13. KAPITEL

 

Heather stand vor ihrem neuen Zuhause und fand, dass es eher einem Museum als einer Boutique glich. Griechische Steinsäulen streckten sich hinauf zum hohen Satteldach. Nahe an der Veranda stand ein Schild, auf das in einer schönen, kursiven Schrift Le Chique Echarpe gepinselt worden war.

»Es ist groß«, flüsterte Bethany.

»Und teuer«, fügte Fidelia hinzu. »Juan muss sehr reich sein.«

»Er heißt Jean!« Heather stockte der Atem bei der Erinnerung, wie Jean-Luc mit ihr die Aussprache geübt hatte.

Den Stock in der rechten Hand, stand er an der Eingangstür zu seinem Laden und sprach mit Phil und einem anderen Mann, der genau wie Phil angezogen war. Anscheinend waren Khakihosen und ein dunkelblaues Polohemd die offizielle Uniform der Wache. Die zwei Männer verschwanden mit Heathers Einkaufstüten vom Lagerverkauf im Gebäude.

Jean-Luc stieg die Stufen hinab und ging zu Heather, die auf der kreisförmigen Auffahrt wartete. »Phil und Pierre bringen die Tüten in euer Zimmer.« Er sah sich auf dem Grundstück um. »Drinnen seid ihr sicherer, wenn die Alarmanlage an ist.«

»Ich zeig dir, was sicher ist.« Fidelia stellte ihre Handtasche auf die Motorhaube des BMW und zog ihre Glock heraus. »Wenn Louie auftaucht, bin ich für ihn bereit. Wo ist bloß der verdammte Schlüssel für den Abzug?« Sie kramte in ihrer Handtasche.

»Pierre ist der andere Wachmann?« Sich an Namen zu erinnern, war noch nie Heathers Stärke, und in den letzten zwei Tagen hatte sie eine Menge neuer Leute kennengelernt.

»Oui. Von der Tagwache.« Jean-Luc klopfte mit seinem Stock ungeduldig auf die gepflasterte Auffahrt. »Wir sollten jetzt hineingehen.«

»Ich habe gehört, dass wir Besuch bekommen«, sagte eine Stimme von der Tür her.

Heather drehte sich um und erkannte den Sprecher. Mit ihm hatte Sasha Freitagnacht »geredet«. Alberto Alberghini. Er war flankiert von den beiden wunderschönen Models, die Sasha zum Lästern animiert hatten. Heather konnte sich nicht an ihre Namen erinnern, aber sie erinnerte sich an die Gerüchte um die beiden und Jean-Luc. Wenigstens hingen sie an Alberto und nicht an ihm. Trotzdem, als der junge Italiener sie die Stufen hinabführte, wünschte sie sich, dass sie über ihre langen Abendroben stolpern würden.

Eifersucht, rügte sie sich selbst. Was für ein hässliches Gefühl. Es wäre leichter zu ertragen, wenn die zwei Frauen nicht so verdammt makellos wären: perfekt blasser Teint, perfekt aufgetragenes Make-up, perfekt proportionierte Körper. Zusammen sahen sie noch atemberaubender aus, weil jede das Gegenteil der anderen war.

Eine hatte langes schwarzes Haar und dunkle, mandelförmige Augen. Sie trug ein elegantes schwarzes Kleid aus Satin, das im Mondlicht schimmerte, genau wie ihr perfekter Vorhang aus schwarzen, seidigen Haaren. Das Haar der anderen fiel in silberblonden Locken ihren Rücken hinab. Ihre Augen waren durchsichtiges Eisblau. Ihre Haut war so blass wie ihr weißes, glänzendes Kleid.

»Ist sie eine Prinzessin?«, flüsterte Bethany.

Die zwei Models sahen das kleine Mädchen an, ohne dass sich auf ihren perfekten Gesichtern etwas regte. Ihre Augen wanderten über Heather und Fidelia und blieben dann auf Jean-Luc haften.

Es war offensichtlich, dass sie bei den beiden durchgefallen waren.

