen?«

Es kommt, wie es kommen muss.

»Herr Mockridge, Sie brauchen eine Brille.«


Sofort nach der offiziellen Diagnose setzen die fünf Reaktionsphasen zur Brille bei mir ein, die jeder von uns durchläuft.

1. Verdrängung: »Ich, ’ne Brille? Blödsinn!«

2. Wut: »Stecken Sie sich Ihre bescheuerte Brille doch sonst wohin!«

3. Feilschen: »So ein kleines Monokel auf nur einem Auge tut’s doch auch, oder …?«

4. Depression: »Oh Gott, jetzt bin ich blind! BLIND!! Nie wieder werde ich die Schönheit eines Sonnenaufgangs sehen, den Duft eines am Morgen frisch gebrühten Kaffees rie…« – »Herr Mockridge, das macht die Nase!« – »Unterbrechen Sie mich nicht, ich bin depressiv!!«

5. Annahme: »Seufz. Jetzt setzen Sie mir das Ding halt endlich auf.«


So also kam ich zu meiner Brille. Allzu oft trage ich sie nicht. Manchmal, um intellektueller zu wirken. Dann umweht mich ein Hauch Roger Willemsen, nur ohne all die schönen vollen Locken auf dem Kopf und schlauen Sachen aus seinem Mund. Manchmal setze ich sie schnell auf, wenn meine Frau Margie wütend auf mich ist – weil jeder weiß: Brillenträger schlägt man nicht. Hauptsächlich allerdings brauche ich sie zum Lesen. Und zum Schreiben dieser Zeilen. Ja, tatsächlich: In diesem Moment trage ich meine Brille auf der Nase. Ich soll Sie schön von ihr grüßen. Und Ihnen ausrichten: Gehen Sie doch auch mal zum Augenarzt. Meine Brille hat noch viele Schwestern, die ein liebevolles Zuhause suchen …

Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig
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