1. KAPITEL

 

Heather Lynn Westfield befand sich im Paradies. Wer hätte gedacht, dass ein berühmter Modedesigner aus Paris ausgerechnet mitten in Texas Hill Country einen schicken Laden eröffnen würde? Egal, wovon Jean-Luc Echarpe betrunken war, als er diese Entscheidung getroffen hatte, es musste stark genug gewesen sein, um einem die Socken auszuziehen. In seinem Fall zweihundert Dollar teure Seidensocken, bestickt mit seinem Markenzeichen, der berühmten Fleur-de-Lys.

Heather wollte sich irgendein Andenken kaufen, um sich immer an die große Eröffnung von Le Chique Echarpe zu erinnern, aber die Socken waren das preiswerteste, das sie finden konnte. Hmm, sollte sie etwas kaufen, das sie eigentlich nicht benötigte, oder die nächste Monatsrate für ihren Chevy mit Allradantrieb abbezahlen? Mit einem Schnaufen warf sie die Socken zurück in das Glasregal.

Plötzlich kam ihr eine brillante Alternative in den Sinn. Sie würde sich eines der kostenlosen Horsd’œuvre schnappen, es in eine Plastiktüte stecken, sie mit Echarpes große Eröffnung beschriften und sie für immer in ihrem Gefrierschrank aufbewahren.

»Heather, warum siehst du dir Herrensocken an?« Sashas verblüffter Blick wandelte sich zu einem wissenden Grinsen. »Oh, verstehe. Du kaufst etwas für deinen neuen Lover.«

Die Freundin lachte und schnappte sich ein Krabbenküchlein vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners. »Schön wär’s.« Sie hatte noch nie einen Liebhaber gehabt. Nicht einmal ihr Exehemann hatte diese Bezeichnung verdient. Sie wickelte das Krabbenküchlein in eine Papierserviette und verstaute es dann in ihrer kleinen schwarzen Handtasche.

Kundinnen in Abendkleidern, die mehr gekostet hatten als der Wiederaufbau von New Orleans, stolzierten im Laden umher. Ihre Stilettos klackerten auf dem grauen Marmorboden. Hoffentlich konnte keine von denen sehen, dass sie ihr schwarzes Cocktailkleid selbst genäht hatte.

Auf Glastresen waren Handtaschen und Schals ausgestellt, natürlich von Echarpe entworfen. Eine elegante Treppe schwang sich hinauf in den ersten Stock. Eine Wand des oberen Stockwerks bestand nur aus verspiegeltem Glas. Bei dem, was die Waren hier kosteten, gab es oben wahrscheinlich eine ganze Armee von Sicherheitsleuten, die wie Raubvögel über die Kundschaft wachte.

Die Wände im Erdgeschoss waren in einem hellen Grau gestrichen. An ihnen hingen eine Reihe Schwarz-Weiß-Fotos. Sie schlenderte hinüber, um sich die Bilder genauer anzusehen. Woah, Prinzessin Di in einer von Echarpes Abendroben. Marilyn Monroe in einem Kleid von Echarpe. Cary Grant in einem Echarpe-Smoking. Der Kerl kannte einfach jeden.

»Wie alt ist Echarpe?«, fragte Heather nachdenklich. »Mindestens siebzig Jahre?«

»Ich weiß nicht. Ich habe ihn nie getroffen.« Sasha drehte sich, als würde sie auf dem Laufsteg arbeiten, und sah sich dabei immer wieder um, ob jemand sie beobachtete.

»Du hast ihn nie getroffen? Aber du warst erst vor ein paar Wochen bei seiner Modenschau in Paris.« Heather und ihre alte Freundin Sasha hatten beide von glamourösen Karrieren in der Modewelt geträumt, als sie herausfanden, dass ihre Barbies immer viel cooler angezogen waren als die der anderen in der kleinen Stadt Schnitzelberg, Texas.

Heather war jetzt Lehrerin, während Sasha es zum erfolgreichen Laufstegmodel gebracht hatte. Heather schwankte zwischen enormem Stolz auf ihre Freundin und zögerlichem Neid.

Sasha schnaubte durch ihre chirurgisch verkürzte Nase. »Niemand bekommt Echarpe je zu Gesicht. Es ist, als wäre er vom Erdboden verschwunden. Manche sagen, er hat für sein Genie teuer bezahlen müssen und ist dem Wahnsinn verfallen.«

»Wie traurig.« Heather zuckte zusammen.