Jean-Luc deutete auf das Model im schwarzen Kleid. »Das ist Simone.« Seine Hand wanderte zu der Frau in Weiß. »Und Inga.«

»Schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Heather Westfield, und das ist meine Tochter Bethany.«

»Aha!« Fidelia zog gerade ein Schlüsselbund aus ihrer Tasche, dann fiel ihr Blick auf Inga und sie erschrak. »Santa Maria, Mädchen, iss ein paar Tacos. Und leg dich mal in die Sonne. Du siehst wie ein dürres Gespenst aus.«

Die Blonde sah sie ausdruckslos an und wendete sich dann ab.

Simone starrte Jean-Luc an. In ihren dunklen Augen kochte die Wut. »Sie sind unter deiner Würde.«

Ohne etwas zu erwidern, starrte Jean-Luc angestrengt zurück.

Heather fragte sich, wie lange dieser Blinzelwettbewerb dauern sollte. Bethany gähnte. Fidelia fluchte leise auf Spanisch, während sie sich am Abzugschloss zu schaffen machte.

Endlich senkte Simone ihren Blick. Sie verbeugte sich leicht, wie um ihre Niederlage einzugestehen. Als sie sich aufrichtete, bedachte sie Heather mit einem Blick aus abgrundtiefer Verachtung.

Ingas kalte Augen streiften Heather wie ein kühler Wind und blieben dann auf Jean-Luc gerichtet. »Es sieht dir nicht ähnlich, so schlechten Geschmack zu beweisen.« Sie drehte sich auf der Stelle um und ging die Treppe hinauf. Simone blieb neben ihr, und Alberto dackelte hinterdrein.

Heather zog die Schultern zusammen und ließ ihre Hände in die Taschen ihrer abgeschnittenen Jeans gleiten. »Das war ja ein spitzenmäßiges Empfangskomitee.«

Jean-Luc presste die Lippen zusammen. »Sie sind es nicht gewohnt, sich mit...«

»... Dorftrotteln abzugeben?«, unterbrach ihn Heather.

»Hab es!« Fidelia zog das Schloss von ihrer Glock und wirbelte zur Eingangstür herum. »Verdammt, zu spät. Ich wollte auf Prinzessinnenjagd gehen. Mir eines von ihren albernen Krönchen über den Kamin nageln.«

»Lass dich von ihnen nicht ärgern«, beruhigte Jean-Luc sie. »Sie sind nur wegen der Wohltätigkeitsveranstaltung in zwei Wochen hier. Danach sind sie wieder verschwunden. Alberto auch. Sie gehen alle zurück nach Paris.«

Er wirkte darüber so traurig, dass Heather nicht anders konnte, als sich zu fragen, warum er überhaupt in Texas war. »Warum hast du Paris verlassen?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

Darauf würde sie wetten. Sie fragte sich auch, wie nahe genau er diesen Models aus der Hölle stand. »Kennst du Simone und Inga schon lange?«

»Ja.« Er ging die Treppe hinauf und winkte, damit sie ihm folgten. »Kommt. Drinnen ist es sicherer.« Er wartete an der Eingangstür und sah mit zusammengekniffenen Augen über das Grundstück.

»Glaubst du, dass Louie hierherkommt?« Heather führte ihre Tochter die Treppe hinauf.

»Niemand kann sagen, was er als Nächstes tun wird.« Jean-Luc hielt die Tür auf. Fidelia und Bethany gingen hinein, aber Heather blieb noch auf der Veranda stehen.

»Simone und Inga, sind sie... nur deine Models?«

»Ja.« Was für eine charmante Frage, dachte Jean-Luc geschmeichelt. »Machst du dir Sorgen, Chérie?«

»Nein. Alles in Ordnung.« Sie war bloß eine eifersüchtige Lügnerin, das war alles. Sie betraten das elegante Foyer, das in die Ausstellung des Ladens führte. »Fidelia, mach das Schloss wieder an deine Waffe. Ich glaube, du wirst mit mir und Bethany in einem Zimmer schlafen.« Sie sah Jean-Luc fragend an.

