6. KAPITEL
»Komm mit, Liebling. Unten sind ein paar Leute, die du kennenlernen sollst.« Heather führte ihre Tochter die Treppe hinunter.
Bethany war halb wach gewesen, als Heather nach ihr gesehen hatte, also war es ihr am besten erschienen, der Vierjährigen gleich ihre neuen Leibwächter vorzustellen. Das Letzte, was sie wollte, war, dass ihre Tochter Angst bekam, weil sie in einem Zimmer voller fremder Leute aufwachte.
Bethany hielt die Hand ihrer Mutter fest und ging jede Stufe einzeln hinunter.
Heather erreichte den Fuß der Treppe und drehte sich zu ihrer Tochter um. »Liebling, wir haben zwei Besucher hier. Ich möchte, dass du Emma kennenlernst, weil sie heute Nacht in deinem Zimmer bleiben wird.«
»Warum?« Bethany kratzte an ihrem rosafarbenen Pyjama.
»Nur, um dich zu beschützen. Sie ist so was wie dein persönlicher Schutzengel.«
»Oh.« Bethany blinzelte. »Hat sie Flügel?«
»Nein, aber sie ist so hübsch wie ein Engel.« Heather führte ihre Tochter ins Wohnzimmer und ertappte Jean-Luc am Couchtisch. Er trat einen Schritt zurück und stellte sich ein wenig angespannt neben den Ohrensessel.
Heather kniff die Augen misstrauisch zusammen. Sie hatte einen Anflug von Schuldgefühlen in seinem Gesicht gesehen, ehe er sich um einen neutralen Ausdruck bemühte. Was hatte er angestellt? Sie sah auf den Couchtisch. Die Tarotkarten waren zu einem ordentlichen Stapel zusammengeschoben.
Was war wohl auf der siebten Karte zu sehen gewesen? Hatte Jean-Luc sie sich angeschaut? Es entstand eine kleine Pause, und Heather musste sich zwingen, ihre Gedanken zu ordnen. Unterdessen starrte Jean-Luc sie und ihre Tochter neugierig an. »Ich habe Bethany runtergebracht, damit sie euch kennenlernt.«
»Sie sieht Ihnen so ähnlich.«
»Ja. Das nennt sich Genetik.« Wahrscheinlich konnte er sonst nicht viel mit Kindern anfangen. »Liebling, das ist Mr. Echarpe.«
Bethany hob ihre Hand. »Hi.«
Jean-Luc verbeugte sich. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Bezanie.«
Sie zog am Pyjama ihrer Mutter und flüsterte: »Er redet komisch.«
»Er ist aus Frankreich. Wie Belle«, flüsterte Heather zurück und merkte, wie er sie misstrauisch ansah.
»Und das Biest?«, fragte Bethany.
Heather erwiderte seinen Blick. »Ganz genau.«
»Ist er auch mein Schutzengel?«, fragte Bethany.
»Nein. Deiner ist Emma.« Heather sah sich um, aber Emma war anscheinend immer noch auf der Veranda.
»Ich werde deine Mutter beschützen«, erklärte Jean-Luc.
»Oh.« Bethany nickte. »Dann kannst du in Mamas Zimmer schlafen.«
Heather hustete. »Das nun bestimmt nicht.«
»Ich werde mich an die Wünsche deiner Mutter halten.« Jean-Lucs Augen leuchteten, als er sie mit seinem Blick zu verschlingen schien. »Es ist mir ein tief empfundenes Bedürfnis, sie... zufriedenzustellen.«
Heather bekam eine kribbelnde Gänsehaut. Lieber Gott, er zog sie direkt vor ihrer Tochter mit den Augen aus. Er war wirklich ein Biest. Ihre Wangen wurden heiß.
Sein unschuldiges Lächeln nahm sie ihm wirklich nicht ab.
Ein Geräusch an der Eingangstür zog die Aufmerksamkeit auf sich, und sie sah, wie Emma ins Haus kam.
