41.
Drei Minuten aus meinem Leben
Ich hatte vor Monaten ein schreckliches Erlebnis. Es hat mein Leben verändert. Ich zittere noch heute bei dem Gedanken an jenen schicksalsschweren Tag.
Es war an einem Dienstagmorgen. Es schien ein Dienstag wie viele vor ihm zu werden. Ich hatte das Haus für mich allein, die Kinder waren in der Schule oder sonst wie beschäftigt, die Oma besuchte eine Senfausstellung in Düsseldorf, und Margie weilte beruflich in Berlin. Ich war gerade dabei, in meinem Arbeitszimmer ein Bild aufzuhängen (eine Sporturkunde aus meiner Schulzeit: vierter Platz im Einzel-Synchronschwimmen), und holte voller Konzentration mit dem Hammer zum ersten gezielten Schlag auf den Nagel aus, da hörte ich plötzlich eine Stimme.
Eine Männerstimme! In meinem Haus!
Ich umfasste den Hammer fest mit der rechten Hand und verhielt mich ganz ruhig. Da war sie wieder! Die Stimme klang weich, fast ängstlich. Und sie hatte einen leichten Akzent. Diesen Akzent kannte ich doch! Natürlich: Kanada, Toronto, Rotlichtviertel …
Jetzt konnte ich die Stimme klar hören: »Ganz ruhig, nicht nervös werden … Du musst es bis zum Telefon schaffen und die Polizei anrufen. Ganz ruhig, Bill.«
Hä? Wieso Bill?
Und dann kam die schreckliche Erkenntnis: Diese Stimme! Das bin ja ich!
An jenem Morgen wurde mir klar: Ich bin ein Brabbler!
Kennen Sie Brabbler? Das sind Menschen, die ständig ihr eigenes Tun kommentieren müssen: »So, was wollte ich noch? Ach ja, ins Arbeitszimmer gehen, endlich mal das Bild aufhängen. Ja, ja, gute Idee. Dann hole ich mal schnell den Hammer und einen Nagel, geht ja schlecht ohne … So, eben die Tür aufmachen. Sooo, Licht an, dann sieht man mehr … Und da ist auch schon der Hammer …«
Und so weiter und so weiter. Jeder Schritt wird mit sinnlosen Sätzen begleitet. Ich kannte dieses Phänomen bislang nur von älteren Menschen. Und jetzt? Jetzt gehörte ich auch dazu: alt und brabbelnd.
Warum hat mir das niemand gesagt? Na gut, ehrlich gesagt, hat es mir jemand gesagt: meine Familie, meine Nachbarschaft, meine Kollegen aus der »Lindenstraße«. Gut, meinen Boulefreunden fällt es nicht auf, weil sie auch von dem Virus befallen sind. Eine Boulerunde klingt bei uns wie ein Sonntagnachmittag im Museum. Alle brabbeln leise vor sich. Warum ist mir mein eigenes Gebrabbel nicht früher aufgefallen? Liegt wohl daran, dass man als Brabbler seine eigene Stimme nicht hört. Man nimmt sie irgendwie wahr, aber das Gehirn denkt: »Nee, ist nicht wichtig, lass den alten Mann doch brabbeln.«
Jetzt weiß ich auch, warum in den letzten Wochen ständig meine Drehs in der »Lindenstraße« abgebrochen werden mussten. Ich lief durch das Bild und brabbelte: »So, dann gehe ich jetzt mal über die Straße. Ach, da ist ja Marie-Luise. So, jetzt muss ich winken. Ääääh, Arm wieder runter. Schön weitergehen … und nicht in die Kamera schauen … So, jetzt kommt gleich mein Text …«
Und dann hörte ich kurz vor meinem entscheidenden Texteinsatz den genervten Tonmann brüllen: »AUUUUS! Das geht so nicht! Bill, können wir die Szene noch mal ohne Gebrabbel haben?«
Ich war natürlich empört: »Was? Wer brabbelt denn in meine Szene? Bin ich denn nur von Anfängern umgeben? Ich kann so nicht arbeiten!«
Mein Gott, wie peinlich!
Meine Jungs haben das netter ausgedrückt: »Dad, du musst nicht immer vorher ankündigen, wenn du dir ein Bier aus dem Kühlschrank holen willst. Wir lassen uns lieber überraschen.«
Aber ich habe mein Gebrabbel in den Griff bekommen. Ganz alleine. Ohne Selbsthilfegruppe oder »Anonyme Brabbler«. Ich habe mir nämlich in Ruhe überlegt, warum ich brabbele. Das liegt daran, dass ich mich nicht auf eine Sache konzentrieren kann. Frauen sind multitasking-fähig. Ich bin es nicht. Ich mache meist bis zu zehn verschiedene Aktionen gleichzeitig und verliere dabei vollkommen den Überblick. Darum fing ich an zu brabbeln: Um mir selbst kleine, aber klare Ansagen zu machen. Macht ja sonst keiner für mich!
Können Sie mich verstehen? Nein? Wie soll ich Ihnen das erklären? Vielleicht so: Ich beschreibe Ihnen einfach drei Minuten aus meinem Leben. Drei typische Minuten. Welche nehme ich denn? Ach, machen wir einfach bei dem Bild in meinem Arbeitszimmer weiter.