19. KAPITEL

 

Jean-Luc saß hinter seinem Schreibtisch und starrte ins Leere. Robby kam immer wieder an ihm vorbei, aber er bemerkte es kaum. Die Stimmen im Zimmer summten wie ein nerviger Schwärm Bienen. Er stand wahrscheinlich unter Schock. In der Schlacht war ihm das noch nie passiert. Diese Lähmung all seiner Sinne kam immer erst, wenn alles vorbei war.

Robby stellte eine Flasche Blissky auf den Tisch, mit der Bitte, er solle sich einen winzigen Schluck genehmigen. Jean-Luc betrachtete die Flasche stumm. Die Mischung aus synthetischem Blut und Whisky würde keine Linderung bringen. Sie würde Pierre nicht wieder zum Leben erwecken. Sie würde die Trauer und die Schuldgefühle nicht beseitigen.

Alle Männer im Raum waren aufgebracht. Sie sprachen mit lauten Stimmen und gestikulierten wild mit den Armen. Er blinzelte, als Robby mit der Faust auf den Tisch schlug. Die Flasche Blissky hüpfte.

»Wie konnte er vergessen, den Truck zu überprüfen?«, brüllte Robby. »Ich dachte, ich hätte ihn besser ausgebildet.«

»Das hast du bestimmt.« Ian nahm einen Schluck aus seinem Glas, das ebenfalls Blissky enthielt. »Du solltest dir selbst keine Schuld geben.«

»Ich hätte selber nachsehen sollen.« Phil ließ sich auf einen Stuhl fallen und drückte seine Handballen gegen seine Schläfen. »Ich kann Sprengstoff riechen. Ich hätte den verdammten Truck untersuchen müssen.«

Das durchbrach den Nebel in Jean-Lucs Verstand. Phil konnte Bomben riechen?

»Pierre hätte es besser wissen müssen«, murmelte Robby, während er im Zimmer auf und ab ging. »Mist!« Er schlug wieder mit der Faust auf den Tisch. Der Blissky wanderte nahe an den Rand der Tischplatte.

Ian griff nach der Flasche und füllte sein Glas auf. »Wo war der BMW?«

»Alberto hatte ihn«, erklärte Phil. »Er ist gegen sieben Uhr zurückgekommen. Hatte ein Date mit diesem Model, Sasha, aber sie hat ihn versetzt. Er war deswegen bestürzt und ist nach San Antonio zum Einkaufen gefahren.«

Jean-Luc lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Er wollte das alles nicht hören. Er wollte bei Heather sein. Wie ging es ihr? War ihr klar, dass die Bombe für sie bestimmt gewesen war? Kämpfte sie allein mit ihrer Angst?

Sobald er von dem Unglück gehört hatte, hatte er versucht, sie zu sehen. Er musste wissen, ob es ihr gut ging. Er musste wissen, ob es Bethany gut ging. Er musste Heather versichern, dass sie beschützt werden würde, und dass Lui für sein Verbrechen sterben musste.

Zwei Schritte in die Küche, und er war vom Lauf einer Glock im Gesicht begrüßt worden. Fidelia hatte ihn höflich gebeten zu verschwinden. Sie empfingen keine Besucher. Es war ihm nur ein kurzer Blick auf Heather vergönnt, die mit ihrer Tochter auf dem Sofa saß. Sie hatte sich geweigert, ihn auch nur anzusehen.

Sie gab ihm die Schuld, daran bestand kein Zweifel. Sie und ihre Familie waren wegen ihm in schrecklicher Gefahr. Und sie war wahrscheinlich wütend, dass er erst drei Stunden nach der Explosion aufgetaucht war. Als sie ihn brauchte, war er tot gewesen. Das gefürchtete Gefühl, machtlos zu sein, überkam ihn wieder. Das war das Schlimmste am Vampirdasein. Diese Machtlosigkeit während des Tages. Wenn Heather ihn wirklich brauchte, war er nicht da.

