24. KAPITEL
In jener Nacht erfuhr Heather von einer weiteren Gabe der Vampire. Sie stand in der Ausstellung und staunte, während Robby und Ian Stoffbahnen am Geländer der Galerie befestigten, um einen Vorhang zu schaffen, der den hinteren Teil des Raumes abtrennte. Die Models konnten diesen Bereich dann zum Ankleiden während der Modenschau benutzen.
Erstaunlicherweise benötigten die beiden Schotten keine Leiter. Sie schwebten einfach in der Luft.
»Ich nehme an, das kannst du auch«, sagte sie mit einem Seitenblick auf Jean-Luc, der neben ihr stand.
»Ja.« Er beugte sich zu ihr. »In meinen Armen könnten wir gemeinsam zu neuen Höhen aufsteigen.«
Sie war sich nicht sicher, ob er noch vom Schweben redete. »Ich bin damit zufrieden, eine gewöhnliche Sterbliche zu sein.«
»An dir ist nichts gewöhnlich. Und ich hatte in letzter Zeit einige Probleme mit Körperteilen, die von selbst angefangen haben zu schweben.«
Heather stieß einen Seufzer aus. »Was für Superkräfte hast du sonst noch?«
»Ich höre und sehe extrem gut. Ich bin mir meiner Umgebung besser bewusst. Wusstest du zum Beispiel, dass Fidelia sich hinter den Schals versteckt?«
»Nein. Warum sollte sie das tun?«
Jean-Lucs Mundwinkel zuckten. »Kannst du dir das nicht denken?«
Heather sah nach oben. Über dem Ständer mit den Schals schwebte Robby in seinem blau-grün karierten Kilt. »Lieber Gott. Das ist peinlich.« Zum Glück war Bethany in der Küche und aß Kekse, und Phineas passte auf sie auf.
Mit weiteren Stoffballen bepackt eilte Ian in die Ausstellung. Er bewegte sich so schnell, dass die Umrisse seines Körpers verschwammen.
»Ihr seid extrem schnell und stark«, bemerkte Heather.
»Wir haben auch eine gute Ausdauer.« Jean-Luc lächelte. »Wir halten die ganze Nacht durch.«
Dachte dieser Mann denn wirklich nur an das eine? Was das anging, hatten sich Vampirmänner nicht einen Hauch von ihren sterblichen Anfängen gelöst. »Deine Augen sind ein Nachteil.«
»Warum? Magst du es nicht, zu wissen, wenn du mich erregst?«
»Doch, aber wenn ich je sehe, dass du eine andere Frau ansiehst, und deine Augen rot werden, bekommst du eine Menge Schwierigkeiten.«
Von diesem Standpunkt aus hatte er das noch nie betrachtet. »So habe ich das noch nie gesehen. Glücklicherweise habe ich vor, dir treu zu sein.«
Wie konnte er ihr noch treu sein, wenn sie alt und grau war? Heather seufzte. »Was für Gaben hast du noch?«
»Telepathie. Wir benutzen sie nur selten, weil sie die Privatsphäre verletzt. Jeder Vampir kann die Nachrichten auffangen, die wir übermitteln. Das ist das Problem beim Vampirsex.«
»Bei was?«
»Vampirsex. Jeder Vampir kann sich einklinken und mitmachen.«
Heather verzog das Gesicht. »Das ist eklig.«
Er hob eine Augenbraue. »Vielleicht gefällt es dir.«
»Ich stehe nicht auf Gruppensex.«
»Gut, denn ich will dich auf keinen Fall teilen.«
Zeit, das Thema zu wechseln. »Hast du noch andere Gaben?«
»Gedankenkontrolle. Wir können Gedanken manipulieren oder sie auslöschen.«
Sie erinnert sich an ein Gespräch mit ihm. »Du hast vermutet, Louie könnte Gedankenkontrolle bei jemandem benutzen, der mit der Show zu tun hat. Sogar bei Simone.«
»Es ist möglich, aber mach dir keine Sorgen deswegen. Ich weiche dir nicht von der Seite.«
Wen Louie wohl auswählen würde, fragte sich Heather. Würde sein Opfer sich merkwürdig verhalten und gleich auffallen? »Du meine Güte, was, wenn er sich an Cody vergriffen hat?«
Jean-Luc blinzelte. »Wie bitte?«
»Cody verhält sich merkwürdig, seit Louie aufgetaucht ist. Vielleicht benutzt Louie ihn, um an mich heranzukommen.«
Jean-Luc schüttelte den Kopf. »Nein, das tut er nicht.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein? Cody ist erst letzte Nacht wieder durchgedreht.«
»Er muss schlecht über dich gesprochen haben.«