»Ja. Leider gibt es nur ein Gästezimmer hier oben.« Er zog die Eingangstür hinter sich zu und verriegelte sie. Danach gab er noch eine Zahl in ein Nummernfeld in der Wand ein.

Nur ein Gästezimmer? »Dann wohnen Simone und Inga nicht hier?«

Jean-Luc runzelte die Stirn. »Doch, sie sind hier untergebracht. Alberto und alle Wachen ebenfalls.« Er deutete nach rechts. »Soll ich euch herumführen?«

»Okay.« Heather hatte den Verdacht, dass er versuchte, das Thema zu wechseln.

»Guckt mal, die große Treppe!« Bethany staunte über die Freitreppe, die rechts in der Ausstellung begann und sich elegant zu einer Galerie im ersten Stock emporschwang, von der aus man die ganze Ausstellung überblicken konnte. »Ist unser Zimmer da oben?«

»Ja. Aber zuerst will ich euch zeigen, wo deine Mutter arbeiten wird.« Jean-Luc führte sie zu einem Korridor, der unter der Kurve der Freitreppe begann.

Heather nahm Bethanys Hand und folgte ihm. Hier lebten eine Menge Leute. Wo schliefen die bloß alle?

»Ich nehme an, das Schlafzimmer liegt im Erdgeschoss?«

»In diesem Stockwerk gibt es keine Schlafzimmer.« Jean-Luc ging den Korridor hinab, der die rechte Seite des Hauses vom Rest abtrennte. An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotografien von Models, die alle Haute Couture von Jean-Luc Echarpe trugen.

Er deutete auf mehrere Türen an der rechten Wand, während sie an ihnen vorbeigingen. »Damenwaschräume, Herrenwaschräume, Konferenzzimmer.« Auf der linken Seite des Ganges gab es nur eine Tür. »Hier ist das Design-Studio.« Er blieb vor der großen Doppeltür stehen und gab eine Nummer in eine Tastatur ein.

Heather konnte nicht an ihm vorbeischauen. »Wenn ich hier arbeiten soll, sollte ich dann nicht die Kombination kennen?«

Seine Antwort kam zögerlich. »Alberto kennt sie.« Er öffnete die Tür.

Wollte er ihr die Kombination nicht anvertrauen? Heather betrat das Studio mit gerunzelter Stirn. »Wird Alberto auch hier arbeiten?«

» Oui. » Jean-Luc schaltete das Licht an.

Bethany quietschte erstaunt. »Es ist so groß!«

Auch Fidelia war beeindruckt. »Gigantisch.«

»Ja, das ist es.« Heather sah sich um. Von dem Kampf Freitagnacht waren keine Anzeichen mehr zu sehen. Die zerschmetterte Schaufensterpuppe war weggeräumt worden.

Jean-Luc deutete auf die Wendeltreppe in der linken hinteren Ecke. »Die führt auf die Galerie über der Ausstellung. Das ist eine Abkürzung zu eurem Schlafzimmer oben.«

»Verstehe. Können wir jetzt dort hingehen? Bethany ist wirklich müde.«

Er zögerte, neigte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. »Es wird bald fertig sein. Kommt, ihr solltet noch wissen, wo die Küche ist.«

Heather folgte ihm den Korridor hinab und bemerkte eine Tür am unteren Ende des Ganges. »Ist das ein Ausgang?«

Er sah zu der Tür. »Die führt in den Keller. Dort habt ihr nichts zu suchen.« Er ging rasch in die andere Richtung weiter und zurück in den Ausstellungsraum. »Wir werden den Laden für die Öffentlichkeit schließen. Das ist sicherer.«

Sie folgten ihm in die Ausstellung.

Fidelia hielt vor einem hohen Glasregal an, in dem Handtaschen standen, die aus Jean-Lucs Markenzeichen, einem Stoff, der mit Fleur-de-Lys bedruckt war, gemacht waren. »Ich könnte eine größere Handtasche für alle meine Pistolen gebrauchen.«

»Du kannst haben, welche du willst«, bot Jean-Luc ihr an, während sie auf den linken Korridor zugingen.