Jean-Luc öffnete die Augen. »Wie geht es Heather?«

»Sie hat immer wieder gefragt, warum keiner von euch da ist«, antwortete Phil. »Ich habe ihr gesagt, du bist geschäftlich unterwegs, aber sie sah misstrauisch aus. Sie hat darauf bestanden, dass wir die Feuerwehr und den Sheriff informieren. Nachdem das Feuer gelöscht war, wollte der Sheriff, dass sie mit ihm kommt, aber sie hat sich geweigert.«

Gott sei Dank. Jean-Luc atmete tief durch. Hoffentlich bedeutete das, dass sie ihm immer noch vertraute. Oder vielleicht hatte sie nur Vertrauen in Fidelias Waffen. Er stand auf und ging an das Fenster, das auf die Ausstellung hinausführte. »Ich habe es satt, dass Menschen wegen mir sterben.«

»Lui bringt sie um, nicht du«, knurrte Robby. »Ich rufe Pierres Mutter an und...«

»Nein«, sagte Jean-Luc. »Ich mache das.« Und er würde dafür sorgen, dass es Pierres Familie nie an etwas fehlte. »Warum sind wir hier? Wir sollten Heather beschützen.«

»Es geht ihr gut«, sagte Robby. »Phineas passt auf sie auf. Und du weißt, wenn Lui sich ins Gebäude teleportiert, geht der Alarm los. Wir würden ihn sofort übermannen.«

Jean-Luc ging unruhig auf und ab. »Wir brauchen einen Plan. Wir brauchen mehr Wachen.«

»Ich habe schon Verstärkung angefordert«, versicherte ihm Robby. »Leider benutzt Angus gerade jeden freien Mann auf der Jagd nach Casimir.«

»Jetzt bin ich tagsüber allein.« Phil beugte sich vor und setzte seine Ellenbogen auf seine Knie. »Es sei denn, man rechnet Fidelia und ihre Waffen mit.«

»Ich kann dir helfen.« Ian zog eine kleine Flasche aus seinem Sporran. »Roman hat mir ein paar davon mitgegeben. Es ist die Formel, die es uns erlaubt, tagsüber wach zu bleiben.«

Robby ging näher zu ihm, um sich die grünliche Flüssigkeit anzusehen. »Ich dachte, Roman hätte das Zeug verbieten lassen.«

»Das dachte ich auch«, sagte Jean-Luc. »Jeden Tag, an dem er es benutzt hat, ist er um ein Jahr gealtert.«

»Aye, das ist er.« Ian hob sein Kinn. »Aber ich habe mich freiwillig gemeldet, es für ihn zu testen.«

Jean-Luc runzelte die Stirn. »Ich verstehe, dass du älter aussehen willst, aber ich will nicht, dass du solche Selbstversuche durchführst.«

»Ich brauche keinen Aufpasser, Jean-Luc.« Ian ließ die Flasche zurück in seinen Sporran fallen. »Ich bin vierhundertundachtzig Jahre alt. Ich kann meine verdammten Entscheidungen allein treffen.«

Jean-Luc seufzte. Er konnte Ian nicht verbieten, die Lösung zu benutzen, aber es gefiel ihm trotzdem nicht. »Gab es Nebenwirkungen?«

»Romans Haare sind an den Schläfen grau geworden, das ist alles«, murmelte Ian. »Ich mache es. Ihr könnt mich nicht abhalten.«

»In Ordnung.« Jean-Luc setzte sich auf die Ecke seines Schreibtischs. »Wir müssen das Gebäude komplett abriegeln.«

»Ich stimme zu.« Robby ging wieder auf und ab. »Wir sollten dafür sorgen, dass sie zusammenbleiben. So kann man leichter auf sie aufpassen.«

Jean-Luc nickte. »Wir müssen die Wohltätigkeitsschau absagen.« Er wusste, dass Alberto und Heather deswegen enttäuscht sein würden, aber er ging lieber auf Nummer sicher. »Lui würde auf jeden Fall dort zuschlagen.«