»Ich habe, nachdem Angus gegangen war, noch das Grundstück abgesucht.« Emma schloss die Vordertür ab. »Alles in Ordnung.«
Bethany legte einen Arm um Heathers Bein. »Ist das mein Engel?«
»Ja. Emma, das ist Bethany. Ich wollte, dass sie dich kennenlernt, weil du doch heute Nacht in ihrem Zimmer bleibst.«
»Natürlich.« Emma kam zu ihnen und lächelte Bethany an. »Liebe Güte, du bist so hübsch wie eine Prinzessin.«
Bethany kicherte und ließ das Bein ihrer Mutter los. »Ich war an Halloween eine Prinzessin. Mama hat das Kostüm gemacht.«
»Ich bin mir sicher, es war entzückend.«
Bethany sah zu ihrer Mutter auf. »Sie redet auch komisch. Ist sie aus Frankreich?«
Emma lachte und warf einen amüsierten Blick zu Jean-Luc. »Ich bin aus Schottland. Da lebe ich in einem Schloss.«
Bethany ging zu ihr. »Ich habe ein Schloss in meinem Zimmer. Es ist rosa.«
Emma beugte sich zu ihr. »Super. Das würde ich mir gern ansehen.«
Bethany sah zu ihrer Mutter. »Kann ich es ihr zeigen?«
»Natürlich.« Heather streckte ihre Arme aus. »Lass mich dir einen Gutenachtkuss geben.«
Bethany warf sich in ihre Arme, und Heather fuhr fort: »Bleib nicht zu lange auf.«
»Okay.« Bethany wendete sich zu ihrer neuen Freundin. »Ich habe auch ein Puppenhaus.«
»Das habe ich schon gesehen.« Emma nahm Bethanys Hand, um sie nach oben zu führen. »Es ist richtig groß.«
»Drinnen lebt eine Familie«, verkündete Bethany, während sie die Treppe eine Stufe nach der anderen erklomm. »Es gibt eine Mommy und ein kleines Mädchen.«
»Verstehe«, murmelte Emma.
»Es gab auch einen Daddy«, fügte Bethany hinzu, »aber die Mutter hat ihn rausgeworfen.«
Heather zuckte zusammen.
»Es geht ihm aber gut«, erklärte Bethany, als sie oben angekommen war. »Er lebt jetzt im Wandschrank.«
Heather legte eine Hand auf den Mund, um nicht aufzustöhnen.
»Der Wandschrank ist noch zu gut für ihn«, flüsterte Jean-Luc.
Erst jetzt merkte sie, dass er direkt hinter ihr stand und wirbelte herum. Hitze brannte auf ihren Wangen. Okay, er konnte sie beschützen, aber es gefiel ihr noch nicht, dass er so viel über ihr Privatleben erfuhr. »Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich nicht bei Ihnen bleiben konnte. Bethany hat in letzter Zeit zu viel durchgemacht.«
»Wie lange ist Ihre Scheidung her?«
»Sie ist seit etwas über einem Jahr vor Gericht durch, aber wir sind schon vor zwei Jahren hierhergezogen.« Heather seufzte und ging zur Couch. »Meine Mutter war gerade gestorben und hatte mir das Haus hinterlassen. Gott sei Dank konnten wir hierherkommen.« Sie setzte sich auf die Couch. »Nicht alle Frauen haben so viel Glück.«
»Sie hatten nicht so viel Glück mit Ihrer Ehe.« Jean-Luc setzte sich wieder in den Ohrensessel.
»Cody ist ein Vollidiot, das schon, aber ich kann es nicht bereuen.« Sie zog das Chenillekissen auf ihren Schoß. »Ich habe Bethany.«
Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie blinzelte sie weg, um vor diesem Kerl, den sie kaum kannte, nicht zu verletzlich zu erscheinen. Aber es verging kein Tag, an dem sie Gott nicht wieder und wieder für ihre Tochter dankte.
Wegen ihrer Tochter hatte sie weitergekämpft, als ihre Situation schon ausweglos erschien. Bethany hatte sie davon abgehalten, in Selbstmitleid und Verzweiflung zu versinken, denn sie hatte sich gesträubt, vor ihrer Tochter schwach oder unsicher zu wirken.
Jean-Luc beugte sich vor und stützte seine Ellenbogen auf seine Knie. »Sie sind eine gute Mutter. Bethany hat Glück, Sie zu haben.«
Was für ein tolles Kompliment. Es wäre so leicht, sich in einen Kerl wie ihn zu verlieben, aber sie wusste immer noch so wenig von ihm. Deshalb saß sie nach Mitternacht noch hier auf der Couch, obwohl sie vollkommen erschöpft war. Sie musste mehr über diesen Schwerter schwingenden, geheimnisvollen Mann im Smoking herausfinden, der darauf bestand, sie zu beschützen.
