2.
Drei Generationen und ganz viel Senf
Wir sind zwar nun schon mittendrin im Thema dieses Buches, aber damit Sie meine Ausführungen besser verstehen – oder zumindest ein bisschen nachvollziehen – können, will ich Ihnen zunächst einmal meine Familie vorstellen: Ich lebe nämlich mit drei Generationen unter einem Dach – eigentlich sogar vier, wenn man unsere Möpse Kenzo und Möppy mitzählt. Meine Frau Margie und ich haben sechs Söhne. Ich wiederhole: sechs Söhne! Ja, danke, wir kennen die Methoden, wie man das hätte verhindern können, wir haben sie aber ganz bewusst nicht angewandt. Nach dem sechsten Sohn dann schon, denn ich wollte nicht »der Bill mit den sieben Zwergen« werden. Dann schon lieber »Ali Billa und die vierzig Räuber«, aber dagegen legte Margie ihr Veto ein.
Unsere Söhne sind zwischen fünfzehn und siebenundzwanzig Jahre alt, also aus dem Gröbsten raus. Es gab aber Zeiten, als die Jungs so zwischen sieben und neunzehn waren, da hatten wir jeden Tag von sechs Uhr morgens bis Mitternacht das volle Programm: Von Laternenbasteln bis Kiffen war alles inbegriffen.
Der Älteste ist Nicky, er lebt inzwischen in Berlin und ist Regisseur und Künstler durch und durch. Er sieht aus wie Johnny Depp und redet oft so intellektuell und gestochen, dass ich kaum ein Wort verstehe.
Teo ist fünfundzwanzig Jahre alt, liebt Fitness und die Sonne. Er studiert International Business und redet pausenlos über Projekte, Deals und cross-mediale Marketingstrategien.
Luki ist zwei Jahre jünger und der eigentliche Komiker in unserer Familie. Das Riesentalent hat er wohl von Margie geerbt. Wie alle Männer, die auf der Bühne stehen, ist er ein bisschen eitel. Das war ich auch mal, damals, als es sich noch lohnte. Jetzt hat sich bei mir der Zeit-Nutzen-Aufwand zu stark in Richtung Zeit verschoben.
Vollkommen uneitel ist hingegen Lenny. Er ist mit einundzwanzig Jahren zwei Jahre jünger als Luki. Ja, Sie haben richtig gerechnet: Die ersten vier Jungs sind immer im Abstand von zwei Jahren gekommen. Bei den beiden Jüngsten haben wir jeweils ein Jahr länger gebraucht, um wieder neue Kraft zu sammeln. Lenny ist ein genialer Gitarrist und studiert Musik in Brighton.
Jeremy ist achtzehn und die coolste Sau unter der Sonne. Er ist sehr klug, jetzt schon ein erfolgreicher Schauspieler und gibt sich, je nach Stimmung, als eine Mischung aus James Dean und Klaus Kinski.
So, habe ich noch einen vergessen?
Ach, richtig: Liam ist mit fünfzehn Jahren unser Nesthäkchen und zurzeit mein wichtigster Mann, denn er kennt sich mit Computern, Apps und Smartphones aus. Ohne seine ständige Hilfe hätte ich dieses Buch auf eine Schiefertafel kratzen müssen. Liam spielt Schlagzeug und ist immer gut drauf. Er liebt seine Freunde und geile Klamotten.
Ich wiederhole noch mal für Sie: Nicky, Teo, Luki, Lenny, Jeremy und Liam. Mein ganzer Stolz! Alle sechs nennen mich »Dad«. Je nach Situation auch »DATT!«, »Dähäd?« oder »Daddy« – bei Letzterem folgen meistens Sätze wie »Das mit der Sechs in Latein hatte ich dir schon erzählt, oder?«, »Sag mal, seit wann hat dein Auto eigentlich diese fiese Beule am Kotflügel?« oder »Hatte Mama wirklich sechs Mal Sex – mit dir?«
Ja, Mama hatte! Mindestens!