Robby blieb stehen. »Vielleicht sollten wir ihn lassen.«

Jean-Luc schüttelte den Kopf. »Ich will Heather nicht als Köder missbrauchen.«

»Wir bleiben dicht bei ihr und beschützen sie«, sagte Robby fest. »Ist dir die Alternative lieber? Dass wir uns hier wie eine Herde verängstigter Schafe einschließen?«

»Wir halten weiter nach ihm Ausschau«, verkündete Jean-Luc. »Fidelia hat herausgefunden, dass er sich in der Chicken Ranch versteckt hielt. Vielleicht kann sie ihn noch einmal ausfindig machen.«

»Das hat sie vorhin versucht«, sagte Phil. »Ehe ihr aufgewacht seid. Sie war so bestürzt wegen Pierre, dass sie geschworen hat, Lui selbst zu finden und ihn mit Kugeln abzufüllen. Ich habe ihr sein Schwert und seinen Stock gegeben.«

»Was hat sie gesehen?«, fragte Jean-Luc.

»Nichts.« Phil zuckte mit den Schultern. »Sie hat gesagt, dass er verschwunden ist. Er war zu weit weg, um ihn zu orten.«

Jean-Luc ging auf und ab und verarbeitete diese Information. Konnte Lui wirklich verschwunden sein? Hatte es seinen Rachedurst gestillt, die Museumskuratorin und Pierre umzubringen? Dieser Mann hatte Heather und ihn bedroht. Er hatte sogar behauptet, dass Casimir ihm ein kleines Vermögen bezahlte, damit er Jean-Luc umbrachte. »Er kann nicht verschwunden sein. Er ist noch nicht fertig.«

»Ich bin deiner Meinung.« Robby setzte sich mit gerunzelter Stirn hin. »Er mag sich für ein paar Tage zurückziehen, aber nur, um uns in falscher Sicherheit zu wiegen.«

Jean-Luc nickte. »Er kommt zurück. Genau wie in der Nachricht, die er uns in Blut hinterlassen hat. Er wird den Zeitpunkt wählen, zu dem er sich uns stellt.«

»Wir sollten hierbleiben«, schlug Phil vor. »Dann muss er sich uns hier stellen.«

»Und wir wären für ihn bereit.« Ian schmälerte seine Augen. »Ich wette, er kommt in der Nacht der Modenschau.«

»Wir wissen nicht einmal, wie er aussieht«, erinnerte Jean-Luc sie. »Und er könnte jeden, der an der Show beteiligt ist, sogar jeden Zuschauer, mithilfe seiner Gedanken kontrollieren. Jeder könnte der Attentäter sein.«

»Dann beschränken wir die Anwesenheit auf einige wenige«, schlug Ian vor.

Jean-Luc ging weiter auf und ab. Der einzige Weg, Lui loszuwerden, war, sich ihm zu stellen. Er konnte Heather beschützen. Er würde sie nie aus dem Blick lassen. »In Ordnung. Dann bringen wir ihn am Abend der Wohltätigkeitsmodenschau um.«

****

Heather lag wach im Bett und starrte die Decke an. Ihre Augen brannten vor Erschöpfung, aber sie wollte sie nicht schließen. Jedes Mal, wenn sie es tat, zeigten ihre Gedanken ihr das gleiche grausame Bild - ihr Truck in Flammen, und Pierre darin.

Sie wünschte, sie könnte das Bild aus ihrer Erinnerung löschen. Oder die Zeit zurückdrehen, damit Pierre noch am Leben war. Oder sie noch weiter zurückdrehen, damit auch Mrs. Bolton noch lebte. Wie anders wäre alles geworden, wenn sie letzten Freitag getan hätte, was Jean-Luc ihr gesagt hatte. Wenn sie einfach weggerannt wäre. Aber sie hatte versucht, mutig zu sein, und Jean-Luc zu retten. Jetzt blieb ihr keine andere Wahl, sie musste sich der Wahrheit stellen. Die Bombe war für sie bestimmt gewesen.

Es durfte niemand mehr sterben. Sie musste mutig sein, vorsichtig und klug. Warum sollte sie sich nur darauf verlassen, dass Jean-Luc und seine Wachmänner sie und Bethany beschützten? Offensichtlich waren sie nicht unfehlbar.