»Er hat aufgehört, seine eigenen Shows zu koordinieren. Und er wird sich bestimmt nichts aus einem Laden wie diesem irgendwo am Ende der Welt machen. Dafür hat er seine kleinen Angestellten.« Sasha deutete auf einen schlanken Mann am anderen Ende des Raumes und flüsterte: »Das ist Alberto Alberghini, Echarpes persönlicher Assistent, auch wenn man sich fragen darf, wie persönlich er ihn wirklich kennt.«

Heather betrachtete das lavendelfarbene Rüschenhemd des Mannes. Die Manschetten seines schwarzen Smokings waren mit ebenfalls lavendelfarbenen Perlen und Pailletten bestickt. »Verstehe.«

»Siehst du die zwei Frauen neben dem alten Mann mit dem Stock?« Sasha beugte sich näher zu ihrer Freundin.

»Ja.« Sie bemerkte zwei ausgezehrte Frauen mit blasser, makelloser Haut und langen Haaren.

»Das sind Simone und Inga, berühmte Models aus Paris. Manche sagen, dass Echarpe etwas mit ihnen am Laufen hat. Mit beiden.«

»Verstehe.« Vielleicht war Echarpe eher ein Hugh Hefner als ein Liberace. Heather betrachtete die beiden Models. Sie wog wahrscheinlich so viel wie die beiden zusammen. Unsinn. Größe 42 war ganz normal. Sie drehte sich um und bewunderte ein gewagtes rotes Abendkleid an einer weißen Schaufensterpuppe.

»Die Medien können sich nicht entscheiden, ob Echarpe nun schwul ist oder auf mehrere Partner gleichzeitig steht«, flüsterte Sasha.

Das Kleid war höchstens Größe 32. »Das wäre nichts für mich.«

»Ein Dreier? Hat mir auch nicht sehr gut gefallen.«

Heather blinzelte. »Wie bitte?«

»Wahrscheinlich hätte es mir besser gefallen, wenn es nur ich und zwei Männer gewesen wären. Es ist immer besser, im Mittelpunkt zu stehen, findest du nicht auch?«

»Wie bitte?«

»Aber bei meinem Glück würden die zwei Kerle eher aufeinander abfahren.« Sasha hob eine Hand und betrachtete sie. »Ich überlege mir, ob ich mir Kollagen in die Hand spritzen lasse. Meine Knöchel sind so knochig.«

Heather brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Du liebe Zeit, Sasha und sie hatten wirklich nicht mehr viel gemeinsam. Ihre Leben hatten sich nach der Highschool in vollkommen unterschiedliche Richtungen entwickelt. »Vielleicht könntest du statt Schönheitschirurgie etwas ganz Radikales versuchen. Iss etwas.«

Sasha bebte vor Lachen. Die Männer im Raum drehten sich zu ihr um, und sie belohnte sie, indem sie ihre langen blonden Haare über die Schulter warf. »Du bist echt der Brüller, Heather. Aber ich esse doch etwas. Ich schwöre dir, ich habe überhaupt keine Selbstkontrolle. Heute Abend habe ich zwei ganze Pilze gegessen.«

»Du gehörst ausgepeitscht.«

»Ich weiß. Komm, ich zeig dir das neue Kleid, das ich bald vorführen werde.« Sasha führte sie zu einer grauen Schaufensterpuppe, die auf einem glänzenden schwarzen Würfel stand. Die Puppe trug eine atemberaubende weiße Robe ohne Rücken, mit einem Ausschnitt, der bis zum Nabel hinabreichte.

Heather machte große Augen. Nicht in hundert Jahren hätte sie den Mut, so ein Kleid zu tragen. Und auch in hundert Jahren würde sie niemanden finden, der sie in so einem Kleid sehen wollte. »Wow.«

»Es ist aus einem sehr anschmiegsamen Stoff«, erklärte Sasha, »also kann ich nichts darunter tragen. Das ist unglaublich sexy.«

»Klar.«

»Vielleicht trage ich es auf der Wohltätigkeitsshow in zwei Wochen.«

»Davon habe ich gehört.« Der Erlös ging an den örtlichen Schulbezirk, Heathers Arbeitgeber. »Es war wirklich nett von Echarpe, das zu tun.«

Sasha fuchtelte mit einer knochigen Hand. »Oh, er hat eigentlich nichts damit zu tun. Alberto hat das alles auf die Beine gestellt. Egal, ich bin so froh, an der Show teilnehmen zu können.«

»Gratuliere. Ich hoffe, ich kann zusehen.«

»Ich bin nur ein Mal auf dem Laufsteg.« Sasha schob ihre aufgespritzte Unterlippe vor. »Es ist einfach nicht fair. Simone und Inga bekommen jede zwei Läufe.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Ich habe versucht, mir darüber keine Gedanken zu machen, weil man davon bloß Falten bekommt. Aber ehrlich, mit wem muss man wohl schlafen, um hier ein wenig Respekt entgegengebracht zu bekommen?«

Heather hob die Schultern. »Warum Redest du nicht einfach mit Alberto?«

»Oh. Das ist eine gute Idee.« Sie winkte dem jungen Mann.

