11. KAPITEL

 

Jean-Luc gefiel die Wendung des Gesprächs außerordentlich gut. Sobald er Heather an diesem Abend erblickt hatte, hatte er sie berühren wollen. Ihre langen nackten Beine folterten seine Gefühle. Ihre rosige Haut, prall gefüllt mit Blut, brachte seine Vampirsinne zum Kochen.

Mon Dieu, es schien wirklich, als würde jeder Mann in der Stadt sie begehren. Wie konnten sie nicht? In ihren Shorts steckte der süßeste Hintern. Ihr T-Shirt schmiegte sich an volle Brüste und schloss sich dann um die schmalere Kurve ihrer Taille. Er wollte ihr die Kleider mit den Zähnen vom Leib reißen.

Aber zum Anfang würde er sich auch mit einem Kuss begnügen.

Emma hatte ihn in Gedanken ausgeschimpft, dass er Heather solche Sorgen bereitete. Jean-Luc sollte ihr schleunigst die Sache mit Cody erklären. Er hatte es auch vorgehabt, aber wie konnte er die hypnotische Trance, mit der er ihren Exmann belegt hatte, erklären, ohne eine Menge weiterer ungewollter Fragen heraufzubeschwören. Aber Küssen - mit dieser Form von Beruhigung konnte er umgehen. Und zehn Schritte würden ihm leichtfallen.

Er berührte eine ihrer Locken und rieb die seidige Strähne zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger. »Zuerst muss die Idee geboren werden, das ist Schritt eins.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist ja offensichtlich.«

»Aber notwendig. Ich finde diesen ersten Schritt sehr aufregend.« Er berührte ihren Hals und legte seine Fingerspitzen auf ihre Schlagader. Ihr Puls schlug kräftig und schnell. Trotz ihrer gelassenen Art war sie genauso aufgeregt wie er.

»Unsere Lippen würden sich nicht einfach aus Versehen begegnen.« Er betrachtete ihren Mund. »Ich würde mich fragen, wie deine Lippen sich anfühlen, wie sie schmecken. Und mein Verlangen würde immer stärker werden, bis es mich überwältigt. Jeder Gedanke, jeder Atemzug wäre nur noch auf das Verlangen konzentriert, dich zu küssen.«

Ihr Mund stand leicht offen, und sie atmete schneller. »Das... ist ein guter Anfang.«

Er lächelte. »Der zweite Schritt ist die Erkenntnis. Du weißt jetzt von meinem Verlangen.«

»Okay.« Sie benetzte sich die Lippen.

»Ah, du bist zu Schritt drei übergegangen.«

Sie machte große Augen. »Bin ich?«

»Ja. Schritt drei ist deine Antwort. Du hast mein Verlangen erkannt und eine Einladung ausgesprochen.«

Sie neigte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. »Das glaube ich nicht.«

»Du hast Ja gesagt, indem du deine Lippen geleckt hast.«

»Habe ich nicht. Sie... du solltest nicht einfach solche allgemeinen Schlussfolgerungen treffen.« Sie leckte sich wieder die Lippen und verzog danach das Gesicht. »Ignorier das. Das war vollkommen unabsichtlich.«

»Das glaube ich nicht: Dein Körper reagiert auf mich.« Er trat näher zu ihr. »Dein Körper schreit, ja, nimm mich.«

»In deinen Träumen.« Sie trat zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe mich selbst vollkommen unter Kontrolle.«

»Noch.«

Sie sah ihn misstrauisch an. »Bei welchem Schritt sind wir?«

»Drei. Dein Körper hat eine Einladung ausgesprochen. Schritt vier, mein Körper antwortet darauf.«

»Dann haben wir an diesem Punkt vollkommen den Verstand verloren?«

Er lachte. »Normalerweise würde das alles in wenigen Sekunden passieren, und ich würde dir nicht die Zeit geben, mir zu widersprechen. Aber aus irgendeinem merkwürdigen Grund gefällt es mir, wenn du mir widersprichst.«

»Oh.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Das ist nett von dir.«

»Gern geschehen. Vierter Schritt, ich gehe auf deine Einladung ein. Ich neige mich zu dir, um dich zu küssen.« Er trat näher und legte eine Hand in ihren Nacken.

