39.
Robert
Drei Wochen ist es jetzt her, dass ich das vorangegangene Kapitel über die »letzten Dinge« verfasst habe. Für mich alten Schreibesel eine lange Pause, in der ich gar nichts gemacht habe. Dabei ging die Arbeit an »Je oller je doller« bis dahin eigentlich hervorragend voran. Seit ich jedoch das letzte Kapitel fertig habe, habe ich das Manuskript auf meinem Computer nicht mehr geöffnet. Trotz der sehr ehrgeizigen Terminplanung meines Verlages: Ich konnte es einfach nicht öffnen. Wollte es nicht öffnen. Bis jetzt.
Folgendes ist passiert: Ich habe Ihnen ja bereits von meinem alten Boulefreund Robert Baguette erzählt. Vor gut einem Monat saß ich gerade am Schreibtisch vor meinem Notebook, kurz davor, ein weiteres großartiges, fabelhaftes, über alle Zweifel erhabenes Kapitel (Quelle: Selbsteinschätzung) zu beenden. Plötzlich jedoch, mitten in der Arbeit, klingelte das Telefon.
»Hallo, wer ist dran?«, fragte der genervte Autor in den Hörer.
»Hey, Bill, ich bin’s, der Robert.«
»Robert, was gibt’s?« Ich klemmte mir das Mobilteil ungeduldig zwischen Kopf und Schulter, um während des Gesprächs weitertippen zu können. Was rief Robert ausgerechnet jetzt an? Ich dachte, der sei im Urlaub.
»Du Bill, ich bin gerade zurückgekommen aus Tahiti und sitze seit zwei Tagen wieder hier im Altenheim … Junge, da geht mir diese Einheitstapete so auf die Nerven. Und diese öden Gespräche! Kannst du nicht vielleicht kurz vorbeikommen und eine oder zwei von deinen witzigen Geschichten erzählen?«
»Robert, das geht überhaupt nicht!«, entgegnete ich, während ich mich auf das Dokument auf dem Bildschirm vor mir weit mehr konzentrierte als auf unser Gespräch. »Kommt gar nicht in Frage, ich bin hier gerade am Schreiben – du weißt doch, dass ich das Buch bald abgeben muss, da kann ich nicht einfach so weg, wie denkst du dir das denn?«
»Ooooch«, hörte ich Roberts enttäuschte Stimme über das Klackern meiner Tastaturtasten. »Warum denn nicht? Es ist alles so traurig hier in Deutschland, Bill, alles so depressiv. Du bist immer so lustig. Es muss ja nicht lang sein. Eine halbe Stunde reicht. Machst du das?«
»Nein, Robert!«, sprach ich noch entschiedener ins Telefon. Und lauter, als es eigentlich meine Absicht war. »Nein, ich kann das nicht machen, verstehst du mich denn nicht, Robert? Ich muss das Buch fertigkriegen! In drei oder vier Wochen kann ich mal kurz vorbeischauen, das werd ich versuchen.«
»Ja, machst du das? Kommst du dann in drei Wochen vorbei und erzählst mir eine witzige Geschichte? Versprichst du mir das, Bill?«
»Ja, ja, ja, versprech ich dir.«
»Schön, das ist schön, Bill. Ich warte dann einfach auf dich!«
»Alles klar, dann bis in drei Wochen. Tschüss!«
Und damit legte ich auf. Hach! Ich liebte den guten alten Robert – ich liebte ihn wirklich. Aber so gerne ich auch direkt zu ihm gefahren wäre: manchmal hat man einfach keine Zeit, sondern Wichtigeres zu tun. Aber mach das mal einem Robert Baguette klar, dessen größte verbleibende Verpflichtung im Leben war, in seinem Heim pünktlich zum Mittagessen aufzutauchen. Nun ja. Wahrscheinlich war ich trotzdem zu hart gewesen, plagte mich sofort das schlechte Gewissen. Zum Glück sprangen mir meine ausgezeichneten Verdrängerqualitäten hilfreich zur Seite und verstauten dieses Gefühl in der hintersten dunklen Kammer meines Hirns mit einem dicken Sicherheitsschloss plus Zahlencode davor, den ich direkt vergaß. In vier Wochen würde ich bei Robert alles gutmachen, nahm ich mir vor. Dann würde ich zu ihm fahren und ihm seine witzige Geschichte erzählen. Aber jetzt musste ich unbedingt weiterschreiben.