Sie atmete tief durch. »Wie lange ermordet Louie schon ihre Freundinnen?«
»Eine lange Zeit.« Mit einem Stirnrunzeln zog er an seiner schwarzen Fliege, bis sie sich löste. »Aber ich versichere Ihnen, dass ich nicht zulassen werde, dass er Ihnen oder Ihrer Tochter schadet. Seine Schreckensherrschaft hat ein Ende.«
Sein Stirnrunzeln verwandelte sich plötzlich in einen Ausdruck der Erleichterung und Hoffnung. »Die Todeskarte. Natürlich. Sie verheißt seinen Tod.«
»Wie bitte?«
Er deute auf den Stapel Tarotkarten. »Ich habe mir die letzte Karte angesehen. Es war der Tod. Ich habe nichts gesagt, weil ich Sie nicht beunruhigen wollte.«
Heather lachte. »Die Todeskarte macht mir keine Angst, die habe ich in den letzten zwei Jahren selber andauernd gezogen. Sie bedeutet nicht wirklich den Tod, sondern eine Wiedergeburt. Wie der Tod meiner Ehe mir zum Beispiel erlaubt hat, noch einmal von vorne anzufangen.«
»Ah.« Er nickte. »Das klingt viel besser. Ich hoffe, auch mir wird ein Neuanfang gewährt.«
»Wirklich?« Das kam ihr merkwürdig vor. War er nicht bereits reich und erfolgreich? Aber Geld und Erfolg bedeuteten auch nicht immer Glück. Was hatten die Karten über ihn gesagt? Der arme Mann war einsam. Das ergab einen Sinn, wenn er wegen Louie keine Beziehungen einging. »Wenn sie Louie... loswerden können, dann können Sie Ihr Leben zurückbekommen. Sie könnten Ihren Neuanfang haben.«
Er rutschte auf dem Sessel nach vorn. »So weit voraus habe ich nicht geplant. Ich bedaure es, dass Sie jetzt in Gefahr sind, und meine erste Aufgabe ist es, Sie zu beschützen.«
»Aber es könnte auch sein Gutes haben, dass er zurückgekehrt ist. Sie können diesen Mist ein für alle Mal bereinigen und danach frei sein und Ihr Leben genießen.« Und aufhören, einsam zu sein.
»Sie malen mir eine verlockende Zukunft aus, dennoch würde ich sie gerne aufgeben, wenn das bedeutet, dass Sie nicht länger von Lui bedroht werden.«
Heather musste schlucken. Was für ein selbstloser, ehrbarer Mann. Er schien zu gut, um wahr zu sein. Was hatte die Mondkarte bedeutet - Täuschung? Sie war schon vorher von Männern hintergangen worden, also musste sie vorsichtig sein. Aber die Karte konnte auch etwas Übernatürliches bedeuten. Ihre Theorie, dass er unsterblich war, brodelte immer noch in ihren Gedanken. Unglaublich attraktive, unsterbliche Männer, die versuchten, sich gegenseitig den Kopf abzuschlagen. Wäre dann nicht auch Louie unsterblich? Das würde jedenfalls diese alten Namen erklären, bei denen Jean-Luc ihn genannt hatte.
»Sie sind eine ungewöhnliche Frau«, sagte er ruhig.
Ungewöhnlich war wohl vor allem ihre Vorstellungskraft. »Ich bin ziemlich normal, glaube ich.«
»Nein. Ich spüre, dass Sie... böse auf mich sind, weil ich in Ihr Heim eingedrungen bin, aber Sie scheinen nicht böse darüber zu sei, dass ich Sie in Gefahr gebracht habe. Die meisten Frauen wären deswegen sehr wütend.«
»Aber das ist nicht Ihre Schuld. Sondern Louies.«
»Die meisten Frauen würden dennoch mir die Schuld geben.« Jean-Luc rieb sich die Stirn. »Und sie würden mir noch mehr Schuldgefühle einreden, als ich ohnehin habe. Aber Sie, Sie gehen einfach darüber hinweg, und Sie bleiben dabei so positiv. Und mutig.«
Seine Komplimente wärmten ihr das Herz, auch wenn es ihr schwerfiel, sie anzunehmen. Cody hatte gute Arbeit darin geleistet, ihr einen Minderwertigkeitskomplex einzureden. »Eigentlich bin ich mein ganzes Leben lang ein Feigling gewesen.«
»Ich habe heute Nacht gesehen, wie Sie Lui angegriffen haben. Sie waren sehr mutig.«
»Ich habe versucht, mich zu bessern. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich gemerkt, wie sehr ich zugelassen hatte, dass die Angst mein Leben kontrolliert. Sie hat mir meinen Lebenstraum geraubt. Meine Eltern umgebracht. Also habe ich der Angst den Krieg erklärt.«
In seinen Augen glänzte etwas, was sie nur als Bewunderung lesen konnte. »Sie sind eine Kämpferin. Das gefällt mir.«
Sie lächelte. Daran könnte sie sich wirklich gewöhnen. Cody hatte sie immer niedergemacht, um sich selbst besser zu fühlen. Aber Jean-Luc war anders. In ihm lag eine ruhige, selbstsichere Stärke, die aus ihm herausstrahlte. Sie war es, die ihn so attraktiv machte. Natürlich fand sie ihn attraktiv, stellte sie dann trocken fest. Er sorgte schließlich dafür, dass sie sich gut fühlte.