»Billy hat gesagt, dass er sich über mich ausgelassen hat, aber - woher weißt du das?«
Jean-Luc seufzte. »Er wird manipuliert. Durch mich.«
»Wie kommst du dazu, so etwas zu tun?«
»Er hat schlecht über dich geredet. Er hat es verdient.«
»Er hält sich für eine Schabe.«
»Genau.« Jean-Luc nickte. »Es passt perfekt zu ihm.«
»Das ist nicht deine Entscheidung.«
»Ich habe dich beschützt.«
»Nein.« Wut kochte in ihr hoch. »Du hast mich zu Tode erschreckt. Ich mache mir seit Tagen Sorgen deswegen. Ich musste meinen Anwalt anrufen, um das Besuchsrecht ändern zu lassen.«
»Ich bezahle die Rechnung.«
»Darum geht es nicht! Du hattest kein Recht, dich in mein Privatleben einzumischen.«
»Ich dachte, ich wäre ein Teil von deinem Privatleben.« Er verschränkte die Arme und runzelte die Stirn. »Wenn ich deinen Ex das nächste Mal sehe, lösche ich den Befehl. Er wird dann wieder zu seiner eigenen abstoßenden Persönlichkeit zurückkehren.«
»Danke. Ich glaube es nicht, dass ich mir darüber solche Sorgen gemacht habe, und für dich war das alles nur ein Scherz.«
»Ich habe nicht darüber gelacht, Heather. Ich wollte den Bastard dafür umbringen, wie er dich behandelt hat. Vor hundert Jahren hätte ich es getan.«
Ihre Brust zog sich zusammen und machte ihr das Atmen schwer. Sie fühlte sich... eingesperrt. Erstickt. Sie war noch nicht bereit.
»Alles in Ordnung?« Jean-Luc berührte ihre Schulter. »Dein Herz schlägt so schnell.«
Sie trat einen Schritt zurück. »Ich habe zu sehr um meine Freiheit gekämpft, um sie jetzt einfach wegzuwerfen.« Sie drehte sich um und ging in die Küche, um nach Bethany zu sehen.
****
Diese Reaktion hatte er nicht vorausgesehen. Er wollte Heather nicht verlieren und wusste nicht, was er dagegen tun konnte. Vampire waren es nicht gewöhnt, abgewiesen zu werden. Früher hatte Jean-Luc, wenn er etwas wollte, einfach Gedankenkontrolle benutzt. Die Dame seiner Wahl hatte sich ihm so nie verweigert.
Aber er wollte von Heather kein Blut. Er wollte ihr Herz, und das erwies sich als viel schwieriger zu bekommen. Es widersprach seinem Ehrgefühl, für so etwas Wichtiges Gedankenkontrolle zu benutzen. Sie sollte ihm aus freien Stücken ihr Herz schenken.
Seine alten Methoden der Verführung hatten bei Heather nicht funktioniert. Sie hatte einen eigenen Beruf, ein eigenes Heim, ihre eigene Familie. Sie legte Wert auf ihre Unabhängigkeit, und sie brauchte ihn eigentlich nicht.
Merde. Je mehr sie sich ihm entzog, desto schmerzlicher sehnte er sich nach ihr. In den folgenden Tagen war er mehrmals versucht, sie in sein Schlafzimmer zu zerren und sie exzessiv zu lieben. Er hatte auch überlegt, Vampirsex zu benutzen, um sie zu verführen, während sie schlief, aber auch diesen Einfall hatte er verworfen. Die Sache mit Cody hatte Heather ihm übel genommen. Sie würde es nicht zu schätzen wissen, wenn er mit ihrem eigenen Kopf seine Spiele trieb.
Also blieb ihm nur die absolut langweiligste Vorgehensweise - ein netter Kerl zu sein. Eigentlich fand er sich immer schon irgendwie nett, also war es überraschend, wie hart er dafür arbeiten musste. Immer wieder musste er sich zusammenreißen, um sie nicht mit seinem lüsternen Humor auf den Arm zu nehmen. Immer und immer wieder musste er sich dazu zwingen, sie nicht zu berühren.
Sie vergrub sich in ihrer Arbeit, und am Abend begutachtete er alles, rein geschäftlich natürlich. Er machte höfliche Vorschläge, während er sich vorstellte, wie ihre Kleidung sich einfach so auflöste. Während er sie lobte, dachte er daran, wie sie im Rausche eines massiven Höhepunkts seinen Namen kreischte.
Die Woche verging, und er stellte sich sogar vor, wie in ihrem Körper sein Kind heranreifte. Zur Hölle mit allem, er wollte ein Leben mit ihr beginnen. Er wollte ihr Ehemann sein. Dieses Nettsein war doch für die Katz.
