9.
Hunger-Hunger-Täterä!
Ich muss zugeben, dass mich das Abendmahl nach Dr. Peters nicht wirklich sättigte – obwohl mir der freundliche, polnische Kellner meines Lieblingsitalieners sogar noch ein Blättchen Rucola »auffe Hausse« spendierte.
Auf dem Nachhauseweg traf ich vor meiner Haustür meine drei jüngsten Söhne Lenny, Jeremy und Liam. Sie strahlten mich mit freudigen Augen an. Ach, wie schön!, dachte ich bei mir, meine Jungs sind stolz auf ihren Vater, weil er so eisern und diszipliniert seine Diät durchhält! Doch als ich mich umschaute, sah ich den wahren Grund meiner glücklichen Kinder: Hinter mir stand ein Bote mit drei großen Pizza-Kartons.
Meine feine Nase nahm sofort Witterung auf und analysierte den Inhalt: Tonno, Salami, Tre Stagioni (Liam mag keine Artischocken). Noch quälender als der herrliche Duft war für mich die Erkenntnis, dass die Turbokörper meiner wohlgeratenen Jungs diese belegten Teigmonster in weniger als zwei Stunden in pures Testosteron umwandeln würden. Die Mägen meiner Jungs verbrennen jegliche Nahrung gründlich wie ein Krematorium, nur deutlich schneller. An kalten Abenden essen sie sogar die Pizzakartons mit, um die Verdauung richtig anzuheizen.
Mein schlaffer Bauch braucht für eine solche Mahlzeit mindestens eine Woche. Wie ein Python, der unzerkaut ein ganzes Kaninchen herunterschlingt und sich dann für zehn Tage ein schattiges Plätzchen sucht. Der Unterschied ist nur, dass der Python nach Verdauung des Kaninchens mühelos seine alte, schlanke Gestalt wiederfindet – an meiner Taille ist der runde Abdruck der Pizza noch nach Monaten genau zu erkennen.
Meine Jungs zogen sich mit ihrer Beute – und natürlich ohne Besteck – in ihre Zimmer zurück. Ich suchte nach einer Betätigung, die mich von meinem Hungergefühl ablenken könnte. Vielleicht endlich mal den Keller aufräumen, Belege für das Finanzamt abheften … oder einfach fernsehen. Nach kurzem Abwägen meiner körperlichen Verfassung entschied ich mich für Letzteres und goss mir ein großes Glas Mineralwasser mit Kohlensäure ein. Ja, genau, ich wollte es mal so richtig krachen lassen!
Im dritten Programm lief eine Kochsendung mit Martina Meuth und Bernd Neuner-Duttenhofer, den Urgesteinen unter den deutschen Fernsehköchen. Sie kochten Lieblingsgerichte aus ihrer Kindheit, irgendwas mit Schachtelhalm und Mammut-Hack. Mir lief nicht nur das Wasser im Mund zusammen, nein – es lief mir heraus! Noch ein paar Sekunden länger, und ich hätte meine Jungs einzeln aus den Zimmern geprügelt und des Hauses verwiesen – natürlich ohne ihre Pizzas.
Doch als überzeugter Erziehungspazifist griff ich zur Fernbedienung und schaltete um. Auf Arte lief der Film »Das große Fressen«. Ein herrlich verrückter Film. Ich musste allerdings den Fernseher ausschalten, weil das Knurren meines Magens lauter wurde als die Flatulenzen der Darsteller.
Ich trank genießerisch den letzten Schluck meines Deluxe-Wassers, welches im Abgang erstaunlich angenehm nach gar nichts schmeckte, und ging zu Bett. Ich las ein paar Seiten in der Bibel, nur für den Fall, dass ich die Nacht wegen Unterernährung nicht überleben sollte. Ich war gerade an der Stelle mit den zwei Fischen und den fünf Broten, als Margie das Schlafzimmer betrat.
Meine junge Frau war an diesem Abend mit ein paar alten Freundinnen aus gewesen und dementsprechend bester Laune. Margie ignorierte den nahen Tod ihres geliebten Ehemannes und sagte mit leicht alkoholschwangerem Unterton: »Oh, Hochwürden ist schon so früh im Bett?«
»Jaaaaargghh«, antwortete mein arbeitsloser Magen.