»Ich habe immer noch nicht Ja gesagt.«

»Deshalb warte ich noch. Schritt fünf ist deine Zustimmung. Sogar dein kluger Verstand muss jetzt nachgeben. Wenn ein Mann diesen Schritt auslässt, riskiert er es, seine Dame zu brüskieren und sie für immer zu verlieren.«

»Weil ich noch gehen könnte«, flüsterte sie.

»Ja, das könntest du.« Er beugte sich zu ihr, bis sein Mund nur noch ein kurzes Stück von ihrem entfernt war. »Aber ich weiß, dass du es auch willst. Und du würdest mein Herz nicht brechen wollen.«

»Schuldgefühle verursachen ist nicht fair.«

Er streichelte ihren Hals. »Ich kann sehr skrupellos sein, wenn es um etwas geht, das ich unbedingt haben will.«

»Und ich kann so tun, als sei ich schwer zu haben.« Trotz ihrer frechen Worte neigte sie den Kopf zur Seite, damit er ihren Hals leichter streicheln konnte.

»Los doch, Chérie. Mach es mir schwer.« Er lächelte, weil sie noch ganz andere Dinge mit ihm machte. Er fuhr mit den Fingern über die Kurve ihres Kiefers. »Je mehr ich zu arbeiten habe, desto besser wird es sein, wenn du dich mir hingibst. Und du wirst dich hingeben. Du willst diesen Kuss.«

Ein kaum merkliches Zittern durchzog ihren Körper. »Was ist mit dir? Willst du es auch, oder willst du nur beweisen, dass du mit deinen zehn Schritten recht hattest?«

Er nahm sie sanft bei den Schultern. »Es ist mir verdammt egal, wie viele Schritte ich brauche. Dein Glück ist alles, was mir wichtig ist.«

»Wie machst du das nur, immer genau das Richtige zu sagen?

»Es fühlt sich an, als würde ich dich kennen. Ich kenne dein Herz. Es ist... meinem so ähnlich.«

»Jean-Luc«, flüsterte sie. Sie berührte das Haar an seiner Schläfe.

Er kam ihr näher, bis seine Stirn ihre berührte. »Schritt sechs ist Akzeptanz. Wir wissen, dass es zu diesem Kuss kommen muss.«

»Du vielleicht.«

»Weib«, knurrte er. »Immer forderst du mich heraus.«

Dieser Mann war einfach unglaublich wunderbar. »Ich weiß. Es macht so viel Spaß. Ich fühle mich dabei so... stark. Ganz anders als der alte Fußabtreter. Wie ein ganz neues Ich.«

Er lächelte und berührte ihre Wange. »Ich mag das neue Du. Du bist schön, stark und... aufregend.«

Langsam ließ sie ihre Arme seine Brust hinaufgleiten, dann umschlossen sie seinen Hals. »Jetzt bist du in Schwierigkeiten, Freundchen. Wenn wir uns küssen, waren das nur sieben Schritte.«

»Aber es gibt noch viele Schritte, die mit dem Kuss selbst zu tun haben, und ich bestehe darauf, sie alle genau auszuführen. Schmecken, berühren, knabbern, saugen, die Zunge, das Kratzen der Zähne...«

»Okay!« Sie zog fester an seinem Hals. »Ich brenne darauf, es kennenzulernen.«

Sein Herz machte einen Sprung. Sie gab sich hin. Das Blut schoss ihm zwischen die Beine. Kein Zweifel, dass seine Augen mittlerweile rot glühten. Er hielt seine Augenlider halb gesenkt und hoffte, dass sie es nicht merken würde. »Schritt sieben. Der Testkuss.« Er drückte seine Lippen behutsam auf ihre.