»Sasha, Darling, du siehst fantastisch aus.« Alberto eilte zu ihnen und küsste sie auf beide Wangen.

»Das ist meine Freundin aus der Highschool, Heather Lynn Westfield«, stellte Sasha vor.

»Wie geht es Ihnen?« Heather lächelte und streckte eine Hand aus.

Alberto verbeugte sich und gab ihr einen Handkuss. »Hoch erfreut.« Dann bemerkte er ihr Kleid, und seine Augen weiteten sich erstaunt.

Mist, sie fühlte sich wie ein Hinterwäldler. Heather öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Sasha kam ihr zuvor.

»Alberto, Darling, können wir irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind?« Sasha legte ihre Hand auf seinen Arm und warf ihm unter ihren falschen Wimpern einen lodernden Blick zu. »Ich würde mich gern... unterhalten.«

Albertos Blick klebte auf Sashas tiefem Ausschnitt. »Ich habe hier ein Büro. Da können wir uns... unterhalten.«

»Das wäre wunderbar.« Sasha lehnte sich gekonnt an das Objekt ihrer Begierde, sodass ihre Brüste sich gegen seinen Arm drückten. »Ich muss unbedingt... reden.«

Heather sah fasziniert zu. Es war wie in einer Live-Soap. War Sasha beleidigt, weil Alberto sich nur mit ihren Brüsten unterhielt? Waren ihre Brüste echt? Würde sie ihm eine Ohrfeige verpassen oder mit in sein Büro gehen? Und was war mit Alberto? War er schwul oder metrosexuell? Würden sie wirklich reden?

Alberto führte Sasha durch den Laden. Heather seufzte. Die Show war vorüber. Sie war immer nur ein Zuschauer, nie der Teilnehmer am Geschehen.

Die Freundin sah sich zu ihr um und formte mit den Lippen das Wort »Bingo«.

Heather nickte und hatte plötzlich ein Déjà-vu. Es war wieder genau wie in der Highschool. Sexy Sasha knutschte im Klassenzimmer, und die hilfreiche Heather drückte sich bei den Schließfächern rum und hielt Wache. Würde das immer so bleiben? Warum konnte sie nicht ein einziges Mal die Wagemutige sein? Warum konnte sie nicht eines von diesen sexy freizügigen Kleidern anhaben?

Na ja, zuerst einmal konnte sie es sich nicht leisten. Und sie war einfach nicht schmal genug dafür. Sie umkreiste das Kleid, von dem Sasha gesprochen hatte. War doch egal, dass sie es nicht tragen oder kaufen konnte. Sie konnte sich etwas Ähnliches selber machen. Und sie konnte das wahrscheinlich für etwa fünfzig Dollar tun.

Weiß war noch nie eine gute Farbe für sie. Sie war zu blass und sommersprossig. Nein, sie würde es stattdessen in Mitternachtsblau nähen. Und statt den Ausschnitt bis zum Nabel zu schneidern, würde sie ihn am Brustansatz enden lassen. Und sie würde dem Kleid einen Rücken verpassen. Und Ärmel. Die Ideen kamen schneller, als sie darüber nachdenken konnte. Sie öffnete ihre Handtasche und fand einen Stift und einen Notizblock, den sie beim letzten Gartenwerkzeug-Ausverkauf im Haushaltswarenladen von Schnitzelberg dazubekommen hatte.

Jean-Luc Echarpe konnte seine Preisschilder von mehreren Tausend Dollar nehmen und sie vom Eiffelturm werfen. Sie war vielleicht eine von Les Misérables, aber sie musste nicht auch so aussehen.

****

»Auf Jean-Luc und die Eröffnung seiner fünften Boutique in Amerika.« Roman Draganesti hob ein Champagnerglas, gefüllt mit Bubbly Blood.

»Auf Jean-Luc«, erwiderten die anderen und stießen mit den Gläsern an.

