43.
Seniorenschule
Ich habe einen Traum. Nicht den von Martin Luther King – aber mindestens ebenso wichtig. Jeden Samstagvormittag stehe ich am Konrad-Adenauer-Denkmal in Bonn und halte vor 250000 Tauben meine geschichtsbuchträchtige Rede. Falls Sie mich dort sehen wollen: Kommen Sie rechtzeitig, bevor wieder mit quietschenden Reifen meine Frau vorfährt, mich ins Auto zerrt und kopfschüttelnd ermahnt: »Bill, wirklich – lass endlich den Quatsch.«
Doch das werde ich nicht tun. Schließlich ist es alles andere als Quatsch. Ich habe eine Vision. Es geht um nicht weniger als die Zukunft unserer Kinder. Um kleine Jungs und Mädchen, die auch irgendwann alt werden. Und die es später einmal einfacher haben sollen als wir Senioren heute.
Ich habe einen Traum!
Ich habe einen Traum, dass es eines Tages Seniorenschulen gibt. Dass eines Tages auf den Hügeln von Bad Sassendorf die Alten mit den Gerade-noch-Jungen miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen, um ihnen all das beizubringen, was sie im folgenden Lebensabschnitt erwartet.
Ich habe einen Traum, dass meine sechs Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie auf das Seniorensein ausreichend vorbereite … – Ring-Ring!
Ups, kleinen Moment – Telefon.
»Mockridge? Ja? Ja, der bin ich … Ja, genau … natürlich … gar kein Problem … Alles klar, danke. Wiederhören!«
Okay, da bin ich wieder. Das waren die Nachlassverwalter von Martin Luther King – ich soll mir schleunigst was anderes einfallen lassen, sonst verklagen die mich bis auf die Feinripp-Unterhose. Haben die wirklich so gesagt. Da hätte ich ausgerechnet von denen ruhig etwas mehr Toleranz erwartet – aber egal. Ich kann’s auch anders erklären. Folgendes: Wir alle sind als Kind in die Schule gegangen. Und auch wenn sich uns damals Sinn und Zweck vielleicht nicht richtig erschlossen und sich unsere Lust aufs Lernen arg in Grenzen gehalten haben – so wissen wir doch spätestens heute: Schule war wichtig. Schule hat uns aufs Erwachsenwerden vorbereitet. Viele Dinge wurden uns dort beigebracht, die später wichtig waren, um als mündiger Bürger durchs Leben gehen zu können. Dafür sind wir dankbar. Zu Recht.
Wer jedoch, frage ich Sie, bereitet uns aufs Altwerden vor? Wo können wir rechtzeitig lernen, was uns erwartet, welche Rolle wir in der Gesellschaft einzunehmen haben? Ich fordere hiermit die zweite Schulpflicht und präsentiere Ihnen exklusiv meinen ersten Entwurf mit den wichtigsten Eckdaten (geht in Kopie direkt an die Bundesregierung):
Schulpflicht: Schulpflichtig sind alle ab fünfzig. Ausnahmslos. Berufsjugendliche, die sich auch mit fünf Jahrzehnten Lebenserfahrung auf dem Buckel immer noch an ihre schwindende Jugendlichkeit klammern, werden notfalls gegen ihren Willen eingezogen. Gerade diese stellen sonst im späteren Alter eine erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit dar. Das weiß jeder, der beim Spaziergang schon mal von einem siebenundachtzigjährigen, halbblinden Greis auf neonfarbenen Inline-Skates umgebrettert wurde.