15.
Meine Bouleschaft
Jeden Samstagnachmittag bin ich anzutreffen auf dem Sportplatz in Bonn-Endenich. Man sieht es mir vielleicht auf den ersten Blick nicht an, wahrscheinlich auch nicht auf den zweiten, aber: Ich treibe Sport.
Ich spiele Boule.
Boule, das wissen die wenigsten, ist die härteste Extremsportart aller Zeiten. Der »Iron Man« ist Kindergeburtstag dagegen. Und zwar nicht mal einer mit Sackhüpfen und Topfschlagen, sondern einer von der Sorte, bei dem die planungsfaulen Eltern die eh schon verfetteten Kinder einfach direkt zu McDonald’s verfrachten.
Es ist natürlich nicht sosehr das Boulen an sich – eine Kugel zu werfen, kriegt man schon noch irgendwie hin. Aber die Gespräche dabei! Boule-Gespräche sind die absolute Härte, gehen für Untrainierte nicht selten an die Grenze des Zumutbaren. Mitunter rasen sie sogar mit Vollgas durch die geschlossene Schranke hindurch …
In diesem Sinne: Ich möchte Ihnen meine Boulebrüder vorstellen. Wir sind eine Gruppe älterer Herren, so zwischen dreiundzwanzig und siebenundvierzig. Also Jahrgang ’23 und ’47. Mein Freund Hans und ich sind die Jungspunde der Truppe. Sie wird komplettiert durch vier Herren überreifen Alters. Der erste ist Robääär Baguette. Eigentlich heißt er Robert Brotesser, aber wir nennen ihn Baguette, weil er zu jedem Training mit einem französischen Stangenweißbrot unterm Arm erscheint. (Deshalb ist bei den Franzosen das Mittelstück auch immer besonders schön weich und salzig gewürzt …) Robert war jahrelang im diplomatischen Dienst in Frankreich. Er ist stolze neunundachtzig Jahre alt und strotzt nur so vor Energie. Seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben, und seit dieser Zeit hat er das Leben ganz neu entdeckt. Er ist ständig irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs. Robert ist so eine Art Luis Trenker auf Ecstasy. Ob Korallentauchen in Australien oder Paragliding in den Anden, er nimmt alles mit, was das pralle Leben zu bieten hat. Er ist ein echter »Happy-Ender«, aber ein ganz kapitaler! Neulich kam er braungebrannt und glänzend gelaunt zum Bouletraining.
Ich begrüßte ihn begeistert: »Mensch Robert, du siehst fabelhaft aus! Wo warst du denn schon wieder?«
»Bill, ich war vierzehn Tage in Tirol – Snowboarding! Das war wirklich wunderschön.«
»Du bist ja verrückt! Haben die Leute nicht komisch geguckt, als du alter Greis die Piste runtergebrettert bist?«
»Nein, Bill, gar nicht. Also, beim Snowboarden nicht, nur beim Sonnenbaden auf dem Gletscher. Da kamen zwei junge Frauen aus Münster. Als die mich mit meinem freien Oberkörper gesehen haben, dachten die sofort, sie hätten einen Ötzi gefunden.«
»Oh Mann, die werden Augen gemacht haben!«
»Ja, Bill, aber erst so richtig, als der Ötzi aufstand und sie fragte, wo es hier zum Après-Ski geht. Mann, haben wir gefeiert!«
Und dann fing Robert auch noch an singen: »Es war so schön, es war so toll, mit Britt und Gabi in Tirol!« Robert ist wirklich ein Phänomen, dabei ist er auch noch herzkrank. Er zieht sein Nitrospray schneller als sein Schatten. Links das Spray, rechts die Kugel. Und dann wird geboult!