Jean-Luc nahm einen kleinen Schluck und stellte sein Glas dann zur Seite. Die Mischung aus synthetischem Blut und Champagner hob seine Stimmung auch nicht. »Danke für euer Erscheinen, mes amis. Es hilft, dieses Exil etwas leichter zu ertragen.«

»So darfst du darüber nicht denken, Alter.« Gregori klopfte ihm auf den Rücken. »Das hier ist eine großartige Gelegenheit für dein Geschäft.«

Jean-Luc warf Romans Vizepräsidenten der Marketingabteilung einen genervten Blick zu. »Es ist ein Exil.«

»Nein, nein, es nennt sich: ›den Markt erweitern‹. In Texas leben jede Menge Leute, und wir können davon ausgehen, dass sie alle Kleidung tragen. Wenigstens die meisten. Ich habe über diesen See in Austin gehört, wo sie...«

»Warum Texas?«, unterbrach ihn Roman. »Shanna und ich hatten gehofft, dass du in New York bleibst, bei uns in der Nähe.«

Jean-Luc seufzte. Paris war, wenn man ihn fragte, die Mitte des Universums, und jeder andere Ort würde ihm im Vergleich dazu öde erscheinen. Aber New York City wäre seine zweite Wahl gewesen. »Ich wünschte, ich könnte, mon ami, aber die Medien in New York kennen mich zu gut. Das Gleiche in Los Angeles.«

»Aye«, stimmte Angus MacKay zu. »Keiner von diesen Orten wäre infrage gekommen. Jean-Luc muss...«

»Ich schwöre, Angus«, unterbrach ihn Jean-Luc, »wenn du nur ein einziges Mal sagst ›Ich habe dich gewarnt‹, dann ramme ich dir eines von deinen Breitschwertern in den Hals.«

Angus hob einfach eine Augenbraue und forderte ihn damit heraus, das ruhig zu versuchen. »Ich habe dich aber schon vor zehn Jahren gewarnt. Und dann wieder vor fünf.«

»Ich hatte damit zu tun, mein Geschäft aufzubauen«, ereiferte sich Jean-Luc. Er hatte 1922 angefangen und nur für Vampire Abendkleider entworfen, 1933 erweiterte er dann sein Geschäft und stattete auch die Elite von Hollywood aus. Nachdem er gemerkt hatte, wie sehr die Sterblichen seine Entwürfe liebten, wagte er seinen größten Schachzug 1975. Er fing an, alle möglichen Kleidungsstücke zu entwerfen und sie der breiten Masse zu verkaufen. Bald wurde er in der Welt der Sterblichen zu einer Berühmtheit. Die letzten dreißig Jahre waren in einem Wirbelsturm aus Erfolg an ihm vorbeigezogen. Wenn man ein mehr als fünfhundert Jahre alter Vampir war, vergingen die Jahre mit einem Augenzwinkern.

Angus MacKay hatte ihn gewarnt. Er selbst hatte sein Ermittlungs- und Sicherheits-Unternehmen 1927 eröffnet und gab sich jetzt als Enkel des Gründers aus.

Jean-Luc nahm eine Ausgabe der Le Monde von seinem Schreibtisch. »Habt ihr schon das Neueste gesehen?«

»Gib her.« Robby MacKay griff nach der Pariser Zeitung und überflog den Artikel. Er war ein Nachkomme von Angus und arbeitete jetzt für seine Firma. Die letzten zehn Jahre hatte er für die Sicherheit von Jean-Luc gesorgt.

»Was steht drin?« Gregori linste über Robbys Schulter.

Robby runzelte die Stirn, während er übersetzte. »Jeder in Paris fragt sich, warum Jean-Luc seit mehr als dreißig Jahren nicht gealtert ist. Manche sagen, dass er ein Dutzend Mal unter dem Messer gelegen hat, und andere glauben, er hat den Jungbrunnen entdeckt. Er ist auf der Flucht, aber niemand weiß, wohin. Manche glauben, er versteckt sich in einem Irrenhaus und erholt sich von einem Nervenzusammenbruch, andere sagen, er unterzieht sich gerade einem weiteren Facelifting.«

Der Modedesigner stöhnte und ließ sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen.

»Ich habe dich gewarnt, dass so was passieren kann.« Angus wich nach rechts aus, als Jean-Luc ein Lineal nach ihm warf.