Heather sah Fidelia missbilligend an, aber das Kindermädchen grinste nur zurück.

»Darf ich auch eine Handtasche haben?«, fragte Bethany.

»Nein!« Heather verzog das Gesicht bei dem Gedanken, dass eine Vierjährige eine achthundert Dollar teure Handtasche mit sich herumschleppte.

Als sie den Korridor betraten, der die linke Seite des Hauses abtrennte, deutete Jean-Luc auf die erste Tür. »Das ist das Büro der Sicherheitsleute. Wenn ihr Hilfe braucht, solltet ihr euch an sie wenden.«

»Verstehe.« Heather bemerkte auch neben dieser Tür ein Nummernfeld.

»Lagerräume.« Jean-Luc zeigte nach links. »Albertos Büro.« Er blieb vor einer Tür in der rechten Wand stehen. »Das ist die Küche. Ihr könnt sie so viel benutzen, wie ihr wollt.« Er öffnete die Tür und trat zur Seite, damit sie alle den Raum betreten konnten.

Es war mehr als eine einfache Küche. Der Raum war ausgestattet mit einer kleinen Essecke und einem Sitzbereich mit gemütlicher Couch, Sesseln und einem Fernseher. Dahinter befand sich eine Waschküche mit Waschmaschine und Trockner. Heather schlenderte in die Küche und bewunderte die makellosen Einbaugeräte, die alle wie neu funkelten. In den Schränken befanden sich hübsche Gläser und Steingutgeschirr.

»Ich liebe diese toskanischen Teller«, sagte sie. »Ich wollte mir schon welche beim Lagerverkauf mitnehmen. Wo hast du deine her?«

Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. »Aus der Toskana.«

»Oh, klar.« Ihre Wangen wurden warm. Wie konnte sie vergessen, dass die Reichen in einer anderen Welt lebten.

Im Kühlschrank aus rostfreiem Stahl befand sich nichts außer ein paar Krabbenküchlein und Windbeuteln mit Käsecreme, zusammen mit drei ungeöffneten Flaschen Champagner -Reste von der Party am Freitag. Die Speisekammer war vollkommen leer.

Sie schloss die Tür der Speisekammer. »Was esst ihr hier bloß?«

Jean-Luc zuckte zusammen. »Das habe ich vergessen. Ich werde den Wachen deswegen Bescheid sagen.«

Wie konnte er Lebensmittel vergessen? Heather bemerkte, dass sich ihre Tochter auf der Couch zusammengerollt hatte und kurz davor war, auf ihrem gelben Bären einzuschlafen. »Wir müssen wirklich in unser Zimmer.«

Als ob er auf etwas lauschen würde, neigte er den Kopf zur Seite. »Es ist jetzt fertig.«

»Okay.« Fidelia und Heather wechselten erstaunte Blicke.

Die Hellseherin schüttelte leicht den Kopf. Entweder sie wusste auch nichts, oder sie wollte gerade nicht darüber reden.

Als sie die Küche verließen, bemerkte Heather, wie Alberto aus einem Zimmer am anderen Ende des Flurs kam. Er stolperte auf den Korridor hinaus, eine Hand gegen seinen Hals gepresst. In seinem anderen Arm trug er zwei Abendkleider.

Er sah zurück durch die offene Tür. »Ich nähe sie genau so um, wie ihr wollt.«

»Und zwar schnell«, zischte Simones Stimme, ehe die Tür mit einem Knall ins Schloss fiel.

Alberto eilte den Flur hinab, verlangsamte aber seine Schritte, als er sie sah.

Jean-Luc umklammerte seinen Stock so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Gibt es ein Problem?«

Es überraschte Heather, wie wütend seine Stimme klang.

Alberto wurde rot. »Sie sind schwer zufriedenzustellen.«

»Tatsächlich.« Jean-Luc war kurz davor, seine Beherrschung zu verlieren. »Ein weiser Mann würde es gar nicht erst versuchen.«

Alberto senkte seinen Blick. »Ich weiß, Sie haben recht. Aber sie sind einfach so... schön.« Er rieb seinen Hals.