Sie schloss die Augen. »Haben wir bestanden?«

»Oh ja.« Er fuhr mit den Lippen über ihre Wange und setzte dann lauter kleine Küsse auf dem Weg zurück zu ihrem Mund. Sie öffnete sich für ihn. Ihre Lippen waren weich und feucht. Ihr Körper neigte sich ihm zu.

Jean-Luc ließ sich Zeit und berührte ihren Mund zögerlich, bis ihre Lippen sich mit seinen bewegten. Sie war weich, geschmeidig und köstlich. Er schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie fest an sich. Sie keuchte, und ihr Atem vermischte sich mit seinem. Kein Zweifel, dass sie jetzt die volle Länge seiner Härte spüren konnte, die sich gegen ihren Bauch drückte.

Er vertiefte den Kuss und tastete sich mit der Zunge in ihren Mund. Sie schmeckte nach Senf und würziger Sauce, modern und amerikanisch, aber für ihn fremd und exotisch. Sie berührte seine Zunge mit ihrer Zungenspitze und entlockte seiner Kehle ein heiseres Stöhnen.

Ihre Finger vergruben sich in seinen Locken und zogen ihn näher zu sich. »Welcher Schritt ist das?« Sie atmete in kurzen Stößen gegen seinen Mund.

Er lehnte seine Stirn an ihre. »Ich kann mich nicht mehr erinnern.« Er musste sich zurückziehen. Seine Erektion war eine kaum noch auszuhaltende Folter. Bald würde er explodieren.

Er atmete tief durch. Der Duft ihres Blutes verlockte ihn und ließ ihn nicht los. Das Klopfen ihres Herzens drang in seine Poren und seine Knochen. Gott, steh ihm bei, er konnte nicht aufhören.

Mit einem dem Schicksal ergebenen Knurren zog er ihr Ohrläppchen in seinen Mund und saugte daran. Ihr Stöhnen hallte in seinem Körper wider. Er glaubte, ihr Stöhnen zu erwidern, aber er war sich nicht mehr sicher. Er konnte nicht mehr unterscheiden zwischen ihrem klopfenden Herz und seinem, ihren glückseligen Seufzern und seinen eigenen. Sie wurden eins. Er wollte in sie eindringen. Er musste ein Teil von ihr werden.

Er breitete seine Hände auf ihrem Po aus und zog sie fester gegen sich. Sie keuchte auf und drückte ihn an sich. Er rieb seine Nase an ihrer Halsschlagader und ließ zu, dass der Duft ihres rasenden Blutes in seinen Kopf stieg. Sein Zahnfleisch kribbelte. Er packte ihren Hintern und presste sie fest gegen seine Härte.

»Mon Dieu, ich will dich.« Um wenigstens einen Hauch seiner Selbstkontrolle zurückzuerlangen, legte Jean-Luc seinen Kopf in den Nacken. Er konnte nicht zulassen, dass seine Fangzähne hervortraten. Oder dass er die Kontrolle über einen anderen herausragenden Körperteil verlor. Es musste doch möglich sein, durch den Nebel der Lust wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Er konnte sie nicht hier nehmen. Wenn er sie beide teleportierte, könnte er sie innerhalb von Sekunden in seinem Schlafzimmer haben, aber der Szenenwechsel würde ihr mit Sicherheit auffallen.

Die Sterne über ihm funkelten ihn an und verspotteten ihn dafür, dass er so lange nicht bei einer Frau gelegen hatte. Aber das hier war nicht irgendeine Frau. Das war Heather. Sie stand auf Zehenspitzen und verteilte kleine, federleichte Küsse auf seinem Hals. Sie war süß und großzügig. Er streichelte ihren Po. Vielleicht würde sie ihn zu sich nach Hause und in ihr Schlafzimmer einladen. Ja, das war ein guter Plan. Nachdem Bethany tief und fest schlief, würde er sich in Heathers Schlafzimmer schleichen und sie die ganze Nacht lang lieben.

In der Ferne hörte er den Engelschor süß und unschuldig singen. Ihm wurde leicht ums Herz. Vielleicht würde es dieses Mal funktionieren. Vielleicht konnte er dieses Mal die wahre, bleibende Liebe finden. Er würde Lui umbringen und Heathers Herz für sich gewinnen. Zum ersten Mal würde er dann eine Familie haben.