Ganz anders ist dagegen mein Boulebruder Friedhelm. Dr. Friedhelm Simon, vierundsiebzig Jahre alt, ehemaliger Buchhalter aus Lübeck, ein sehr netter, sympathischer Mann. Sein Problem ist: Er ist extrem ängstlich und misstrauisch. Er hat eine Vollkasko-Mentalität, sein Versicherungsvertreter müsste inzwischen Millionär sein. Friedhelm hat seine Zehen gegen fallende Boulekugeln versichern lassen. Zur Sicherheit trägt er beim Boulen aber auch noch Sicherheitsschuhe mit Stahlkappen. Friedhelm lebt in einem großen Haus in Röttgen. Nein, eigentlich ist das kein Haus, das ist eine Festung! Friedhelm hat ständig Angst, ausgeraubt zu werden, und daher das Haus mit allem ausgestattet, was der internationale Sicherheitsmarkt zu bieten hat. Eher kommt man als Terrorist in die USA als als Freund in Roberts Haus. Wenn man ihn um 20 Uhr besuchen möchte, sollte man mindestens eine Stunde vorher dort sein. Sobald man einen Fuß auf sein Grundstück gesetzt hat, geht auch schon die gigantische Flutlichtanlage in Betrieb. Seine Auffahrt ist dann in gleißend helles Licht getaucht. Ich denke bei jedem Besuch: So wird es also, wenn ich dereinst ins Licht gehe. Mit zugekniffenen Augenliedern taste ich mir den Weg bis zur Haustür und betätige den versteckt angebrachten Knopf der Türklingel. Kurz darauf höre ich Friedhelm hinter der Tür, sehen kann ich allerdings nur eines seiner Augen – im Türspion. Friedhelm liebt Türspione! In jeder Tür seines Hauses ist ein Türspion angebracht, sogar in der Glastür zur Terrasse. Ich glaube manchmal, Friedhelm hat sogar einen Adventskalender mit 24 Türspionen. Nach zehn Sekunden höre ich eine leise, verängstigte Stimme: »Jaaa? Wer ist denn da?«
»Friedhelm, ich bin’s. Mach auf!«
»Wer ist denn ich?«
»Na, wer wohl? Bill natürlich! Mensch, du siehst mich doch durch deinen blöden Türspion!«
»Das kann alles Maske sein! Wann habe ich denn Geburtstag?«
Langsam reicht es mir. »Hast du deinen Geburtstag vergessen?«
»Nein, das ist ein Test. Bill wüsste, wann ich Geburtstag habe.«
»Ich bin Bill!«
Das Auge tastete nochmals meinen gesamten Körper ab. »Mein Geburtstag?«
»24. … nein, 25. April!«
»Und wie ist mein Spitzname?«
»Oh, du machst mich wahnsinnig!«
»Das ist falsch! Noch zwei Versuche.«
»Jetzt mach endlich auf, du armseliger, paranoider alter Greis!«
»Na, geht doch!« Friedhelm öffnet die Tür.
»Grüß dich, Bill, schön dich zu sehen. Und dann so pünktlich, es ist genau 20 Uhr! Habe ich dir schon meine neue Alarmanlage gezeigt? Ein Traum! Nicht ganz billig, deswegen habe ich sie zur Sicherheit gegen Diebstahl versichert. Komm, wir gehen erst ins Wohnzimmer.«
TRÖÖÖT! TRÖÖÖT! TRÖÖÖT! TRÖÖÖT!
Friedhelm ist begeistert: »Das ist ein Sound, was? Was?«
Prima! Auf der Einfahrt wird man geblendet, jetzt bin auch noch halbtaub. Aber wie gesagt: Der Friedhelm ist ein feiner Kerl, bis auf …
TRÖÖÖT! TRÖÖÖT! TRÖÖÖT! TRÖÖÖT!
Ähnliche Geräusche macht nur mein Boulekollege Edgar Hahn. Er ist sechsundsiebzig Jahre alt und der einzige Raucher unserer Truppe. Er nimmt seine Aufgabe sehr ernst und raucht für uns alle mit. Er raucht, als ob er dafür bezahlt würde. Gegen ihn ist Helmut Schmidt ein Gelegenheitspaffer. Jede Zigarette soll ja angeblich das Leben um acht Minuten verkürzen. Wenn die Theorie stimmt, müsste Edgar schon seit vierzig Jahren unter der Erde liegen. Er war lange Zeit der Leiter des Gesundheitsamtes in Bonn. Er passte da ungefähr so gut rein wie ein Vegetarier in eine Metzgerei. Es nicht so, als wenn die Raucherei bei Edgar keine Spuren hinterlassen hätte. Junge, Junge, die Lunge. Ein typisches Gespräch mit Edgar verläuft in etwa so:
»Sa … CHUAAR … Sagt mal!«, setzte Edgar neulich an. Wir anderen hören durch die dicken Rauchschwaden nur seine Stimme. »Ha … CHUUUAAARRR-CHUUUAAARRR … ges … ÄÄÄÄÄ-CHAAAAAAA-KRRRRRRRRRRRR … ge … CHUUUAAARRR … en?«
»Natürlich!«, antworte ich.
»Die Münsteraner sind und bleiben einfach die Besten!«, ergänzt Friedhelm.