Vor einer Woche dann rief mich am frühen Abend Beppo an. Im Gegensatz zu Robert erwischte mich Beppo in einem äußerst günstigen Moment. Ich hatte mein Schreibpensum für diesen Tag erledigt und es mir gerade auf dem Sofa bequem gemacht.
»Bill, hier ist der Beppo.«
»Beppo, mein Freund. Schön, dass du anrufst. Du, ich hab heute ein Kapitel geschrieben, ich glaube, das ist das bisher beste …«
»Bill …«
»… es geht um Schönheits-OPs, das hat schon auf der Bühne immer ganz prima funktioniert …«
»Bill …«
»… mit der Geschichte, wie ich Margie frage, wie ich aussehe, kennst du doch, wo Margie mich dann mit Sean Conn …
»Bill! Verdammt nochmal! Robert ist tot!«
Ich war auf einen Schlag still.
»Bitte …? Wer ist tot?«, hörte ich mich nach einer gefühlten Ewigkeit leise ins Telefon fragen.
»Der Robert. Ist vor einer Stunde gestorben. Einfach eingeschlafen. Der saß bei sich im Zimmer auf dem Stuhl – als ob er auf jemanden gewartet hätte.«
Beppo erzählte noch mehr über die Umstände, aber ich bekam das gar nicht mehr richtig mit. Während ich seine Stimme aus dem Hörer nur noch akustisch wahrnahm, starrte ich durchs Fenster raus ins Leere. Und dachte dabei nur an eines: eine versprochene, aber nicht erzählte witzige Geschichte.
Vorgestern war die Beerdigung. Pastor Kapmann hat in seiner Rede Robert so wieder aufleben lassen, als würde der, den wir eigentlich betrauerten, noch immer zwischen uns sitzen und wild an seinem Hörgerät rumfummeln, um alles Lob und alle Komplimente über sich ganz genau mitzukriegen. Nach der Messe trugen Sannemann und seine Jungs Robert auf unserem Friedhof in Bonn-Endenich zu Grabe. Wie sehr habe ich mir in diesem Moment gewünscht, die Sannemänner würden auch mit Robert gegen den Pfeiler laufen und er in seiner Kiste stöhnend wieder aufwachen (ich berichtete). Doch: Fehlanzeige. Robert war nicht mehr. Und ich war nicht mehr bei ihm gewesen.
Nachdem sie Robert ins ausgehobene Erdloch hinabgelassen hatten, Friedhelm ihm seine Boulekugeln mit ins Grab gelegt hatte, war ich an der Reihe, von unserem Freund Abschied zu nehmen. Mit feuchten Augen trat ich vor, senkte den Kopf hinunter auf den Sargdeckel.
»Tja, du alter Ötzi. Ich denke, ich schulde dir eine witzige Geschichte …«, schluckte ich. »Du bist doch so gerne skilaufen gegangen in Tirol – also, eine witzige Skilaufgeschichte: Eine fünfzigjährige Frau steht oben auf der Piste und will runterfahren ins Tal. Plötzlich aber spürt sie ein dringendes Bedürfnis. Es ist niemand zu sehen, also fährt sie auf ihren Skiern an den Rand der Piste hinter einen Baum, zieht die Hose runter, hockt sich hin und lässt der Natur freien Lauf. Zu spät merkt sie: Sie hockt ein bisschen auf einem Abhang. Langsam fängt sie an, rückwärts zu rutschen, der Abhang wird steiler und steiler, die Frau gewinnt an Fahrt, zum Schluss saust sie mit über hundert Sachen unter dem Skilift durch, über den Hügel, überschlägt sich zweimal und bricht sich den Arm. Man bringt die arme Frau ins Krankenhaus, wo der Arm eingegipst wird. Zwei Stunden später steht sie auf dem Flur und wartet auf ihren Sohn, dass er sie abholt. Plötzlich wird ein Mann im Rollstuhl neben ihr abgestellt, dem sie das Bein eingegipst haben. Die Frau fragt höflich: ›Na, wie haben Sie sich denn das Bein gebrochen?