Roman lachte leise. »Mach dir keine Sorgen, Jean-Luc. Sterbliche haben sehr kurze Aufmerksamkeitsspannen. Wenn du dich eine Zeit lang versteckst, werden sie dich einfach vergessen.«

»Und sie werden vergessen, meine Waren zu kaufen«, knurrte Jean-Luc. »Ich bin ruiniert.«

»Du bist nicht ruiniert«, wendete Angus ein. »Du hast jetzt fünf Filialen in Amerika.«

»Geschäfte, die die Kleidung eines Designers verkaufen, der verschwunden ist«, grollte Jean-Luc. »Für dich ist es leicht, Angus. Deine Firma existiert im Geheimen. Aber wenn ich verschwinde, dann verschwindet das Interesse an meiner Mode vielleicht gleich mit.«

»Wir könnten der Presse mitteilen, dass du dich wirklich einer Schönheitsoperation unterzogen hast«, bot Robby ihm an. »Es könnte den Spekulationen ein Ende bereiten.«

»Non. » Jean-Luc starrte ihn wütend an.

Gregori grinste. »Oder wir sagen denen, du bist in einer Anstalt eingesperrt und vollkommen durchgeknallt. Das würde uns jeder abkaufen.«

Jean-Luc betrachtete den Freund, eine Augenbraue leicht angehoben. »Oder ich sage denen, dass ich im Gefängnis sitze, weil ich einen gewissen nervenaufreibenden Vizepräsidenten umgebracht habe.«

»Dafür hast du meine Stimme«, unterstützte Angus ihn.

»Hey.« Gregori rückte seine Krawatte zurecht. »Ich hab nur einen Witz gemacht.«

»Ich nicht«, murmelte Jean-Luc.

Angus lachte. »Was du auch tust, Jean-Luc, lass niemanden ein Foto von dir machen. Du musst wenigstens fünfundzwanzig Jahre versteckt bleiben. Dann kannst du nach Paris zurückkehren und dich als dein eigener Sohn ausgeben.«

Jean-Luc sank tiefer in seinen Sessel und starrte trauernd an die Decke. »Im Exil in einem Land der Barbaren, und das für fünfundzwanzig Jahre. Bringt mich einfach um.«

Jetzt konnte Roman sich ein Lachen nicht verkneifen. »Texas ist kein Land der Barbaren.«

So leicht ließ sich Jean-Luc jedoch nicht überzeugen. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe die Filme gesehen. Schießereien, Indianer, und immer wieder kämpfen sie um einen Ort namens Alamo.«

Gregori schnaufte. »Alter, du hinkst den Ereignissen so was von hinterher.«

»Glaubst du? Hast du die Leute da unten gesehen?« Jean-Luc stand auf und trat ans Fenster seines Büros, das einen Überblick über den gesamten Laden ermöglichte. »Die Männer tragen Stricke um den Hals.«

»Das sind Krawatten.« Gregori warf ebenfalls einen Blick nach unten. »Mann, du bist hier echt in Texas. Da unten trägt einer eine Smoking-Jacke zu Blue Jeans. Und Cowboystiefel.«

»Sie müssen Barbaren sein. Sie tragen ihre Hüte im Haus.« Jean-Luc runzelte die Stirn. »Sie erinnern mich an den Dreizack, den Napoleon getragen hat, aber sie tragen ihn seitwärts.«

»Das sind Cowboyhüte, Alter. Aber was regst du dich auf? Sieh hin, sie geben Geld aus. Jede Menge Geld.«

Jean-Luc lehnte seine Stirn gegen das kühle Glas. Nach der Wohltätigkeitsshow in zwei Wochen würden Simone, Inga und Alberto nach Paris zurückkehren. Dann würde Jean-Luc den Laden mit der Ausrede schließen, dass er nur Verluste einfuhr. Seine anderen Filialen von Le Chique Echarpe in Paris, New York, South Beach, Chicago und Hollywood würden hoffentlich florieren, aber dieses Gebäude in Texas würde leer stehen und vergessen werden. Von hier aus konnte er weiterhin Kleidung entwerfen und das Geschäft betreuen, aber sein Gesicht musste in Vergessenheit geraten. Fünfundzwanzig lange Jahre durfte er sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen. »Bringt mich einfach um.«

»Nay«, sagte Angus. »Du bist der beste Schwertkämpfer, den wir haben, und Casimir hält sich immer noch irgendwo versteckt und baut seine Armee des Bösen aus.«

»Richtig.« Jean-Luc sah seinen alten Freund schief an. »Was für eine Verschwendung, hier zu sterben, wenn ich es auch auf dem Schlachtfeld tun kann.«

Angus’ Mund zuckte. »Aye, ganz genau.«

Der Summer an der Bürotür erklang.