Margie ist der wichtigste Mensch in meinen Leben: meine große Liebe. Seit dreißig Jahren. Als ich sie das erste Mal sah, war es allerdings nicht gerade die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Ehrlich gesagt dachte ich mir damals: »Mein Gott, was für eine Knalltüte!« Ich hielt ein Casting ab, für das allererste Springmaus Improvisations-Ensemble, das ich Anfang der achtziger Jahre in Bonn gegründet hatte. Mit falsch herum angezogenem Pullover, wirrer Frisur und ein paar Rollschuhen um den Hals kam sie mit einer halben Stunde Verspätung zum Termin und erfüllte auf der Stelle die große Bühne des kleinen Theaters mit ihrer Spontaneität und Witz. Sie ist eine geborene Komikerin und wie für das Improvisationstheater geschaffen. Diese Fähigkeit zeigt sie zum Glück auch im Alltag, eine Gabe, die man in einem Haushalt mit sechs heranwachsenden Söhnen, einem herauswachsenden Mann und einer ausgewachsenen Oma gut gebrauchen kann.
Oma ist bei uns das einzige Mitglied der dritten Generation. Meine Frau wurde in Rom geboren, ihre Mutter stammt aber aus Tschechien. Oma ist sechsundachtzig Jahre alt und verkörpert bis heute die typische böhmische Gräfin, die gerne ungefragt alle Familienmitglieder belehrt und berät. Sie spricht eine Mischung aus Deutsch, Tschechisch, Italienisch, Wienerisch und Englisch, gerne auch alle Sprachen innerhalb eines Satzes. Eine bewundernswerte Frau! Sie hat nur eine Schwäche: Sie kann nichts wegschmeißen. Vielleicht liegt es daran, dass sie der Kriegsgeneration angehört, aber diese einfache Erklärung macht das Zusammenleben nicht immer einfacher. Das Mindesthaltbarkeitsdatum auf Lebensmittel ist für sie nicht mal eine grobe Empfehlung. Neulich hatte sie eine Leberwurst in unserem Kühlschrank deponiert, die beim Öffnen der Kühlschranktür strammen Schrittes auf mich zulief. Die Leberwurst war so alt, die hatte ihre lange Zeit in unserem Kühlgerät genutzt, um sich evolutionär weiterzuentwickeln. Sie verfügte inzwischen über ein Fell, sechs Augen und acht Beine. Charles Darwin hätte seine Freude an dieser Leberwurstspinne gehabt. Ich erlegte das Ding mit der Handkante und sagte zu Oma:
»Was ist das denn? Das musst du wegschmeißen, bevor es uns in sein Netz einwickelt und unser Blut aussaugt!«
»Nein, Junge!«, antwortete die erschrockene Oma und versuchte die Leberwurst zu reanimieren. »Ich habe extra nachgeschaut, die ist haltbar bis 2012!«
»Nein, Oma!«, entgegnete ich genervt. »Da ist ein Punkt zwischen der 20 und der 12, das bedeutet 20.12.! Die Wurst ist im letzten Dezember abgelaufen!«
Der Begriff »abgelaufen« bekam für mich eine ganz neue Bedeutung, als ich im Mülleimer die letzten Zuckungen ihrer Beine sah (die Beine der Leberwurst, nicht der Oma!).