Mit einem Schock wurde ihm sein Fehler klar. Das Singen war echt. Mit ihren weniger ausgeprägten Sinnen konnte Heather es wahrscheinlich nicht hören.

Sanft packte er sie an den Schultern. »Heather, die Kinder haben angefangen zu singen.«

Ihr benebelter Blick wurde mit einem Schlag klar. »Oh mein Gott!« Sie schob ihn von sich. »Das ist furchtbar!«

****

Heather hastete so schnell sie konnte zum Pavillon zurück. Lieber Gott, sie kam zu spät. Die Dreijährigen verließen bereits die Bühne, und die Vierjährigen stellten sich zum Singen auf. Sie erspähte zwei leere Sitze in der ersten Reihe, neben Fidelia und Emma. Gott sei Dank hatten die beiden ihr und Jean-Luc Plätze freigehalten.

Alles würde gut werden. Sie verlangsamte ihr Tempo und rang nach Atem. Jean-Luc blieb neben ihr stehen. Er atmete nicht einmal schneller. Gerade in dem Moment ließen sich Codys Mutter und eine andere Frau auf die leeren Sitze fallen, ohne auf Fidelias Widerspruch zu hören.

»Oh nein.« Heather rang nach Sauerstoff, während sie die Stuhlreihen überblickte, die sie vorhin aufgestellt hatte. Alle Plätze in den ersten zwei Reihen waren besetzt. »Das ist furchtbar. Ich habe ihr gesagt, ich sitze in der ersten Reihe. Sie wird nach mir Ausschau halten, und ich bin nicht da!« Panik machte sich breit.

»Pssst!« Eine ältere Frau in der letzten Reihe drehte sich zu ihnen, um sie zum Schweigen zu bringen.

Heather rang nach einem weiteren Atemzug. Lieber Gott, wie hatte sie das zulassen können? Wie konnte sie sich so darin verlieren, einen Mann zu küssen, den sie erst seit ein paar Tagen kannte? Was für eine Mutter war sie eigentlich?

»Ich suche einen leeren Stuhl und stelle ihn in die erste Reihe«, bot Jean-Luc ihr an.

»Zu spät.« Heather zog sich das Herz zusammen. Bethany stand auf der Bühne und blickte mit großen Augen in die erste Reihe. Sie grinste und winkte Fidelia und Emma zu, und dann trat ein verwirrter, verzweifelter Ausdruck auf ihr Gesicht.

Das Winken der hoch erhobenen Hände ihrer Mutter sah Bethany nicht. Sie blickte die ersten paar Stuhlreihen entlang, und ihr verletzter Gesichtsausdruck brach ihrer Mutter das Herz. Miss Cindy begann, das erste Lied zu dirigieren, aber Bethany sang nicht mit. Auf der Suche nach ihrer Mutter bemerkte sie Miss Cindy nicht einmal.

Heather sprang auf und ab und winkte mit beiden Armen. Endlich sah Bethany sie, und ihr Gesicht hellte sich sofort auf. Ein Handkuss, und Bethany grinste und schloss sich dann dem Chor an.

Ein Seufzer der Erleichterung machte der Anspannung Luft. Dann blinzelte Heather sich die Tränen aus den Augen. »Es geht ihr gut.« Sie drehte sich zu Jean-Luc um.

Er war verschwunden.

Verdammt. Wie konnte er jetzt einfach so weggehen? War es ihm peinlich, dass sie wegen ihm zu spät zu Bethanys Vorstellung gekommen war? In Heathers Herz regten sich Schuldgefühle. Es war nicht nur seine Schuld. Sie hatte hingebungsvoll mitgemacht und sich von dem Kuss vollkommen ablenken lassen.

Und lieber Gott, was war das für ein Kuss. Ihre Wangen flammten auf. Dieser Schuft - er hatte es tatsächlich geschafft, dass sie ihre Kontrolle verlor. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wie weit sie gegangen wäre, wenn er nicht aufgehört hätte.