Zur Erklärung: »Ha … CHUUUAAARRR-CHUUUAAARRR … ges … ÄÄÄÄÄ-CHAAAAAAA-KRRRRRRRRRRRR … ge … CHUUUAAARRR … en?« heißt übersetzt in menschliche Sprache: »Habt Ihr gestern den ›Tatort‹ gesehen?« Für Außenstehende ist das schwierig, aber wir verstehen Edgar inzwischen ganz gut.
Vor einigen Jahren musste Edgar seine Wohnung aufgeben. Er kam mit seinen Raucherbeinen nur noch schwer bis in den dritten Stock hoch. Die Suche nach einer Wohnung im Erdgeschoss erwies sich als sehr kompliziert. Ein Vermieter wies ihn mit den Worten ab: »Herr Hahn, es tut mir leid, aber wir vergeben nur Mietverträge mit mindestens zwei Jahren Laufzeit. Das halten Sie doch nie im Leben durch!«
Auch bei seinem Sohn »CHUARR-HÄÄÄRRG«, ein überzeugter Nichtraucher, fand Edgar keine Bleibe. Sein Filius hatte kurz zuvor seine Familie durch einen Irischen Wolfshund komplettiert, und der beanspruchte vehement das letzte verbleibende Zimmer. Es gab keinen Ausweg: Edgar musste wohl oder übel ins Heim. Nach kurzer Suche fand er einen Platz in der Seniorenresidenz »Zum rauchenden Schlot«.
Als er zum letzten Mal in den Briefkasten seiner Wohnung schaute, fand er einen bunten Werbezettel: »Auf eigenem Balkon durch das Mittelmeer – für nur 55 Euro am Tag!«
Es ratterte in Edgars Kopf. Klar, das war es! 55 Euro am Tag, macht 1500 Euro im Monat. Der Pflegeplatz im Heim kostet 200 Euro am Tag, also locker 6000 Euro im Monat. Was will ich? Ein Klappbett in einer Besenkammer oder Sonne, Meer und hübsche Mädels? Haferbrei oder Captain’s-Dinner? Volksmusik im Fernsehraum oder Disco bis tief in die Nacht?
Eine Woche später war er tatsächlich an Bord seines Traumschiffes, und seitdem schippert er fröhlich über das Mittelmeer – und spart dabei auch noch jeden Monat 4500 Euro. Nach Abzug der Zigaretten bleiben immer noch fast 2000 Euro Taschengeld. Und das Geld trägt er regelmäßig ins Spielcasino. Edgar, der Schmöker im Smoking! Das Schiff, mit dem er gerade unterwegs ist, kann man schon von weitem sehr gut erkennen: Es hat drei Schornsteine, aber vier Rauchfahnen. Er kommt aber immer noch regelmäßig an Land, um mit uns Boule zu spielen.
Der letzte im Boulebunde ist Beppo Sterzenbach. Er ist vierundachtzig Jahre alt, seit sechzig Jahren verheiratet und ein echter, bayrischer Grantler. Beppo ist nur glücklich, wenn er unglücklich ist. Das wäre ja nicht weiter schlimm, aber er liebt es, anderen Menschen das Leben schwerzumachen. Seine Nachbarn sind inzwischen allesamt vorbestraft. Beppo hat sie alle verklagt und kennt keine Gnade: Zur falschen Uhrzeit Rasen gemäht, Autowaschen am Sonntag, den Gehweg erst nach sechs Uhr morgens vom Schnee befreit – Beppo kennt jeden Paragraphen auswendig. Die Nachbarn atmen befreit auf, wenn Beppo in den Urlaub fährt. Doch auch im Urlaub hört er nicht auf. Neulich hat er in der Bibliothek in Endenich einen Dia-Vortrag gehalten: »Die schönsten Reisemängel aus dreißig Jahren.«
Beppo, Friedhelm, Edgar und Robert – Hans und ich. Eine herrliche Truppe. Jeder hat eine echte Macke. Was die anderen wohl über mich reden? Ich möchte es gar nicht wissen …
Bei einem sind wir uns allerdings sehr einig: Boule ist verdammt nochmal nicht lustig! Natürlich ist und bleibt Boule einfach nur ein Spiel, aber nicht, wenn alte Knacker zur Höchstform auflaufen. Da wird jeder Wurf ausdiskutiert. Robert ist darin ganz groß: »Bill, wenn du nicht werfen kannst, warum fängst du dann an?«
»Ich kann werfen! Aber der Boden ist da vorne, wo das Schweinchen liegt, hart wie Granit, obwohl es gestern zwanzig Liter geregnet hat!«
Da schaltet sich Friedhelm ein: »Zweiundzwanzig Liter, Bill, es waren genau zweiundzwanzig Liter. Pro Quadratmeter, versteht sich!«
Robert lässt sich nicht ablenken. Er ist nicht mehr der beste Werfer, aber fehlende Seh- und Wurfkraft macht er locker durch seine Erfahrung wett. »Bill, wenn du jetzt legen willst, musst du sanft werfen, sonst springt dir die Kugel weg wie ein Gummiball.«
Ich lege den nächsten Wurf sanft an. Die Stahlkugel verlässt meine Hand wie ein Schmetterling auf Brautschau und – matsch – bleibt in der einzigen, richtig sumpfigen Stelle des Platzes liegen. Ein Trauerspiel.