Heather kniff die Augen zusammen. War das Blut an seinen Fingern?

»Entschuldigen Sie mich.« Alberto eilte zu der Tür, die in sein Büro führte, und verschwand.

»Hier entlang.« Jean-Luc bedeutete ihnen, ihm zu folgen.

Noch einmal sahen Heather und Fidelia sich irritiert an.

Er blieb stehen. »Hier ist die Hintertreppe.«

Tatsächlich standen sie vor einer schmalen Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte.

Heather sah zurück ans andere Ende des Korridors und zu der Tür, durch die Alberto gestolpert war. Noch ein Nummernblock. »Ist das das Schlafzimmer für die Models?«

Ihre Neugier wurde langsam gefährlich. »Die Tür führt in den Keller. Da habt ihr nichts zu suchen.« Er ging die Treppe hinauf.

Heather warf einen letzten Blick auf die verbotene Tür, ehe sie Jean-Luc die Treppe hinauf folgte. Sie kamen nur langsam voran, weil Bethany nur eine Stufe auf einmal nahm und darauf bestand, ihren großen gelben Bären selbst zu tragen. Heathers Gedanken wanderten zurück zu der Kellertür. Warum wurde sie verschlossen gehalten? Und was war mit der zweiten Tür zum Keller, am anderen Ende des Korridors? War die auch immer verschlossen?

Was war da unten? Monster? Die Beschreibung traf jedenfalls auf Simone und Inga zu. Mit einem Schnaufen rügte Heather sich selbst für ihre ausufernde Fantasie. Es war wahrscheinlicher, dass sich dort unten etwas Geschäftliches befand, zum Beispiel ein Ausbeuterbetrieb mit illegalen Einwanderern. Sie erreichten den ersten Stock.

»Das ist mein Büro.« Jean-Luc zeigte auf eine Tür mit einem weiteren Nummernschloss. »Das zeige ich euch später.«

»In Ordnung.« Sie bemerkte über sich eine Überwachungskamera.

Gerade in dem Moment öffnete sich eine Tür am Ende des Korridors, und zwei Männer traten heraus. Oder ein Mann und ein Junge, dachte Heather, als sie näher hinsah. Sie erinnerte sich, die beiden schon vorher bei Angus MacKay gesehen zu haben.

Der Teenager im Kilt lächelte. »Ihr Zimmer ist fertig, Mrs. Westfield.«

»Danke. Bitte nenn mich Heather.«

»In Ordnung. Ich bin Ian, und das ist Phineas.«

»Was geht?« Der schwarze Mann trug die Uniform aus Khakihosen und blauem Polohemd.

»Wir verschwinden jetzt.« Ian bedeutete Phineas, ihm zu folgen. »Bis morgen Nacht.«

»Gute Nacht.« Sie bemerkte das Schwert auf Ians Rücken, als er an ihnen vorbeiging und die beiden Männer die Treppe hinuntergingen. Wie seltsam, dass jemand, der nicht älter als fünfzehn aussah, sich so verhielt, als hätte er das Sagen. »Ist er nicht etwas jung, um ein Wachmann zu sein?«

»Er ist älter, als er aussieht.« Jean-Luc öffnete die Tür, aus der Ian und Phineas gerade gekommen waren. »Hier ist euer Zimmer.«

Bethany rannte hinein und kreischte begeistert.

»Was?« Auf das Schlimmste gefasst, rannte sie hinter Bethany her und blieb dann wie versteinert stehen.

Fidelia folgte den beiden und lief prompt in sie hinein. »Ay, caramba«, flüsterte sie und sah sich im Zimmer um.

»Mein Spielzeug!« Bethany ließ den gelben Bären auf den Boden fallen und kniete sich vor ihr Puppenhaus.

Heather blinzelte sprachlos. Neben dem Puppenhaus stand auch Bethanys Puppenwagen.