Oma hat aber noch eine andere große Leidenschaft: Sie liebt Senftütchen. Diese kleinen Plastiktütchen, die mit zehn Gramm Senf gefüllt sind. Nicht mehr, nicht weniger. Wir gehen mit der Familie jeden Sonntag essen, meist gut bürgerlich. Aus drei Gründen: Für die Jungs gibt es volle Teller, für mich eine günstige Rechnung und für Oma Senftütchen. Denn Senftütchen gibt es nicht beim Edel-Italiener oder Chi-Chi-Franzosen. Senftütchen gibt es nur in Lokalen, in denen auf dem Nachbartisch ein Wimpel mit der Aufschrift »Stammtisch« steht und das Fett der Friteusen in Stalaktiten von der Decke hängt. In unserem Lieblings-Familienlokal in Bonn-Endenich, der »Harmonie«, ist das allerdings nicht so. Es ist sauber, gemütlich und erfüllt trotzdem unsere drei Voraussetzungen. Manchmal glaube ich, dass die Betreiber der »Harmonie« die Senftütchen nur noch für die Oma auf den Tisch bringen. Und die Oma greift erbarmungslos zu: Tütchen für Tütchen verschwindet in ihren Manteltaschen. Manchmal läuft sie auf dem Weg nach Hause regelrecht mit Schlagseite, weil sie die Mengen in den Manteltaschen nicht genau austariert hat. Zu Hause verschwindet sie sofort in ihrem Zimmer, um die Ausbeute genau zu begutachten. Dann öffnet sie zufrieden die große Schublade ihrer Kommode und legt die Senftütchen zu den anderen Schätzen: Salz-, Pfeffer-, Ketchup- und Mayotütchen. In rauen Mengen, man könnte ein komplettes Oktoberfest damit ausstatten.
Vor vielen Jahren habe ich sie zufällig beim Katalogisieren ihrer Schatzkammer erwischt. Ich fragte sie, am Rande der Verzweiflung: »Was um Himmels willen willst du mit den ganzen Senftütchen?«
Da schaute sie mich mit großen Augen an, als ob sie ein großes Geheimnis in sich tragen würde: »Bill, eines Tages wird dir der Senf das Leben retten!«
»Ja, wenn die Chinesen Endenich überfallen oder unser Haus von einem Tsunami bedroht wird«, wollte ich spontan antworten, aber ich ahnte, dass jedes weitere Wort meinerseits sinnlos war.
Meine eigene Mutter hatte auch eine Sammelleidenschaft: Ihre Senftütchen hießen allerdings Bonbons. Jedes Jahr im Sommer, wenn wir mit der ganzen Familie meine Mutter in Toronto besuchten, legte sie für jedes Kind einen Dollar und ein Bonbon auf ihre Kommode. Nach einem feuchten Kuss (das mögen Jungs ganz besonders) durfte jedes Kind seine fette Beute abholen. Leider ist meine Mutter 2005 gestorben, im stolzen Alter von 101 Jahren. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte sie in einer Seniorenresidenz, wo »nur alte Leute lebten«. Außer ihr natürlich. Meine Mutter war bis ins hohe Alter sehr wach und fidel. Als sorgender Sohn habe ich sie zu Lebzeiten natürlich regelmäßig in Kanada angerufen. Ich werde ganz besonders ein Telefonat nicht vergessen, das ich im Vorfeld ihres hundertsten Geburtstages mit ihr führte:
»Sag mal ehrlich, Mum: Wie geht es dir?«
»Kein Problem, mein Junge! Ich bin oben licht und unten dicht, mehr brauch’ ich nicht!«
Ich hoffe, das kann ich mit hundert Jahren zu meinen Jungs auch noch sagen.
Die Oma und meine Mutter haben sich immer gut verstanden. Ich muss gestehen, dass ich diese gegenseitige Zuneigung vor vielen Jahren ein einziges Mal ausgenutzt habe. Als Oma mich fragte: »Bill, wie geht es deiner Mutter? Ich habe lange nicht mehr mit ihr telefoniert.«
»Ach, eigentlich gut, wie immer. Sie hat nur ein Problem: Ihr ist doch glatt auf die alten Tage der Senf ausgegangen.«
»Bill, du dummer Junge, sag mir das doch! Ich schicke ihr einige von meinen Senftütchen.«
Wir haben dann ein Päckchen für meine Mutter gepackt, mit hundert Senftütchen (ich konnte sie von dreißig auf hundert hochhandeln). Den Empfänger habe ich erst in der Postfiliale auf das Päckchen geschrieben:
»Die Harmonie«
Absender: Anonym