Und wo war er jetzt? Verführte er Frauen und verließ sie dann gleich wieder? Und sollte er sie nicht eigentlich beschützen?

Das erste Lied endete, und Heather applaudierte, während sie sich umsah. Robby stand an einer Seite, halb verborgen hinter einem Gebüsch aus Pinien. Er nickte ihr zu, als ihr Blick ihn streifte. Sie hob eine Hand zum Gruß, wendete sich aber gleich wieder ihrer Tochter zu. Die Kinder stimmten »God Bless America« an, ein Lied, das der Menge immer gefiel.

»Vielleicht wird das helfen«, flüsterte Jean-Luc.

Sie zuckte zusammen. Lieber Gott, bewegte dieser Mann sich leise. Sie starrte ihn wütend an. Auf einmal störte es sie, dass er sich in ihr Leben eingeschlichen und die zerbrechliche Balance, um die sie sich so sehr bemühen musste, durcheinandergebracht hatte.

Dann fiel ihr Blick auf etwas, das er in seinen Armen hielt, und all ihr Widerwillen schmolz dahin. Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen, weil es sich anfühlte, als sei auch ein Teil ihres Herzens geschmolzen.

Ohne ein weiteres Wort gab er ihr den großen gelben Glücksbärchi. Sie schlang ihre Arme um seine weiche Form und presste ihn gegen ihre Brust. Sie wusste nicht, ob er ihn gewonnen oder gekauft hatte, sie wusste nur, dass er der liebste Mann war, den sie je getroffen hatte.

Sie sah Bethany auf der Bühne, die grinste und auf und ab sprang. Heathers Blick verschwamm vor Tränen. Jean-Luc verstand, wie viel ihre Tochter ihr bedeutete. Er verstand Liebe. Er musste einer unter Millionen sein, und sie fühlte sich wirklich zu ihm hingezogen.

Dennoch, sie musste vorsichtig sein, mit ihrer Geschichte aus all den fehlgeschlagenen Beziehungen. Und realistisch. Es gab wahrscheinlich keine Zukunft mit Jean-Luc. So wunderbar er auch sein mochte, er hatte ein Geheimnis, und das wollte er nicht preisgeben. Um ihr Herz zu schützen, durfte sie es nicht zulassen, dass diese Beziehung sich weiter vertiefte. Sie würde ihre Gefühle für sich behalten, gut verpackt wie ein Saatpaket, damit sie nicht Wurzeln schlagen und wachsen konnten.

Aber es fühlte sich so gut an. Es fühlte sich gut an, zu wissen, dass es auf der Welt immer noch liebe Männer gab. Und es fühlte sich gut an, zu wissen, dass die Beziehung zu ihrer Tochter immer noch so wie früher war. Nach all dem Aufruhr, den sie in den letzten Jahren ertragen musste, hatte sie gelernt, dass man am besten fest und stark blieb, indem man sich bewusst machte, was man am Leben hatte. Das tat sie jetzt. Das Leben war gut.

Sie schloss ihre Augen, legte ihr Kinn auf den großen Kopf des Bären und genoss die süßen Stimmen der Kinder. Für diesen einen kleinen Augenblick war die ganze Welt in Ordnung. Sie würde den Moment genießen, solange er andauerte.

Das Lied endete, und die Menge jubelte.

Sie öffnete die Augen. »Danke.« Heather drehte sich zu Jean-Luc um, aber er war schon wieder verschwunden. Ach, na ja. Sie seufzte. Sie hatte gewusst, dass es nicht lange dauern konnte. Er war irgendwie anders. Vielleicht unsterblich. Oder noch Schlimmeres.

Dann entdeckte sie ihn neben Robby, tief ins Gespräch mit seinem Leibwächter versunken, und mit dem anderen Schotten, Angus MacKay, der anscheinend aus New York zurückgekehrt war. Da waren noch drei andere, die im Schatten der Pinien standen. Ein Teenager im Kilt und zwei große junge Männer in Khakihosen und dunkelblauen Polohemden. Einer der Männer war weiß, der andere schwarz. Sie sahen alle irgendwie bestürzt aus.