»Deine Frau, Angus«, verkündete Robby, als er die Tür öffnete.

Mit einem Lächeln auf den Lippen begrüßte Angus seine Frau Emma.

Mist. Jean-Luc wendete den Blick ab. Erst Roman, und jetzt Angus. Beide verheiratet und schwer verliebt. Es war einfach peinlich. Zwei der mächtigsten Meister der Vampirwelt, abgestürzt zu liebenden Ehemännern. Jean-Luc wollte sie bedauern, aber der traurigen Wahrheit entsprach, dass er einfach eifersüchtig war. Verdammt eifersüchtig. Diese Art von Glück würde ihm nie vergönnt sein.

»Hi, Leute!« Emma MacKay kam ins Büro und eilte direkt in die Arme ihres Mannes. »Ratet mal? Ich habe eine total niedliche Handtasche gekauft. Alberto packt sie gerade für mich ein.«

»Noch eine Handtasche?« Angus war für einen kurzen Moment sprachlos. »Hast du nicht schon ein Dutzend?«

Jean-Luc warf einen Blick durch das Fenster und sah, welche Handtasche Alberto verpackte. »Gute Nachrichten, Angus. Es ist eine meiner preisgünstigeren Modelle.«

»Och, sehr gut.« Angus umarmte seine Frau.

Jean-Luc lächelte. »Oui, sie kostet nur achthundert Dollar.«

Angus trat mit schreckensgeweiteten Augen einen Schritt zurück. »Vergiss die verdammte Armee. Ich spieße dich eigenhändig auf.«

»Du kannst es dir leisten, Angus«, feixte Roman.

»Du dir auch.« Jean-Luc lächelte seinen alten Freund verschmitzt an. »Hast du gesehen, was deine Frau alles kauft?«

Roman eilte ans Fenster und sah im Geschäft unter ihnen nach seiner Frau. »Blut Gottes«, flüsterte er.

Shanna Draganesti trug ihren siebzehn Monate alten Jungen auf ihrer Hüfte, während sie seine Kinderkarre mit Kleidung, Schuhen und Handtaschen füllte.

»Sie hat einen guten Geschmack«, merkte Jean-Luc an, »du solltest stolz sein.«

»Ich werde pleite sein.« Roman sah verzweifelt zu, wie der Berg in der Kinderkarre immer höher wurde.

Jean-Luc ließ seinen Blick über die Ausstellung schweifen. So sehr er auch über sein selbst auferlegtes Exil grollte, er war mit dem Gefängnis, das er sich selbst entworfen hatte, zufrieden. Es lag inmitten texanischer Hügel. Die nächste Stadt war Schnitzelberg, vor hundertfünfzig Jahren von deutschen Einwanderern gegründet. Es war eine schläfrige, vergessene Stadt, voll von mit Moos überzogenen Roteichen und weißen Queen-Anne-Häusern mit Spitzenvorhängen.

Alle seine Filialen in Amerika ähnelten sich im Design, aber die in Texas war etwas Besonderes. Sie verbarg ein riesiges unterirdisches Reich, in dem Jean-Luc sich während seines Exils verstecken konnte. Es war von höchster Wichtigkeit, dieses Reich geheim zu halten, also hatte Jean-Lucs sterblicher Assistent, Alberto, eine Übereinkunft mit dem Bauunternehmer getroffen, der dafür verantwortlich war. Der Unternehmer war Teil des lokalen Schulausschusses, also hatte Jean-Luc sich einverstanden erklärt, durch die bevorstehende Wohltätigkeitsmodenschau eine saftige Spende für den Schulbezirk zu leisten. Solange Jean-Luc sich Schnitzelberg gegenüber großzügig zeigte, würden sie kein Wort über den bankrotten Laden am Rande der Stadt verlieren, der einem Ausländer gehörte.

Nur um sicherzugehen, hatte sich Robby in das Büro des Bauunternehmers teleportiert und alle Blaupausen und andere Papiere, die mit dem Bau zu tun hatten, entfernt. Nach der Wohltätigkeitsshow würden Robby und Jean-Luc einige Erinnerungen auslöschen, und niemand würde sich daran erinnern, dass es unter dem verlassenen Geschäft noch einen riesigen Keller gab. Pierre, ein Sterblicher, der für MacKay Security and Investigation arbeitete, war mit der Aufgabe betraut, das Gebäude während des Tages zu bewachen, wenn Jean-Luc in seinem Todesschlaf lag.