»Sie haben gesagt, dass die Angst Ihre Eltern umgebracht hat. Wie ist das möglich?«
Ihr Lächeln verschwand. »Das ist eine lange Geschichte.« Und eine schmerzhafte. Aber wenn sie sie Jean-Luc anvertraute, würde er ihr vielleicht auch von sich selbst erzählen. Oder sie würde ihn damit einschläfern.
»Ich würde sie gerne hören.« Er lehnte sich zurück und wartete.
Sie musste zugeben, dass sie gespannt war, wie er reagieren würde. Also atmete sie tief durch und legte los. »Mein Vater war der Sheriff dieser Stadt. Er war sehr gut in seinem Job, aber meine Mutter lebte ständig in Angst, dass er umgebracht werden würde. Sie hat ihm jahrelang in den Ohren gelegen, damit er kündigt.«
»Hat er?«, fragte Jean-Luc, scheinbar wirklich interessiert.
»Nein. Er wollte etwas verändern. Und das hat er getan.« Heather lächelte bei der Erinnerung daran. »Als ich etwa sechs Jahre alt war, gab es einen Jungen, der als vermisst gemeldet wurde. Alle haben versucht, ihn zu finden. Es gab keine Lösegeldforderung, also hat mein Dad geglaubt, dass er sich einfach in den Wäldern verlaufen hat.«
»Haben sie ihn gefunden?«
»Mein Dad hat Suchtrupps organisiert, aber sie hatten kein Glück. Dann hat er sich an eine Hellseherin aus einer Nachbarstadt gewendet, was ihm einigen Spott einbrachte. Einige der alten Frauen in der Stadt hielten Fidelia für so etwas wie eine Satansjüngerin, aber sie half meinem Dad, den Jungen zu finden.«
»Fidelia war die Hellseherin?«
»Jepp. Mein Dad brauchte Fidelias Hilfe nie wieder, aber meine Mutter war begeistert, jemanden gefunden zu haben, der ihr die Ruhe verschaffte, die sie brauchte.« Heather lehnte sich zurück und blickte an die Decke, während sie sich an die vielen Male erinnerte, die ihre Mutter sie zu Fidelias altem, baufälligem Haus schleifte. »Jede Woche sind wir zu ihr gegangen, und Fidelia verkündete, dass mein Dad eine weitere Woche sicher sei.«
»Wahrscheinlich nicht umsonst«, fügte Jean-Luc hinzu.
Heather lachte. »Mir war erst nachdem meine Mutter gestorben war klar, dass wir ihre Haupteinnahmequelle waren. Sie war pleite, und ich brauchte einen Babysitter, also haben wir uns zusammengerauft.«
Jean-Luc nickte. »Ich finde, Fidelia kümmert sich gut um Sie und Ihre Tochter.«
»Ja, das schon, solange sie nicht gerade jemanden erschießen will, um das auch zu beweisen.«
Jean-Luc lächelte. »Es spricht für Ihren Charakter, dass Sie solche Loyalität in jemandem hervorrufen.«
Heather atmete tief durch. Das musste das schönste Kompliment sein, das sie je bekommen hatte. Sie könnte wirklich süchtig nach Jean-Luc werden. »Danke.«
Er zuckte die Schultern, als sei es kein Wunder, dass ein Mann solche wundervollen Dinge sagte. »Sie sprachen von Ihrem Vater.«
»Oh, richtig. Als ich sechzehn war, bin ich mit meiner Mutter zu Fidelia gegangen. Ich habe in der Küche für einen Test gelernt. Dann hörte ich, wie im Wohnzimmer geschrien wurde.«
»Ein Streit?«, fragte Jean-Luc.