Heather runzelte die Stirn. Diese Kerle hatten auf jeden Fall Geheimnisse. Sie blieben in den Schatten verborgen, dennoch begannen Einzelne im Publikum, sich nach ihnen umzudrehen. Fremde in der Stadt wurden immer bemerkt.

Als die Show endete, war Bethany die Treppen des Pavillons hinuntergesprungen und zu Fidelia und Emma gegangen. Heather bewegte sich ebenfalls langsam auf sie zu. Da die meisten Menschen die Stuhlreihen verlassen wollten, ging sie gegen den Strom.

Die Menge keuchte erschreckt auf, als auf der anderen Seite des Marktplatzes der Alarm der freiwilligen Feuerwehr losging. Eine Handvoll Männer rannten aus dem Park. Die Leute fanden sich in kleinen Gruppen zusammen, um zu tratschen und zu spekulieren, was geschehen sein mochte. Heather schlängelte sich zwischen ihnen hindurch, um endlich bei Bethany zu sein. In weniger als einer Minute erklang die Sirene des einzigen Feuerwehrwagens der Stadt.

Endlich schloss Heather ihre Tochter in die Arme.

Mit einem Quietschen packte Bethany den Bären. »Mama, du hast es geschafft! Du hast den Bären bekommen!« Sie drückte ihn fest an sich. »Hast du gesehen, wie ich gesungen habe?«

»Natürlich. Du warst ganz toll.« Heather lächelte Fidelia und Emma an. »Danke, dass ihr euch um sie gekümmert habt.«

Sie folgten der Menschenmenge vom Pavillon weg.

Emma fädelte sich neben Heather ein. »Wo ist Jean-Luc? Er sollte auf dich aufpassen.«

»Er ist da drüben.« Heather deutete auf die Pinien, wo die Männer sich versammelt hatten. »Er spricht mit ein paar Leuten. Dein Mann ist auch da.«

»Angus ist wieder da? Kommt.« Emma schritt schnell auf die Gruppe zu, während Jean-Luc zu Heather, Bethany und Fidelia zurückkam.

Emma umarmte ihren Mann, und er begann, ihr eindringlich etwas zuzuflüstern.

Es entging Heather nicht, wie besorgt Jean-Luc aussah. »Was ist passiert?«

»Es hat Arger gegeben.« Er fuhr mit einer Hand durch seine schwarzen Locken. »Erinnerst du dich an meinen Freund Roman Draganesti aus New York?«

Heather musste schlucken, als sie sich an den gut aussehenden Mann, seine Frau Shanna und ihr bezauberndes Baby erinnerte. »Was ist mit ihm?«

»Sie besuchen jeden Sonntagabend die Messe bei Romatech. Roman hat dort eine Kapelle bauen lassen, und die Messe beginnt immer um elf Uhr. Wir glauben, dass die Bombe zu früh hochgegangen sein muss, Gott sei Dank.«

»Die Bombe?«

»Oui. Glücklicherweise ist niemand ernsthaft verletzt worden. Aber wenn die Bombe in einer vollen Kapelle hochgegangen wäre...« Jean-Luc verzog das Gesicht, und seine Stimme brach. »Wir hätten sie alle verlieren können.«

Entsetzlich war allein schon der Gedanke, dass diese freundliche Familie getötet werden könnte. »Wer würde so etwas tun?« Sie riss die Augen auf. »War es Louie? Greift er alle deine Freunde an?«

»Wir wissen, wer es getan hat, und es war nicht Lui«, erklärte Emma, als sie sich ihnen anschloss. »Es ist eine furchtbare Nacht gewesen.«

»Aye.« Angus MacKay kam auf sie zu. »In einer Nacht hat es vier Bombenangriffe gegeben. Der erste in Zoltan Czakvars Haus in Budapest. Er hat zwei Zirk... Freunde verloren.«

»Das ist ja furchtbar!« Heather fragte sich, wer dieser Zoltan Irgendwer war. Und Budapest? Waren diese Typen eine geheime Clique aus Unsterblichen?