Fidelia hatte ihre Waffen, und sie war bereit, sie zu benutzen. Heather musste genauso stark sein. Möglicherweise bestanden ihre Waffen aus Wissen. Auch Profis waren bestens informiert, wenn sie in den Krieg zogen. Sie sammelten vorher Informationen.

In der Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein, setzte sie sich im Bett auf. Es war Zeit, diesem Ort einige seiner Geheimnisse zu entlocken. Immerhin ging es hier um ihr Leben. Die hatten kein recht, sie im Dunkeln zu lassen. 1485. Würden diese Nummern ihr Zutritt zum Keller verschaffen?

Sie sah auf den Wecker. 03 Uhr 23 am frühen Morgen. Sie schlüpfte aus dem Bett und fragte sich, ob sie etwas anderes anziehen sollte. Nein, das würde zu lange dauern, und die Geräusche könnten Fidelia und Bethany aufwecken. Sie würde den blau-gelben Pyjama mit Tweety drauf, den sie beim Lagerverkauf mitgenommen hatte, anbehalten.

Ein Blick in den Flur zeigte, dass er verlassen war. Früher am Abend hatte Phineas vor ihrer Tür Wache geschoben, und sie hatte auch gehört, wie die Leute in Jean-Lucs Büro ein- und ausgegangen waren. Jetzt war alles still.

Sie bemerkte die Kamera über der Bürotür. Wenn sie daran vorbei zur Hintertreppe ging, könnte es sein, dass die Wachen sie dabei sahen. Ehe sie auch nur in die Nähe des Kellers gekommen war, wäre ihr Versuch schon vereitelt.

Sie quetschte sich durch die Tür und ging auf Zehenspitzen in die andere Richtung. Ihre nackten Füße machten keine Geräusche auf dem weichen Teppich. Der Korridor bog scharf nach rechts ab und führte auf die Galerie am hinteren Ende der Ausstellung.

Mondlicht fiel durch die hohen schwarzen Fenster und warf lange graue Schatten auf den Marmorfußboden. Die Schaufensterpuppen hielten ihre Posen. Ihre bloßen Arme glänzten weiß und nackt. Über ihr gab es zwei Kameras, aber sie waren auf den Raum unter der Galerie gerichtet. Die Galerie selbst war von hüfthohen Mauern begrenzt.

Sie duckte sich, damit man sie nicht sehen konnte, und eilte über die Galerie. Er endete an der Hintertür des Designstudios. Sie gab 1485 in das Nummernfeld ein und spürte eine kurze Welle der Aufregung, als die Tür sich öffnete. Geräuschlos schlüpfte Heather hinein.

Im Studio war es dunkel, bis auf einige Mondstrahlen, die durch die französischen Türen hineinfielen. Sie ging leise die Wendeltreppe hinunter. Die Stufen aus Metall fühlten sich an ihren nackten Fußsohlen eiskalt an. Sie schlich sich durch das Studio, immer in den dunklen Schatten an der Wand entlang, und hoffte, dass die Kameras sie nicht erwischten.

Nur einen Spaltbreit öffnete sie die Tür und spähte dann auf den Flur hinaus. Die Kellertür befand sich am Ende des Korridors. Und am anderen Ende, in der Nähe der Ausstellung, befand sich eine Kamera.

Verdammt. Die konnte sie nicht umgehen. Aber sie war zu weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Wenn sie rannte, konnte sie in sechs Sekunden an der Kellertür sein.

Sie atmete tief durch und sprintete los. Mit zitternden Fingern gab sie 1485 ein. Die Tür öffnete sich. Ihr Herz machte einen Sprung.

Sie trat ein, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Ein schwaches Licht beleuchtete eine schlichte Treppe. Nackte Wände, Zementstufen und ein Metallgeländer lagen vor ihr. Irgendwo hallte leise eine gespenstische Musik. Sie atmete tief durch, um ihr pochendes Herz zu beruhigen.