Er beobachtete die Party unter ihm. Simone und Inga flirteten mit einem weißhaarigen älteren Mann, der über einen Stock gebeugt stand. Er musste reich sein, sonst würden sie seine Zeit nicht mit ihm verschwenden.

Jean-Luc ließ seinen Blick durch den Laden wandern. Er hatte es schon immer gemocht, Leute zu beobachten. Der Gedanke, dass dieses Gebäude die nächsten fünfundzwanzig Jahre leer stehen würde, war verdammt deprimierend. Ach, egal, er war an die Einsamkeit gewöhnt.

Er entdeckte das neue Model, das Alberto für seine letzte Show in Paris gebucht hatte. Sasha Saladine. Sie sprach mit jemandem, der hinter einer Schaufensterpuppe verborgen stand. Alberto trat zu ihnen, und Sasha stellte ihre Begleitung vor. Alberto nahm elegant die ihm angebotene Hand und küsste sie. Eine Frau. Mit einem Arm, der nicht dünn wie ein Bleistift war. Sie war kein Model. Dann wohl eine Kundin. Wahrscheinlich sterblich.

Alberto und Sasha schlenderten gemeinsam davon und verließen die Ausstellung. Was hatten die beiden vor? Jean-Luc vergaß, darüber nachzudenken, denn sein Blick fiel erneut auf Sashas Begleitung. Die Frau trat aus dem Schatten, und ihm stockte der Atem. Sie hatte Kurven. Und Brüste. Einen Hintern, an dem ein Mann sich festhalten konnte. Und eine Mähne aus lockigem rotbraunem Haar, die sich über ihre Schultern zu ergießen schien. Sie erinnerte ihn an Mägde in mittelalterlichen Tavernen, die herzlich lachten und wild und ungezwungen liebten. Mon Dieu, wie hatten ihm diese Frauen früher gefallen.

Sie war wie die alten Filmstars, für die er so gerne Kleidung entworfen hatte. Marilyn Monroe, Ava Gardner. Sein Kopf mochte Kleider in Größe 30 entwerfen, aber der Rest von ihm sehnte sich nach einer sinnlichen, üppig ausgestatteten Frau. Und hier war eine wunderschöne direkt vor ihm. Ihr schwarzes Kleid schmiegte sich an eine fantastische Stundenglasfigur. Und doch blieb das Wichtigste, ihr Gesicht, noch immer verborgen. Er bewegte sich nach links und blickte angestrengt durch die Scheibe.

Da erhaschte er wenigstens einen Blick auf ihre Stupsnase, deren Spitze leicht nach oben zeigte. Keine klassische Nase, wie all seine Models sie hatten, doch er mochte sie. Sie war natürlich und... niedlich. Niedlich? Kein Wort, das er je für seine Models benutzen würde. Sie strebten alle nach Perfektion, sogar wenn sie nachhelfen mussten, aber das Ergebnis war bloß, dass sie alle gleich aussahen. Und auf der Suche nach Perfektion ging ihnen etwas verloren. Sie verloren ihren Sinn für Persönlichkeit und ihren einzigartigen Esprit.

Diese Frau, die seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, strich sich gerade ihr volles lockiges Haar hinter die Ohren. Sie hatte hohe breite Wangenknochen und einen fein geschwungenen Kiefer. Ihre Augen waren groß und blickten aufmerksam, als sie sich auf das weiße Abendkleid konzentrierte. Er fragte sich, welche Farbe ihre Augen hatten. Zu ihrem tief rotbraunen Haar waren sie hoffentlich grün. Ihre Lippen waren breit, aber fein geformt. Kein Kollagen. Sie war eine natürliche Schönheit. Ein Engel.

Sie zog einige Gegenstände aus ihrer Handtasche - einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber. Nein, einen Bleistift. Sie schrieb etwas auf. Nein, sie zeichnete. Er sperrte den Mund auf. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie zeichnete sein neues Abendkleid ab und stahl seinen Entwurf.

Jean-Luc kniff die Augen zusammen. Die hatte Nerven, einfach so vor allen anderen sein Kleid zu kopieren. Wer zum Teufel war sie? War sie mit Sasha Saladine aus New York gekommen? Wahrscheinlich arbeitete sie für eines der anderen großen Modehäuser. Die hätten alle nur zu gern Kopien seiner neuesten Entwürfe.

» Merde.« Er griff sich seine Smoking-Jacke von der Lehne seines Schreibtischsessels.

»Wohin gehst du?«, fragte Robby, aufmerksam wie immer.