Sie bemerkte ihre Schminktasche auf der Kommode. »Wie hast du das gemacht? An der Tür stand doch ein Hilfssheriff Wache.«

»Meine Leute sind ausgezeichnet.«

Sie mussten gut sein, wenn es ihnen gelungen war, all das Zeug aus dem Haus zu schmuggeln.

Fidelia ließ ihre Handtasche auf eines der übergroßen Betten fallen und setzte sich hin. »Wie haben Sie das gemacht?«

»Es war wirklich nicht schwierig.« Er sah besorgt aus. »Ich dachte, das würde euch eine Freude machen.«

»Ich freue mich!«, verkündete Bethany.

Ich bin misstrauisch. Heather blickte sich langsam im Zimmer um. Die Wände waren in einem hellen Grün gestrichen. Die beiden Betten waren mit Tagesdecken aus blauem Damast bezogen, eine wunderschöne Tiffany-Lampe stand dazwischen auf einem Nachtschrank. Über der Kommode hing kein Spiegel, sondern ein Gemälde von Monet. An der Wand standen die Einkaufstüten aus dem Lagerverkauf.

»Heather?« Jean-Luc trat näher zu ihr. »Ist das so in Ordnung?«

»Ja.« Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen. »Danke.« Er hatte offensichtlich versucht, sie glücklich zu machen, aber das Gegenteil war geschehen. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte.

»Ich bin die nächste Stunde in meinem Büro am Ende des Flurs. Robby kommt bald mit deinem Truck nach.«

»Okay.« Auch das war irgendwie merkwürdig. Hatten sie ihren Truck denn nicht benutzt, um Bethanys Spielzeug herzubringen?

»Mir sind in der Stadt einige vernagelte Gebäude aufgefallen«, fuhr Jean-Luc fort.

»Ja, der Lagerverkauf hat dafür gesorgt, dass viele Geschäfte Pleite gegangen sind.«

»Robby und ich werden sie uns später noch ansehen.«

»Du meinst...?« Anscheinend vermuteten sie, dass Louie sich in einem von ihnen versteckte. »Willst du, dass ich mitkomme?«

»Nein«, antwortete er rasch. »Du hast heute Abend schon genug durchgemacht. Und Bethany auch.«

Diesmal hatte er wirklich recht. Viel mehr Aufregung würde sie nicht mehr verkraften können. »Dann sehen wir uns morgen?«

»Morgen Abend, ja. Phil und Pierre werden tagsüber auf euch aufpassen.«

Und wo bist du dann? Sie sah ihm in die Augen. Ihn umgaben immer noch viel zu viele Geheimnisse.

»Gute Nacht, Chérie.« Er nahm ihre Hand und hob sie an seinen Mund. Seine Lippen waren weich und sinnlich.

Heather stieg die Hitze ins Gesicht, als köstliche Erinnerungen sie überfluteten. Sein Kuss war so schön. Sie hatte sich so sicher und wunderbar geborgen in seinen Armen gefühlt. Sie wünschte sich, dass dieses Gefühl wiederkommen würde, aber es war verschwunden. Stattdessen litt sie unter dem nagenden Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

»Schlaf gut.« Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Juan ist sehr romantisch«, bemerkte Fidelia. »Muy macho. «

»Muy irgendwas”, murmelte Heather. »Lass uns Bethany zu Bett bringen.« Und dann können wir uns unterhalten. Diese Worte hingen unausgesprochen am Ende des Satzes.

Dreißig Minuten später schlummerte Bethany tief und fest in dem Bett, das sie sich mit ihrer Mutter teilen würde. Fidelia und Heather machten sich nacheinander bettfertig.