So weit, so gut. Immerhin begrüßte sie kein schwarzer Mann, der in den Ecken lauerte und seine Kettensäge schwang. Sie trat ans Geländer vor und sah die Treppe hinab. Jede Stufe wurde von einem roten Licht beleuchtet. Sie ging die Zementstufen bis zu einem Absatz hinunter, drehte sich um, und ging noch eine kurze Treppe hinab. Der Zement fühlte sich unter ihren Füßen kalt und rau an. Sie kam an eine einfache Holztür, die sich leicht öffnen ließ. Die Musik wurde lauter.

Es waren wieder Klavier und Cembalo. Die Melodie war langsam, wunderschön, und schrecklich traurig. Heather spürte die Trauer. Es war die Trauer um Pierre.

Plötzlich kam sie sich wie ein Eindringling vor. Diese Leute hatten ihn seit Jahren gekannt. Sie selbst kannte ihn erst seit ein paar Tagen. Kurz überlegte sie umzukehren, doch ein Blick in den Flur ließ sie erstarren.

Sie öffnete die Tür ein Stück weiter und sperrte den Mund vor Erstaunen weit auf. Nach dem kargen Treppenhaus hatte sie eine spartanische Umgebung erwartet, aber... was sie sah, war opulent. Der Flur war breit genug, um zu fünft nebeneinanderzugehen, und der Boden war mit einem wunderschönen, handgeknüpften Teppich bedeckt, der weich und wollig unter ihren Füßen nachgab. Er war tiefrot mit goldenen Fleur-de-Lys in einem Gittermuster darauf verstreut. Ein weiteres Muster aus goldenen und elfenbeinfarbenen Rosen formte den breiten Rand des Teppichs.

Der Flur wurde von goldenen Wandleuchtern erhellt, jeder behängt mit Tropfen aus Bleikristall. Sogar die Decke war wunderschön - elfenbeinfarben mit aufwendigen, vergoldeten Stuckarbeiten. Auch die Türen waren elfenbeinfarben mit goldenen Holzschnitzereien. Zwischen den Türen standen aufwendig gearbeitete Truhen und reich verzierte Schränke. Antiquitäten, nahm Heather an, und wahrscheinlich schrecklich teuer.

Sie schlich leise den Gang hinab, vorbei an Ölgemälden, die eher in ein Schloss gehörten. Die Musik wurde lauter. Sie kam aus einem Zimmer, dessen Doppeltür weit geöffnet war und in den Gang hinausragte.

Sie schlüpfte hinter einen der Türflügel. Durch den Spalt am Türrahmen sah Heather das Klavier. Es war ein alter Stutzflügel mit goldenen Beschlägen. Eine Frau spielte. Ihr langes blondes Haar hing offen über ihrem Rücken. Inga.

Eine weitere Frau bewegte sich durch den Raum und versperrte Heather die Sicht. Es war Simone, die etwas altertümlich zu tanzen schien. Ein Menuett? Sie glitt zur Seite, und Heather sah das Cembalo. Jean-Luc? Sie hielt den Atem an, wendete sich ab und presste den Rücken an die Wand.

Jean-Luc spielte das Cembalo! Sie stand einfach nur da und hörte der melancholischen Musik zu. Er war wirklich ziemlich gut. Aber warum sollte ein moderner Mann so ein altes Instrument spielen? Je mehr sie über ihn erfuhr, desto mehr Sinn ergab ihre Unsterblichkeitstheorie.

Die traurigen Takte erfüllten ihr Herz und offenbarten ihr sein Leid. Sie hätte früher am Abend mit ihm reden sollen. Sie hätte ihn trösten müssen. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich selbst die Schuld gab. Er war ein ehrbarer Mann mit einem ausgeprägten Sinn für Verantwortung. Ein altmodischer Typ. Und vielleicht gab es einen guten Grund dafür, altmodisch zu sein.

Ja, sie wollte ihn vorhin tatsächlich nicht sehen. Jedes weitere Gefühl, egal welcher Art, hätte sie über den Abgrund gestoßen. Sie hatte sich zurückziehen müssen, damit sie eine Weile allein sein konnte.