****
Am Freitag war Heather der Verzweiflung nahe. Jean-Luc war ausgesprochen höflich. Er versuchte nicht einmal, sie zu berühren. Unglücklicherweise hatte er auch aufgehört, sie auf den Arm zu nehmen und Scherze zu machen. Er sah sie nicht mehr so an, als sei er jederzeit bereit, sie zu verschlingen. War seine Liebe zu ihr bereits abgekühlt? Unter diesem Aspekt war es vielleicht richtig, sich zurückzuziehen.
Sie war zunächst wütend darüber, dass er ihren Ex in eine Schabe verwandelt hatte, aber als sie sich dann bei Fidelia darüber beschwerte, kugelten sie sich beide vor Lachen.
Heather seufzte. Sie vermisste den alten Jean-Luc. In den letzten Tagen machte es mit ihm überhaupt keinen Spaß mehr. Sogar Fidelia war der Unterschied aufgefallen.
»Armer Jean-Luc«, stöhnte sie. »Er hat seinen Pfeffer verloren. Hilf ihm, ihn wiederzufinden.«
»Wie?«, erkundigte sie sich zögerlich.
»Geh in sein Schlafzimmer, zieh dich aus, und tanz dabei einen Tango.«
»Ich kann keinen Tango tanzen. Geht auch der Cotton Eye Joe?« Heather stellte sich vor, wie sie zu einem Westerntanz einen Striptease hinlegte.
»Ich versuche, dir zu helfen, Chica. Wenn du ihm nicht sagst, dass du ihn liebst, könntest du ihn verlieren. Willst du ihn verlieren?«
Nein. Die Antwort kam ohne Zögern. Nein, sie könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren. »Ich vermisse ihn. Ich vermisse die Gespräche zwischen uns. Ich vermisse seine ständigen Versuche, mich zu küssen oder zu berühren. Ich vermisse das Gefühl, dass ich in seiner Gegenwart verspürt habe.« Sie hatte sich von ihm geliebt gefühlt. Oh Gott, sie vermisste seine Liebe.
Durch intensives Arbeiten versuchte Heather sich abzulenken. Am Freitagmorgen hatte sie das letzte ihrer drei Outfits fertig gestellt. Am Nachmittag kamen ihre Freundinnen aus der Schule zur Anprobe. Alles war schon für die Show am Samstag vorbereitet. Ihre auf zwei Wochen befristete Anstellung würde dann enden. Jean-Luc hatte gesagt, dass sie bleiben konnte, bis ihr Haus wieder bewohnbar war. Fiel es ihm schwer, sie gehen zu lassen? Sie konnte sich nicht vorstellen, ihn zu verlassen und ihr altes Leben wieder aufzunehmen, als sei nichts geschehen.
Ian brach wie üblich gegen sechs Uhr abends zusammen. Sie sorgten immer dafür, dass Bethany sich in der Küche befand, wenn es passierte. Heather hatte ihr erklärt, dass Ian ein besonderer Mensch war, der schneller alterte. Bethany schien das zu akzeptieren, auch wenn sie danach verkündet hatte, dass sie ebenfalls schnell älter werden wollte.
Kurz nach sieben tauchte Sasha auf. Nachdem er sie eine Weile umschwänzelt hatte, passte Alberto ihr das Outfit an, das sie vorführen sollte.
»Heather, deine Entwürfe sind einfach großartig!« Sasha umarmte sie. »Ich freue mich so für dich.«
»Danke.« Heather war überrascht. »Du weißt, dass die für Größe 44 sind?«
»Oh, ich weiß schon. Und ich kann sie vielleicht auch eines Tages anziehen.« Sasha drehte sich im Kreis und strahlte. »Rate mal? Ich höre auf! Und fange wieder an zu essen!«
»Wow. Herzlichen Glückwunsch. Wann hast du das beschlossen?«
»Als ich mich verliebt habe.« Sasha faltete ihre Hände über ihrem Herz zusammen. »Ich habe ihn in San Antonio kennengelernt. Er sieht so unglaublich gut aus. Und er ist reich. Und verrückt nach mir!
»Toll! Wann lernen wir diesen Kerl kennen?«
»Bald. Henry ist so toll. Du wirst ihn einfach lieben. Ich tue es jetzt schon. Kannst du das fassen?« Sasha tanzte regelrecht zur Tür hinaus. »Bis morgen dann!«
Später am Abend, als die Vampire erwacht waren, probierten auch Simone und Inga ihre Kleider an und testeten den Laufsteg. Sie fanden ihn hässlich, aber zur Veranstaltung passend.