Heather kam aus dem Badezimmer und deutete mit der Hand auf das Puppenhaus. »Was meinst du, wie sie das geschafft haben?«

»Ich weiß es nicht.« Fidelia schüttelte die Kissen am Kopfende des Bettes auf und schlüpfte dann unter die Decke. »Sie müssen sich am Hilfssheriff vorbeigeschlichen haben.«

Heather stemmte eine Hand in die Hüfte. »Ich glaube nicht, dass Billy und seine Hilfssheriffs dermaßen inkompetent sind.«

Fidelia lachte leise. »Man kann nie wissen. Wenigstens haben wir die Schlaueren auf unserer Seite.«

»Schlau oder nur... hinterhältig? Irgendetwas sehr Merkwürdiges geht hier vor sich.«

Auch Fidelia hatte das bemerkt. »Juan schien, als hätte er jemandem zugehört. Vielleicht ist er übersinnlich begabt.«

»Das Gefühl habe ich auch.« Heather setzte sich auf das Fußende von Fidelias Bett. »Konntest du etwas hören?«

»Nein, aber ich spüre eine merkwürdige... Energie. Vielleicht träume ich heute Nacht etwas, das uns helfen wird.«

Heather nickte. Sie war noch nicht ganz bereit, ihren Verdacht, dass Jean-Luc unsterblich sein könnte, laut auszusprechen. Es schien ihr immer noch zu bizarr.

»Das hier ist das einzige Schlafzimmer auf diesem Stockwerk«, fuhr Fidelia fort, »und Juan hat gesagt, im Erdgeschoss gibt es überhaupt keine.«

»Das finde ich auch komisch«, bestätigte Heather.

»Wo schlafen die ganzen Menschen in diesem Haus?«, fragte Fidelia.

Heather erinnerte sich an die verschlossenen Kellertüren. »Ich nehme an, sie sind im Keller.«

»Das ist seltsam«, murmelte Fidelia. »Und was war das mit Alberto? Ich glaube, diese Ziegen haben ihn zerkratzt. Oder ihn geschnitten. Da war Blut an seinen Fingern.«

»Das habe ich gesehen. Und Jean-Luc hat immer wieder gesagt, dass wir im Keller nichts zu suchen haben. Das könnte natürlich auch nur eine gut gemeinte Warnung sein, wenn diese psychotischen Zicken da unten wohnen.«

Fidelia schnalzte mit der Zunge. »Warum bist du zu spät zu Bethanys Auftritt gekommen? Das sieht dir nicht ähnlich.«

Röte färbte Heathers Wangen. »Ich war... abgelenkt.«

»Von Juan? Hat er sich an dich rangemacht?«

Ihre Wangen wurden noch wärmer. »Ich habe mitgemacht. Gerne sogar. Ich... ich dachte, ich wäre dabei, mich in ihn zu verlieben.«

»Und jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Ich fühle mich zu ihm hingezogen. Er sieht so gut aus und ist so anziehend...«

»Und reich.«

Kannte Fidelia sie so wenig? »Das ist mir nicht wichtig. Cody hatte jede Menge Geld, und glücklich gemacht hat es mich mit Sicherheit nicht.«

»Was gefällt dir dann an Juan?«

»Ich finde, er ist ein ehrbarer, intelligenter, netter Mann. Es war sehr süß, dass er Bethany den Bären besorgt hat. Und er mag mich so, wie ich bin. Er behandelt mich mit Respekt. Er hört mir tatsächlich zu und interessiert sich für das, was ich fühle.«

Fidelia nickte. »Er ist ein guter Mann. Ich bin mir fast sicher.«

»Fast sicher?«

Fidelia zuckte mit den Schultern. »Äußerlichkeiten können täuschen. Ich habe gespürt, dass etwas... nicht stimmt.«

Heather schnaubte. »Man muss kein Hellseher sein, um das zu merken. Dieser Ort steckt voller Geheimnisse. Geheimnisse, die Jean-Luc vor mir verbergen will.«

»Das stimmt.«

»Wie kann ich ihm dann vertrauen?«

Fidelia lehnte sich gegen ihre Kissen und runzelte die Stirn. »Du musst sehr vorsichtig sein.«

In Heathers Augen brannten ungewollte Tränen. Sie wollte so gern an Jean-Luc glauben. Er war ihr so perfekt vorgekommen. Aber sie hatte keine Wahl. Sie musste Abstand zwischen ihnen halten. Sie konnte nicht zulassen, dass sie sich in Jean-Luc Echarpe verliebte.