»Nach unten.« Jean-Luc zog sich rasch die Jacke über.

»In die Ausstellung?« Angus runzelte die Stirn. »Nay. Jemand könnte dich erkennen. Das solltest du nicht riskieren.«

»Das sind nur Leute, die hier wohnen. Die werden schon nicht wissen, wer ich bin.«

»Da kannst du dir nicht sicher sein.« Robby ging auf die Tür zu. »Wenn du etwas aus dem Laden willst, kann ich es dir bringen.«

»Es ist keine Sache. Es ist eine Person.« Jean-Luc deutete auf das Fenster. »Da unten ist ein Spion, der meine Entwürfe stiehlt.«

»Du machst Witze.« Emma rannte ans Fenster, um ebenfalls hinauszusehen. »Wo ist er?«

»Sie.« Jean-Luc sah aus dem Fenster. »Neben dem weißen - nein. Mist, sie ist zum roten Kleid weitergegangen.«

»Wir kümmern uns um sie.« Angus schloss sich Robby an der Tür an.

»Nein.« Jean-Luc schritt auf den Ausgang zu und blieb vor den zwei Schotten stehen, die ihm den Weg versperrten. »Bewegt euch. Ich muss herausfinden, wer sie bezahlt, um mich auszuspionieren.«

Mit einem stur angehobenen Kinn verschränkte Angus die Arme und weigerte sich, zur Seite zu treten.

Jean-Luc hob eine Augenbraue und sah seinen alten Freund an. »Deine Firma arbeitet für mich, Angus.«

»Aye, wir werden bezahlt, um dich zu beschützen, aber das können wir nicht, wenn du dich wie ein Volltrottel benimmst.«

»Und ich sage dir, diese Dorftrottel werden nicht wissen, wer ich bin. Alberto hat immer als mein Mittelsmann fungiert. Lass mich vorbei, ehe dieser verdammte Spion mit meinen Entwürfen abhaut.«

Angus seufzte. »In Ordnung, aber Robby geht mit dir.« Er flüsterte seinem Ur-Ur-Enkel einige Anweisungen zu. »Lass nicht zu, dass ihn jemand fotografiert. Und hab ein Auge auf ihn, er hat Feinde.«

Jean-Luc schnaubte, als er sein Büro verließ. Mit wenigen Schritten erreichte er die Hintertreppe. Hielt Angus ihn für einen Schwächling? Er konnte sehr gut selbst auf sich aufpassen. Sicher, er stand auf Casimirs Abschussliste, aber das taten sie alle. Und Jean-Luc hatte noch andere Feinde. Ein Mann konnte nicht mehr als fünfhundert Jahre leben, ohne ein paar andere Vampire wütend zu machen. Aber jetzt hatte er sich einen neuen Feind gemacht. Eine Diebin mit dem Gesicht eines Engels.

Er erreichte den Fuß der Treppe und eilte durch einen Seitenkorridor in die Ausstellung. Robbys Schritte donnerten hinter ihm die Treppe hinab.

Als Jean-Luc den Laden betrat, drehten sich einige Köpfe in seine Richtung und dann wieder weg. Gut. Niemand erkannte ihn. Der Duft verschiedener Blutgruppen strich an ihm vorbei. Die ganze Veranstaltung war ein süßes, appetitliches menschliches Buffet. Sich mit Menschen abzugeben, hatte seine Selbstkontrolle auf die Probe gestellt, bis Roman 1987 das synthetische Blut erfand. Jetzt sorgten Jean-Luc und seine Vampirfreunde einfach dafür, dass sie satt waren, ehe sie sich mit Sterblichen abgaben.

Er bemerkte, wie Robby sich am Rand des Raumes herumtrieb und nach Fotografen Ausschau hielt. Oder nach Attentätern. Jean-Luc ging um einen alten Mann mit Stock herum und auf die Diebin zu. Er blieb ein kurzes Stück hinter ihr stehen. Sie war groß, ihr Kopf reichte bis an sein Kinn. Der Duft ihres Blutes war frisch und süß. Sie war sterblich.

»Entschuldigen Sie bitte, Mademoiselle.«

Sie drehte sich um. Ihre Augen waren wirklich grün und weiteten sich jetzt unmerklich, als sie ihn ansah.

Es gab nichts Traurigeres als einen gefallenen Engel.

Mit gerunzelter Stirn fixierte er Heather. »Nennen Sie mir einen guten Grund, warum ich Sie nicht verhaften lassen sollte.«