»Ein schlechtes Tarot. Fidelia hat versucht, meine Mutter zu beruhigen, aber nach zehn Jahren des Kartenlegens wusste meine Mutter, was die Karten bedeuteten. Sie drehte vollkommen durch. Als wir endlich zu Hause waren, war Mom total hysterisch. Sie rief Dad an und bestand darauf, dass er sofort nach Hause kommt. Er wusste, dass sie aufgebracht war, also fuhr er noch schnell beim Supermarkt vorbei, um Blumen zu kaufen.«
Heather rieb sich die Stirn und zögerte auf einmal, weiterzuerzählen. »Zwei Typen in Skimasken haben den Laden mit Pistolen gestürmt. Mein Dad hat versucht, sie aufzuhalten, und wurde... erschossen.«
»Das tut mir sehr leid.«
Heathers Augen füllten sich mit Tränen. »Wenn meine Mutter ihn nicht so aufgebracht angerufen hätte, wäre er nicht in dem Laden gewesen. Es war ihre Angst, die gewachsen und gewachsen ist, bis sie endlich wahr wurde.«
Jean-Luc stand auf und begann, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Er schien tief in Gedanken versunken.
Heather atmete tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie war im Leben zu weit gekommen, um sich jetzt in einen jammernden Schwächling zu verwandeln.
»Hat Ihre Mutter sich selbst die Schuld gegeben?«, fragte er ruhig.
»Nein, das ist ihr nie in den Sinn gekommen. Sie fühlte sich sogar im Recht, weil ihre Angst wahr geworden ist.«
Jean-Luc schüttelte den Kopf und ging weiter auf und ab.
Heather wollte nur zu gern wissen, was er dachte. »Meine Mutter wurde immer besessener von der Angst, aber mit einem neuen Ziel. Mir.«
Er hielt inne und sah sie an.
Heather senkte ihren Blick auf das Kissen in ihrem Schoß und zog an den Fransen. »Mein Traum, Schnitzelberg zu verlassen und Modedesignerin zu werden, wurde als zu gefährlich abgetan. Ich musste zu Hause bleiben und eine sichere Karriere anstreben. Der Junge, mit dem ich in der Highschool zusammen war, war zu gefährlich, weil er Polizist werden wollte.«
Sie grub ihre Finger in das Kissen, und eine Welle der Wut erfüllte sie plötzlich. »Ich habe zugelassen, dass Mom mich herumkommandiert. Sie war so traurig, nachdem Dad gestorben war, und ich wollte, dass sie glücklich ist. Aber sie war nie glücklich. Je mehr ich gegeben habe, desto mehr hat sie verlangt. Sie hat sogar meinen Ehemann für mich ausgesucht.«
»Cody?«
»Ja. Er war so verlässlich. So vorhersehbar. Und noch bevormundender als meine Mutter. Ich fühlte mich so erstickt, als ob jeder kreative Instinkt in mir langsam zu Tode gewürgt würde.«
Jean-Luc setzte sich neben sie auf die Couch. »Wenigstens haben Sie ein wunderschönes Kind.«
Heather lächelte. Mann, der Typ wusste echt genau, wann man das Richtige sagen musste. »Bethany macht alles gut. Sie ist wunderbar.«
»Was ist mit Ihrer Mutter passiert?«
»Fidelia hat sie eines Morgens angerufen. Sie hatte einen schlechten Traum über einen Autounfall. Meine Mutter hätte sie an dem Tag zum Kartenlegen treffen sollen, aber Fidelia hat sie angefleht, zu Hause zu bleiben. Also weigerte meine Mutter sich danach, überhaupt irgendwo hinzufahren. Sie rief mich jeden Tag an, damit ich Dinge für sie erledige, und ich hatte noch mein eigenes Haus und eine Zweijährige, um die ich mich kümmern musste. Es war sehr nervig, aber ich habe getan, was ich konnte.«
»Sie haben die Geduld einer Heiligen.«
»Sie meinen die eines Fußabtreters. Eines Tages ging meine Mutter vor die Tür, um die Post reinzuholen.« Heather deutete auf den Vorgarten. »Der Briefkasten ist draußen am Kantstein. Die Katze eines Nachbarn rannte auf die Straße, als gerade ein Auto vorbeifuhr. Der Fahrer ist ausgewichen, um die Katze nicht zu erwischen...«