»CHUARRR-ÄRRRCCHHHT-CHUAAAAAARRR!«
»Nein, die Stelle habe ich nicht gesehen!«, antworte ich Edgar.
»Da muss die Stadt doch streuen oder sonst was unternehmen. Da kann man übel ausrutschen, das zahlt keine Versicherung!«, merkt der besorgte Friedhelm an.
Robert wird hingegen richtig ungehalten: »Sooo sanft auch wieder nicht! Die Kugel ist ja geflogen wie eine besoffene Motte. Mann! Mann! Mann!«
Edgar ist dran. Hochkonzentriert geht er in die Hocke.
»Du siehst aus wie meine Frau beim Pinkeln«, kommentiert Beppo die Szene.
»CHUARR-CHUARR-CHUAAAARRR!«
»So lustig ist das auch nicht!«, erwidert Beppo. »Du hast meine Frau noch nicht dabei gesehen.«
Edgar benutzt eine andere Technik als ich. Er wirft die Kugel im hohen Bogen, sie prallt gegen den tief hängenden Ast des Baumes, der neben dem Bouleplatz steht, und – matsch – bleibt direkt neben meiner Kugel liegen.
Was jetzt passiert, kann ich nur in Wortfetzen wiedergeben:
»Bills Kugel ist näher dran … Nein, Edgars. Das sieht doch jedes Kind. Wann warst zu denn das letzte Mal beim Augenarzt? … CHUARRR! … Nicht mit der Schnur messen, das ist viel zu ungenau … Vorsicht mit deinen Sicherheitsschuhen, du trittst die Kugeln ja in den Matsch! … 1998 habe ich mit einem Wurf drei gegnerische Kugeln weggeschossen, in Paderborn! … CHUARR-ÄÄRRRRCHT! … Dann eben in Bielefeld … Bill ist näher dran … Na gut, dann eben Edgar. Eh egal, Beppo hat die letzte Kugel … Wer hat den Wein? …«
Herrlich! Darum liebe ich dieses Spiel! Man braucht nicht mehr als einen einigermaßen ebenen Platz im Park, schöne Stahlkugeln und ein paar gute Freunde. Das ist ein Sport nach meinem Geschmack. Ach so: Der Geschmack kommt auch nicht zu kurz, denn das wichtigste Utensil einer gut ausgerüsteten Bouletasche ist, neben Kugeln, Lappen und Maßband – das eigene Rotweinglas. Ein bisschen Doping hat jede Sportart.
Nachdem der edle Tropfen die Gemüter beruhigt hat, warten alle gebannt auf den entscheidenden Wurf von Beppo. Er ist ein Boule-Tier, der Schießer, der Vollstrecker. Er motiviert sich vor den Würfen immer selbst: »Euch zeig ich’s! Ihr saudepperten Kommunisten!«
Beppo kann in seiner bayrischen Pranke die Kugel ganz verschwinden lassen. Er geht in die Hocke und holt weit aus. Genau im passenden Moment verlässt die Kugel in einem Affenzahn seine Monstergriffel, trifft genau zwischen die verdreckten Kugeln von Edgar und mir, unsere Kugeln werden durch die Wucht des Aufpralls nach links und rechts geschleudert, und – matsch – Beppos Kugel bleibt allein im Sumpf zurück. Meine Kugel rollt im Zeitlupentempo weiter und bleibt direkt vor dem Schweinchen liegen. Ich habe durch Zufall den Sieg eingefahren.
In solchen Momenten sage ich immer: »Geschenke werden dankend angenommen.« Man muss nicht immer der Beste sein. Manchmal erledigen das auch gute Freunde für dich.