Sie beugte sich über mich und gab mir einen flüchtigen Kuss. Ich küsse meine Frau häufig und gerne, aber was jetzt mit mir passierte, hatte ich noch nie erlebt: In meinem Kopf explodierte eine Bombe aus Dopamin und Serotonin – ich konnte mein spontanes Glück kaum fassen! So muss sich Neil Armstrong gefühlt haben, bei seinen ersten Schritten auf dem Mond, oder Hans-Dietrich Genscher, als er den Balkon der deutschen Botschaft in Prag betrat, oder Karl-Theodor zu Guttenberg, als er seinen Doktortitel entgegennahm. Diesmal war es aber nicht dieses »Wie wunderbar, dass ich mit einer so tollen Frau verheiratet bin«-Glücksgefühl. Es war einfach ihr Atem, der mich fast wahnsinnig machte.
Knoblauch! Mmh, leicht angeröstet …, in Oh-Oh-Olivenöl! Mit leicht scharfer Note … Peperoni! Spaghetti Aaaahglio Oooohlio! So einfach und doch soooo lecker! Und Roootwein. Wahrscheinlich ein Brunello di Montalcino, Jahrgang 2004 oder vielleicht 2005. Nein, doch eher 2003?
»Maaargie, küss mich bitte noch einmal!«
»Oh Bill, hast du heute noch was mit mir vor?«, hauchte sie mir ins Gesicht.
Dieser Hauch, da war doch noch was … Panna Cotta, auf Himmmmhbeerspiegel!! Und der Wein scheint doch eher von 2005 zu sein, für ein 2003er viel zu flach …
»Nein, ich möchte einfach nur essen, äääh, küssen.«
»Warte Schatz, ich putze mir nur schnell die Zähne.«
»AUF GAR KEINEN FALL!«
Über den weiteren Verlauf des Abends schweigt der Gentleman, vor allem wenn er aus Kanada stammt. Nur so viel: Wer behauptet, »Essen ist der Sex des Alters«, dem gebe ich zumindest für diesen Abend nur zur Hälfte recht. Aber immerhin hatte ich wenigstens Sex.
Ich schlief in dieser Nacht glücklich und zufrieden ein. Allerdings hungrig …
Gegen drei Uhr in der Früh weckte mich Margie plötzlich. Ich wusste nicht, wieso. Und ich wusste auch nicht, warum ich vor dem Kühlschrank stand und eine Aufschnittdose in den Händen hielt.
»Bill! Was machst du da?«
Jetzt wäre eine passende Antwort nicht schlecht, vielleicht: »Mir kam es gestern vor, als wenn der luftgetrocknete Schinken noch nicht ausreichend lufttrocken wäre. Ich wollte ihn für dich nur noch ein bisschen lüften.« Dreißig Jahre Improvisationstheater – die Erfahrung kann mir keiner nehmen, auch nicht im Schlaf.
Auf dem Weg zurück ins Bett bin ich noch kurz in die Zimmer meiner Jungs gegangen, nur um zu sehen, ob sie auch gut schlafen und ordentlich zugedeckt sind. Und ob nicht vielleicht doch ein kleines Stückchen Pizzakarton übrig geblieben ist.
Plötzlich stand ich vor Omas Zimmer. Ohne nachzudenken öffnete ich leise die Tür und schlich Schritt für Schritt in Richtung Kommode. Oma schlief anscheinend tief und fest, sie atmete ruhig und regelmäßig. Langsam, gaaanz laaangsam zog ich die Schublade aus der Kommode, Zentimeter für Zentimeter. Endlich konnte ich mit der Hand in den Holzkasten greifen. Da waren sie, die Senftütchen! Hastig riss ich ein Tütchen auf und fühlte, wie die gelbliche Masse die Schleimhäute meines Rachens verätzte. Egal! Mein Magen freute sich so auf die kommende Nahrung, dass er eine Extraportion Säure als Begrüßungskomitee nach oben schickte. Benommen versuchte ich die Tür zum Flur wiederzufinden, da vernahm ich eine Stimme aus der Dunkelheit:
»Siehste Bill, hab’ ich dir doch gesagt: Der Senf wird dir noch mal das Leben retten!«