»Und hat stattdessen ihre Mutter erwischt?«
»Nein, er hat es geschafft, rechtzeitig zu bremsen.« Heather drehte sich auf der Couch, um Jean-Luc ins Gesicht zu sehen. »Meine Mutter hatte solche Angst, war sich ihres eigenen Todes so sicher, dass sie einen Herzinfarkt erlitt. Es war die Angst, die sie umgebracht hat.«
»Wie schrecklich.«
»Das war es. Ich war am Boden zerstört. Aber gleichzeitig hatte ich eine plötzliche Erleuchtung.« Sie lehnte sich zu ihm. »Mir wurde klar, dass die Angst mein Leben kontrollierte. Angst war für den Tod meiner Eltern verantwortlich. Angst führte dazu, dass ich nur falsche Entscheidungen getroffen habe. Ich habe nicht gelebt. Ich habe mich in ein selbstgeschaffenes Gefängnis verkrochen!«
Er kniff die Augen zusammen. »Das verstehe ich. Nur zu gut.«
»Und da habe ich der Angst den Krieg erklärt. Am nächsten Tag habe ich die Scheidung eingereicht. Jeder dachte, dass ich mich der Trauer wegen komisch verhalte, aber es hat erst so etwas Schlimmes wie die Trauer gebraucht, um mir die Augen zu öffnen, damit ich mein Leben wieder selbst in die Hand nehme.«
Jean-Luc legte seine Hand auf ihre. »Sie wissen, was Sie tun müssen?«
»Hmm?« Es wurde schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, als sich seine schlanken Finger um ihre schlössen.
»Sie müssen Ihren Träumen nachgehen. Nehmen Sie den Job an, den ich Ihnen angeboten habe.«
»Ich will nicht, dass Sie denken, Sie seien mir etwas schuldig, nur wegen der Sache mit Louie.«
Er nahm ihre Hand in seine beiden. »Ich habe Ihnen den Job angeboten, ehe Lui aufgetaucht ist. Sie haben Talent, Heather. Es ist nicht zu spät, ihre Träume wahr werden zu lassen.«
»Wie schaffen Sie es nur, immer genau das Richtige zu sagen? Ich bin nicht daran gewohnt, dass Männer derart... klug sind.«
Sein Mund zuckte. »Ich nehme an, das soll ein Kompliment sein. Meine ganze Weisheit, so ich sie denn besitze, kommt daher, dass ich jahrelang die Menschen genau beobachtet habe. Sie leben und sie sterben, und ihre Leben sind so kurz und wertvoll. Ich weiß, dass Ihr Leben zu kurz ist, um es zu verschwenden.«
Wieder fragte sie sich, wie alt er wohl sein mochte. »Sie sind... sehr freundlich.« Sie zog ihre Hand aus seinem Griff. »Überhaupt nicht wie mein Ex. Ich schwöre, der Mann ist wie ein... Vampir.«
Jean-Luc versteifte sich. »No. Das ist er nicht.«
»Ich meine wie ein emotionaler Vampir. Er hat mich vollkommen ausgesaugt. Alle meine Träume, meine Selbstachtung, meinen Glauben, meine Energie - alles wurde mir ausgesaugt, bis nur noch ein lebloser Fußabtreter übrig geblieben ist.«
Jean-Luc sah sie verzweifelt an. »So stellen Sie sich einen Vampir vor?«
»Einen emotionalen, ja. Gott sei Dank gibt es diese echten, gruseligen Monster ja nicht wirklich.«
»Richtig.« Jean-Luc lockerte seinen Kragen.
»Aber Sie, Sie sind genau das Gegenteil.«
Er sah sie misstrauisch an. »Wie kann das sein?«
»Sie haben mir zugehört. Sie haben meine Geschichte akzeptiert, und auch meine Schlussfolgerungen. Sie haben meine Träume als etwas Wertvolles erkannt, und als etwas Lohnendes, und Sie wollen mir helfen. Sie gehen nicht über Leichen, um sich selbst besser dastehen zu lassen.« Sie berührte seinen Arm. »Sie sind ein guter Mensch, Jean-Luc. Danke.«
Er legte seine Hand auf ihre. »Sie glauben, ich bin gut?«
»Ja.« Sie lächelte. »Und ich sage das nicht nur, weil Sie mein neuer Boss sind.«
Er lächelte zurück. »Dann kommen Sie also Montag doch zur Arbeit?«
»Jepp.« Endlich konnte sie ihren Traum verwirklichen.