‹ Worauf der Mann entgegnet: ›Das glauben Sie mir nie, wenn ich Ihnen das erzähle … Ich fuhr vorhin mit dem Skilift auf die Piste – auf einmal düste eine Frau runter. So einen Fahrstil haben Sie in Ihrem Leben noch nicht gesehen! Rückwärts in der Hocke, mit blankem Hinterteil! Das wollte ich mir genauer anschauen, habe mich nach vorne gelehnt und bin aus dem Stuhl gefallen. Dabei habe ich mir das Bein gebrochen. Der ganze Urlaub im Arsch …‹ Noch bevor die Frau sich verschämt wegdrehen und schnell verschwinden konnte, fragte der Mann hinterher: ›Und wie haben Sie sich den Arm gebrochen?‹ Die Frau schaut ihn an: ›Ach … Wissen Sie: Wenn ich Ihnen das erzähle, kippen Sie noch mal aus dem Stuhl und brechen sich das zweite Bein!‹«
Ich starrte noch immer hinunter auf den Sarg, in dem Robert lag. Hinter mir warteten noch Beppo, Edgar und weitere Trauergäste, die Abschied nehmen wollten. Doch das war mir wichtig gewesen. Ich selbst hatte zu lange gewartet, Robert eine witzige Geschichte zu erzählen.
»Mach’s gut, mein alter Ötzi!«, verabschiedete ich mich von Robert. Damit ging ich zur Seite und ließ die anderen Trauergäste Robert die letzte Ehre erweisen. Ich trottete ganz langsam über den Friedhof nach Hause. Ich wollte jetzt allein sein.
Das war wie gesagt vorgestern. Heute, vor ein paar Stunden, fand ich in meinem Briefkasten Post: Eine schöne Hochglanz-Ansichtskarte von Tahiti, extra groß, mit Sonne, Meer, Strand und Palmen drauf. Ich drehte sie um und mir wurde weich in den Knien. Ich erkannte sofort Roberts Handschrift:
Am Poststempel sah ich: Die Karte war vier Wochen unterwegs gewesen, bis sie dann doch noch in meinem Briefkasten gelandet war. Und das schließlich war der Moment, in dem ich mich wieder an den Schreibtisch setzte, um mein Buch weiterzuschreiben. Um Ihnen weitere kleinere oder auch größere Weisheiten übers Alter erzählen zu können. Und ganz besonders diese hier. Denn was sich verändert hat: Wenn mich jetzt ein guter Freund anruft und sagt, dass er mich braucht oder einfach nur sehen will – dann nehme mir die Zeit. Ich bin mir sicher: Ich werde das Buch schon fertigkriegen. (Wenn Sie es in diesem Moment in der Hand halten, ist das der beste Beweis dafür.) Aber ich möchte dafür nicht noch einmal etwas aufschieben, was ich nie wieder nachholen kann.
Dasselbe sollte natürlich auch für Sie gelten. Auch Sie werden dieses Buch schon fertigkriegen. Aber wenn ein Freund anruft und vorschlägt: »Komm doch vorbei!«, dann sagen Sie bitte nicht: »Ich hab keine Zeit, ich lese!« Legen Sie dieses Buch dann sofort weg, dafür haben Sie mein vollstes Einverständnis. Nein, das ist sogar ein Befehl! Weiterlesen können Sie später noch. Fahren Sie hin zu Ihrem Freund, verbringen Sie Zeit miteinander. Noch heute. Jetzt. Und verschieben sie es nicht auf »in vier Wochen«. Denn denken Sie dran: Jeder noch so aufrichtig versprochene Besuch, jedes noch so sehr vorgenommene Wort ist rein gar nichts wert, wenn die Chance dafür verstreicht. Dann heißt es nur noch: Hätt ich doch, wär ich doch, könnt ich doch. Dieser fiese Konjunktiv, gegen den man nichts mehr ausrichten kann, ist wie ein stumpfes Messer, das dich ständig piekst. Glauben Sie mir. Ich weiß, wovon ich rede.
Bis irgendwann, Robert. Und pass da oben mit deinen Boulekugeln auf – wenn ich eine auf den Schädel kriege, komm ich persönlich vorbei und les dir die Leviten!