»Jean-Lucs Chateau in Frankreich wurde ebenfalls angegriffen«, fuhr Angus fort. »Niemand ist verletzt worden, aber wie ich höre, ist der Schaden immens.«

»Du hast ein Chateau?« Heather blickte Jean-Luc ungläubig an.

Er zuckte mit den Schultern. »Jetzt nur noch ein halbes.«

Mit düsterem Blick legte Angus einen Arm um Emmas Schultern. »Als Nächstes war unser Schloss in Schottland dran.«

»Wenigstens wurde niemand getötet.« Emma sah ihn aufmunternd an. »Und wir können es immer wieder aufbauen.«

»Aye.« Angus blickte weiter finster drein. »Was ich bis jetzt sagen kann, ist, dass Casimir jeden angegriffen hat, der Emma und mir in der Ukraine zu Hilfe gekommen ist.«

»Wer ist Casimir?«, wollte Heather wissen. Sie war sich nicht sicher, aber hatte Louie den Namen nicht in der Nacht erwähnt, in der er von Jean-Luc angegriffen worden war?

»Er ist derjenige, der Lui bezahlt, um mich umzubringen«, bestätigte Jean-Luc ihren Verdacht. »Auch wenn ich wetten könnte, dass Lui es auch umsonst machen würde.«

Heather schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Ihr scheint alle so nett zu sein. Wieso wollen diese gruseligen Typen euch umbringen?«

Jean-Luc, Angus und Emma sahen sich an.

»Bist du sicher, dass es Roman und seiner Familie gut geht?«, wechselte Jean-Luc das Thema.

»Sie sind in Ordnung«, antwortete Angus. »Connor will sie in ein Versteck bringen. Roman hat sich erst gewehrt und gesagt, das wäre feige, aber er hat schließlich doch Vernunft angenommen. Wir können nicht zulassen, dass Shanna oder Constantine etwas passiert.«

Jean-Luc nickte. »Wohin werden sie gebracht?«

»Connor weigert sich, es irgendwem zu sagen. Ich stimme ihm da zu. Emma und ich werden uns sofort nach Osteuropa aufmachen, um Casimir zu jagen. Falls wir in Gefangenschaft geraten sollten... na ja, wir wollen nicht mehr wissen, als unbedingt nötig.«

Heather verzog das Gesicht. Das alles klang nach Krieg.

Auf Emmas Gesicht trat ein wild entschlossener Ausdruck. »Wir müssen uns endlich ein für alle Mal um Casimir kümmern.«

»Ich komme mit euch.« Jean-Luc fasste seinen Stock mit beiden Händen.

»Nein. Du gehörst hierher.« Angus warf einen Blick auf Heather.

Sie versteifte sich. »Wir können auch selbst auf uns aufpassen.«

Jean-Lucs Blick wanderte über die drei Frauen, Heather, Bethany und Fidelia. »Non, Angus hat recht. Ich muss bleiben.«

»Casimir und Lui wissen bereits, dass ihr in Texas seid«, warnte Angus ihn. »Also seid ihr sehr angreifbar. Da Connor heute Nacht mit Roman aufbricht, habe ich einige Männer mitgebracht, die ich entbehren kann.« Er deutete auf die Gruppe neben Robby. »Ian, Phineas, und Phil - sie sind hier, um euch zu helfen.«

» Merci. » Jean-Luc berührte Heathers Schulter. »Wir haben jetzt jede Menge Wachen. Du und deine Familie werdet sicher sein.«

»Danke.« Mit einem Schaudern fragte Heather sich, was als Nächstes passieren würde.

»Heather!« Der Ruf aus der Ferne zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Billy kam mit ernstem Gesicht auf sie zu.

Etwas Unverständliches kam aus seinem Walkie-Talkie, und er stellte den Ton ab. »Heather, ich habe schlechte Nachrichten. Jemand hat dein Haus angezündet.«