»Das freut mich.« Er drückte ihre Hand.
Ihr Herz fühlte sich so leicht an, als ob es jeden Moment an die Decke schweben könnte. Der freundliche Glanz in seinen Augen sah so ehrlich aus. Lieber Gott, hatte sie endlich den perfekten Mann gefunden? Einen Mann, der ihr half, ihre Träume wahr werden zu lassen?
Sein Blick senkte sich auf ihren Mund und wurde wärmer, während ihre Kehle trocken wurde. Das leichte, luftige Gefühl verdichtete sich und füllte sich an mit Begehren.
Mit einem Zucken fiel ihr auf, dass er sie küssen wollte. Eine ganze Flut aus Gefühlen überschwemmte sie, und ihr Herz begann zu rasen. Sie war geschmeichelt. Aufgeregt. Versucht. Starr vor Angst.
Sie sprang auf. »Zeit fürs Bett. Ich meine...« Ihre Wangen glühten vor Hitze. »Zeit, gute Nacht zu sagen.« Sie drückte sich an ihm und dem Couchtisch vorbei.
Er stand auf. »Wie Sie wünschen.«
»Gute Nacht, Jean-Luc.«
»Jean.«
Egal. Sie ging eilig in den Flur. Der Name Jean-Luc gefiel ihr viel besser. Er klang so wie ein Raumschiffkapitän, aber jünger. »Wenn Sie etwas aus der Küche brauchen, bedienen Sie sich einfach.«
»Danke.« Er folgte ihr. »Emma und ich werden kurz vor Sonnenaufgang aufbrechen. Ich fürchte, tagsüber werden Sie allein sein, bis Angus Ihnen eine Leibwache schicken kann.«
»Es wird schon gehen.« Sie ging die Treppe hinauf.
»Ich werde morgen Abend direkt nach Sonnenuntergang wiederkommen.«
Ihr Herz setzte aus. Sie würde ihren Samstagabend mit einem atemberaubenden Mann verbringen. »Okay.«
»Heather, einen Augenblick noch, bitte.«
Sie blieb mit der Hand auf dem Geländer stehen. »Ja?«
»Sie haben erwähnt, wie Fidelia auf der Suche nach dem vermissten Jungen geholfen hat. Wenn sie uns behilflich sein könnte, Lui zu finden, wäre das eine unglaubliche Hilfe.«
»Oh. Das ist eine gute Idee. Es wäre leichter, wenn sie etwas berühren könnte, was Louie gehört hat.«
Jean-Lucs Augen leuchteten auf. »Wir haben sein Schwert und den Stock, den er als Scheide benutzt hat. Ich bringe sie morgen Nacht mit.«
»Okay.« Sie blieb stehen und wusste nicht, was sie sagen sollte. »Gute Nacht.« Sie rannte die Treppe hinauf.
»Schlafen Sie gut, Heather.« Seine geflüsterten Worte folgten ihr und erreichten sie wie eine sanfte Liebkosung.
Sie schlüpfte mit klopfendem Herz in ihr Zimmer. Emma hatte sie gebeten, die Tür offen zu lassen, aber sie schloss sie fest. Sie brauchte eine Barriere zwischen sich und Jean-Luc. Er war zu attraktiv, zu verlockend, und zu verdammt geheimnisvoll. Sie wusste fast nichts über ihn, nur, dass er zu gut schien, um wahr zu sein. Er hatte eine Menge über sie erfahren in dieser Nacht. Und dennoch hatte er sie küssen wollen.
Sie hätte es zulassen sollen, rügte sie eine innere Stimme. Sie hätte keinen Rückzieher machen dürfen. Hatte sie nicht der Angst den Krieg erklärt? Aber sie musste auch vorsichtig sein. Was Männer anging, hatte sie einige schwerwiegende Fehler gemacht. Aber hatte sie aus ihnen nicht auch etwas gelernt?
Morgen Nacht würde er wiederkommen. Es gab also eine weitere Chance, ihn kennenzulernen. Und vielleicht, nur vielleicht, würde sie morgen Nacht zulassen, dass er sie küsste.