Die Musik trieb ihr Tränen in die Augen. Er war ein so unglaublicher Mann. Wie konnte sie sich nicht in ihn verlieben? Fechtchampion, Modedesigner, Musiker. Unglaublich guter Küsser. Wenn er allerdings unsterblich war, hatte er auch Jahrhunderte Zeit gehabt, seine Talente auszubilden.

Sie ging auf Zehenspitzen den Flur hinab und fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte. Sollte sie ihn konfrontieren? Vielleicht. Aber nicht, solange Simone und Inga bei ihm waren.

Die Musik verstummte. Sie drehte sich um, fürchtete plötzlich, entdeckt worden zu sein. Aber nein, der Flur war immer noch leer. Sie hörte ein klickendes Geräusch am anderen Ende des Korridors. Die Tür wurde geöffnet.

Sie hechtete hinter einen hohen Schrank und presste sich gegen die Wand. Schritte, deren Geräusche vom dicken Teppich fast verschluckt wurden, näherten sich.

»Robby!«, riefen die Frauen. »Du musst bleiben und mit uns tanzen.«

Er musste ins Musikzimmer gegangen sein. Konnte sie es bis zum anderen Ausgang schaffen, ehe er wieder herauskam? Er redete so leise, dass sie ihn nicht verstehen konnte.

Ihre Aufmerksamkeit wurde von einem Ölgemälde beansprucht, das ihr rechts gegenüber hing. Auf jeden Fall antik. Der Mann darauf trug schwarze Stulpenstiefel, Kniehosen und Weste in kastanienbraun, und ein weißes Hemd mit einem breiten Spitzenkragen. Ein kurzes Samtcape hing lässig über seiner Schulter. Er trug einen Degen an der Seite, die Spitze auf den Boden gesetzt, und er hatte eine Hand leicht auf den verzierten Griff gelegt.

Heather lächelte. Er sah wie einer der drei Musketiere aus. Oder wie ein Pirat, nur dass er dafür zu sauber und gut angezogen war. Sein langes schwarzes Haar fiel ihm lockig auf die Schultern, und an seinem breiten Hut hingen zwei Federn - eine weiß, eine kastanienbraun. Ein modischer Typ. Hübsche blaue Augen.

Ihr Herz hörte für einen Augenblick auf zu schlagen. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme. Lieber Gott, sie kannte diese Augen. Sie hatte diese Lippen geküsst.

Es stimmte. Er war wirklich unsterblich.

»Danke für die Warnung«, kam Jean-Lucs Stimme aus dem Musikzimmer. »Ich kümmere mich um sie.«

Ihr Atem stockte. Redete er über sie? Oh Gott, sie kamen aus dem Musikzimmer. Es war zu früh. Sie brauchte noch Zeit, um die neue Wirklichkeit zu akzeptieren. Es gab wirklich unsterbliche Menschen. Sie öffnete die nächstgelegene Tür und schlüpfte hindurch.

Im Zimmer war es, bis auf einen schmalen Lichtstrahl zu ihrer Linken, vollkommen dunkel. Als ihre Augen sich daran gewöhnt hatten, erkannte sie einige Möbelstücke - einen Schrank, einen Ohrensessel und eine Ottomane neben einem Tisch und einer Lampe. Der größte Umriss im Zimmer war unverwechselbar. Das Bett war groß und dunkel. Das Kopfende reichte halb zur Decke.

Toll, im Schlafzimmer von irgendjemandem entdeckt zu werden war genau, was ihr noch gefehlt hatte. Der Lichtstrahl machte sie neugierig. Sie ging darauf zu und spürte die kühle Glätte eines Holzfußbodens unter ihren Sohlen. Als sie ans Fußende des Bettes kam, trat sie auf einen flauschigen Teppich. Handgeknüpfte Wolle im Aubusson-Stil.

Das trübe Licht drang durch eine Flügeltür, die ein Stück offen stand. Sie öffnete die Tür weiter und sog scharf die Luft ein.