In der Zwischenzeit ging Jean-Luc in der Ausstellung auf und ab und organisierte alles Nötige. Die Schaufensterpuppen und Glaskästen waren ins Lager gebracht worden. Der schwarze Laufsteg wurde auf beiden Seiten von zwei Reihen weißer Klappstühle flankiert. Die Seidenbahnen, die von der Galerie im ersten Stock herabhingen, schimmerten schwarz, weiß und grau. Der ganze Raum sah sehr elegant aus.
Jean-Luc blieb neben Heather stehen. »Sind deine Outfits fertig?«
»Ja. Und meine Models waren heute Nachmittag zur Anprobe hier.«
»Gut.« Er ging zu den Seidenvorhängen und wieder zurück. »Du hast gute Arbeit geleistet, drei Outfits in so kurzer Zeit fertigzustellen.«
»Danke.«
Er ging zur Eingangstür, drehte sich um und kam wieder zurück zu ihr. Dann musterte er sie mit einem düsteren Blick. »Ich explodiere gleich.«
Verwirrt schaute sie ihn an. »Wie bitte?«
»Ich ertrage das nicht mehr.«
Wies er sie endgültig zurück? Heathers Herz begann wild zu klopfen. »Mir ist klar, dass du mich nur für zwei Wochen eingestellt hast und dass meine Zeit um ist.«
»Ich spreche nicht von deiner Arbeit. Ich spreche von uns.« Er entfernte sich mit großen Schritten von ihr und kam gleich wieder zu ihr zurück. »Ich habe dich seit fast einer Woche nicht berührt. Ich weiß nicht, wie ich... mich verhalten soll. Ich will dich packen und dich küssen, aber ich will dich nicht erschrecken. Und ich bin es leid, darauf zu warten, dass Lui seinen Zug macht. Du bist hier gefangen, bis ich ihn losgeworden bin.«
»Ich glaube, wir leiden alle an Lagerkoller. Ich bin nervös wegen morgen, aber ich bin auch froh, wenn es endlich vorbei ist.«
»Wenn es vorbei ist, könntest du gehen, wenn du willst.« Er fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Locken. »Akzeptierst du eine Vollzeitstelle?«
Sie blinzelte. »Du bietest mir einen Job an?«
»Ja. Ich will einige deiner Entwürfe verkaufen. Du kannst von New York oder Paris aus arbeiten. Ich helfe dir beim Umzug.«
Heathers Herz machte einen Sprung. Mode entwerfen in New York oder Paris? Davon hatte sie immer geträumt. »Aber wo wirst du währenddessen sein?«
Er ließ sich in einen der Klappstühle fallen. »Ich verstecke mich derweilen hier.«
Sie setzte sich neben ihn. Der Traumjob klang nicht so traumhaft, wenn er nicht dabei war. »Könnte ich auch hier arbeiten?«
»Die Tagwache könnte dich wohl reinlassen.« Misstrauisch sah er sie an. »Du kannst dann immer nach Hause gehen, ehe ich aufwache.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Würdest du das wollen?«
»Nein! Du weißt genau, was ich...« Er lehnte sich in den Stuhl zurück. »Aber ich sollte davon nicht reden. Es wird dich nur wieder abschrecken.«
»Sag es mir. Wenn Louie fort wäre, was würdest du tun?«
»Ich würde dich und deine Familie mit nach New York nehmen. Dort könnten wir in Romans Stadthaus wohnen. Ihr könntet euch bei Tag die Touristenattraktionen ansehen, und dann, nachts...« »Ja?«
»Nachts könnten wir ins Diamantenviertel gehen und dir einen Ring aussuchen.«
Ihr blieb der Mund offen stehen.
»Dann würde ich dich fragen, ob du meine Frau werden willst.«
Träumte Heather?
»Ich wäre Bethany ein guter Vater, und ich würde sehr gerne noch mehr Kinder mit dir haben. Zwei, glaube ich.«
Hatte er schon ihre Colleges ausgesucht? Immerhin wusste er, was er wollte. Sie rang nach Luft.
Er legte den Kopf schief und betrachtete sie. »Was meinst du?«
»Ich glaube, du hast deinen Pfeffer wieder«, flüsterte sie.
»Ist das deine Antwort?« Verwirrung stand in seinem Gesicht geschrieben.
»Nein.« Heather rang die Hände.
»Ich lasse dich lieber allein. Ich habe schon zu viel gesagt. M erde. Wahrscheinlich habe ich dich jetzt endgültig vertrieben.« Er verließ den Raum, so schnell er konnte.
Heathers Herz schlug ihr bis in die Ohren. Lieber Gott, er wollte sie heiraten. Verheiratet mit einem Vampir. Und Kinder.
Vertrieb er sie damit wirklich? Gab es nicht genug andere Dinge, vor denen sie sich fürchten konnte? Morgen war Samstag, der Tag der Modenschau. Und die Nacht, in der sie damit rechnen konnte, von Louie umgebracht zu werden.