Es war das schönste Badezimmer, das sie je gesehen hatte. Marmorfußboden und Anrichten glänzten in einem dumpfen, rosigen Beige. Reich verzierte goldene Armaturen ragten über zwei Muschelbecken. Die Dusche war riesig und mit drei Duschköpfen ausgestattet. Aber am auffälligsten war der große Whirlpool in der Mitte des Raumes. Er war rechteckig, und in jeder Ecke stand eine Marmorsäule. Auf den Säulen ruhte eine goldene Kuppel. Marmorstufen führten zum Becken hinauf.

Sie erklomm einige Stufen und spähte hinauf unter die Kuppel. Sie war wie ein Sommerhimmel bemalt, mit Sonnenschein und weißen, wattigen Wolken. Während sie nach oben starrte, wurde der Himmel heller. Nein, der ganze Raum wurde heller. Sie drehte sich langsam um.

Jean-Luc stand in der Tür, die Hand noch auf dem Lichtschalter.

Sie musste schlucken. Wenigstens sah er nicht wütend aus. »Hi. Ich weiß, ich sollte nicht hier sein, aber...«

»Gefällt es dir?« Er deutete auf die riesige Badewanne.

»Ich - ja. Es ist... sehr schön. Ich meine, fantastisch, eigentlich.«

»Sie eignet sich gut zum Entspannen. Du kannst sie benutzen, wann immer du magst.«

»Ist das... deine Wanne?«

Er nickte und sah dann über die Schulter. »Mein Schlafzimmer.«

»Oh.« Von allen Schlafzimmern der Welt, in die man stolpern konnte...

»Geht es dir gut?«, fragte er. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

»Es geht mir gut.« Er schien nicht wütend zu sein, weil sie herumgeschnüffelt hatte. Aber er sah blass und besorgt aus. »Das mit Pierre tut mir so unendlich leid.«

Sein Blick schien in die Unendlichkeit zu gehen. »Mir auch.«

Der arme Kerl litt wirklich. Sie ging langsam die Stufen zum Marmorboden hinunter. »Es ist spät. Ich sollte wieder gehen.«

»Nein.« Er sah sie an. »Wir müssen uns unterhalten.«

Wollte er ihr jetzt die Wahrheit gestehen, ihr sagen, dass er unsterblich war?

»Woher hast du die Kombination für das Nummernschloss?«, fragte er.

»Von Alberto, aber er hat nur versucht, zu helfen. Er hat nicht erwartet, dass ich mich... hier herunterschleiche.«

Jean-Luc hob einen Mundwinkel, auch wenn sein Lächeln immer noch traurig aussah. »Er unterschätzt dich.«

»Ich habe das Bild im Korridor gesehen. Den Musketier.« Sie wollte sagen: dich, aber das Wort blieb ihr im Hals stecken.

»Heather.« Er trat auf sie zu, und sie wich zurück. Er blieb stehen, und ein schmerzerfüllter Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Ich würde dir niemals wehtun.«

»Ich weiß. Aber es ist alles irgendwie so... merkwürdig.«

»Ich würde alles tun, um dich und Bethany zu beschützen. Bei mir seid ihr sicher.« Er deutete auf sein Schlafzimmer. »Komm und setz dich. Wir müssen uns unterhalten.«

Sie ging an ihm vorbei ins Schlafzimmer. Es war nicht mehr ganz so dunkel, und sie konnte sehen, dass auf dem Bett eine Tagesdecke aus kastanienbraunem Samt lag. Auch der Ohrensessel und die Ottomane, auf deren Rand sie sich setzte, waren kastanienbraun.

Er lehnte die Badezimmertür an, wodurch das Schlafzimmer dunkler wurde. Dann ging er zu seinem Bett und setzte sich ans Fußende. »Da ist etwas, dass ich dir erzählen wollte. Möglicherweise wirst du Schwierigkeiten haben, mir zu glauben.«

Mit einem tiefen Atemzug bereitete sich darauf vor, ins tiefe Wasser zu springen. Der Angst den Krieg erklärt, erinnerte sie sich selbst. »Ist schon in Ordnung. Ich kenne dein Geheimnis bereits.«