22. KAPITEL
Heather eilte zu Bethany. Ian zog sein Schwert, und Fidelia nahm eine Pistole aus ihrer Handtasche.
Phil spähte durch den Fensterladen neben der Eingangstür. »Es ist ein Mann von UPS.« Er drückte einen Knopf an der Gegensprechanlage. »Legen sie die Pakete auf die Veranda.«
»Er könnte echt sein.« Ian legte die Schneide seines Schwertes an seine Schulter. »Jean-Luc hat Sonntagnacht ein paar Sachen online bestellt.«
»Was ist los, Mama?«, flüsterte Bethany und nahm Heathers Hand.
»Es ist... eine Überraschung.« Eine schöne, hoffte Heather.
Noch eine Weile beobachtete Phil das Geschehen. »Wir haben vier Pakete. Er geht jetzt. Bleibt zurück. Die Sonne ist aufgegangen.«
Ian suchte sich einen Platz weit von der Tür entfernt. Phil öffnete die Tür, und ein Sonnenstrahl fiel über den Boden des Ladens. Über dem leuchtenden Marmor tanzten goldene Staubflocken in der sonnendurchfluteten Luft.
Mit einem forschenden Blick zu Ian bemerkte Heather, wie seine Augen glänzten.
Schnell ging sie zu ihm. »Tut dir etwas weh?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist nur so lange her, seit ich Sonnenlicht gesehen habe. Ich dachte, ich würde es nie wieder sehen Es ist... so schön.«
Heather wendete sich ab. Es war schwer, ihre Vorurteile gegenüber Vampiren zu behalten. Der Lichtstrahl verschwand, als Phil hinausging und die Tür hinter sich schloss. Sie ging an das Fenster, aus dem Phil hinausgesehen hatte.
»Sie sollten nicht so nahe herangehen«, warnte Ian.
Glaubte er, die Pakete würden explodieren wie ihr Truck?
Vom Fenster aus beobachtete sie Phil, um sicherzugehen, dass es Phil gut ging. »Oh meine Güte, er riecht an den Paketen.«
»Phil kann Bomben riechen«, sagte Ian. »Bitte treten Sie zurück.«
»Phil kann...« Ihre Frage wurde unterbrochen, als die Tür sich öffnete und Phil ein Paket hineinschob.
»Das ist sicher.« Er schloss die Tür.
»Für wen ist es?« Bethany rannte vor, um es sich anzusehen.
»Bring es her.« Ian steckte sein Schwert weg und zog den kleinen Dolch aus seinem Strumpf. »Ich mach es für dich auf.«
Bethany schob die Schachtel zu Ian, gerade als Phil eine zweite hineinschob. »Das ist lustig!« Sie schob auch die zweite Schachtel zu Ian. »Mach auf!«
Ian hatte bereits das Klebeband an der ersten Schachtel durchgeschnitten. Er grub in Styroporkugeln und zog eine wunderschöne Puppe heraus, die ein aufwendig gearbeitetes Kleid trug.
Bethany quietschte und streckte die Arme aus. »Es ist für mich!«
»Liebe Güte«, flüsterte Heather und kam näher.
Ian zog mehrere Plastiktüten heraus, in denen bezaubernde Outfits für die Puppe steckten. »Och, man merkt, dass ein Modedesigner die ausgesucht hat. Sehr schick.«
»Ich finde sie toll!« Bethany drehte sich auf der Stelle und hielt die Puppe fest.
Heather drehte sich zu Fidelia um. »Wir können das nicht behalten.«
»Versuch sie deiner Tochter wegzunehmen«, schlug Fidelia wissend vor.
Es nützte nichts, sich etwas vorzumachen. »Er ist hinterhältig und manipulierend.«
»Ich würde sagen, er ist klug und großzügig«, murmelte Fidelia, »aber was weiß ich schon davon?«
Ian leerte die erste Schachtel und fand noch einige Bilderbücher. Heather seufzte. Jean-Luc würde einen ausgezeichneten Vater abgeben, wenn er kein Monster wäre. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass Roman schon Vater war. Was, wenn Jean-Luc die gleiche Prozedur nutzte? Konnte er dann wirklich Vater werden?
»Fertig.« Phil schob die letzten zwei Schachtel hinein und schloss die Eingangstür dann hinter sich.
In der Zwischenzeit hatte Ian die zweite Schachtel geöffnet. Darin befand sich ein antikes Spiel handgemalter Tarotkarten.
Fidelia drückte sie an ihre Brust. Sie sah Heather an. »Du bist loco, wenn du ihn gehen lässt.«
Ein grimmiger Blick strafte Fidelia sogleich. »Ich bin nicht käuflich.«
Ian öffnete die dritte Schachtel und zog etwas aus glänzendem schwarzen Taft heraus. Er gab es Heather.
Es war ein schwarzes Cocktailkleid, genau ihre Größe. Jean-Luc wollte wahrscheinlich das ersetzen, das er letzten Freitag zerrissen hatte. Sie bewunderte den klassischen Stil und die gute Handarbeit. Es hatte wahrscheinlich ein kleines Vermögen gekostet.
»Nicht käuflich?«, fragte Fidelia spöttisch.
»Nein.« Heather legte das Kleid in die Schachtel zurück. »Ich werde es zurückgeben.«
Ian machte sich an die vierte Schachtel und verschloss sie genauso schnell wieder. Mit roten Wangen schob er die Schachtel zu Heather. »Das ist auch für Sie.«
»Was hast du bekommen, Mama?« Bethany tänzelte zu ihr und schwenkte ihre Puppe durch die Luft.
Heather zog ein kleines Nichts aus roter Spitze heraus.
Ein BH. Sie stopfte ihn wieder in den Karton. »Nichts. Nur etwas zum Anziehen.«
»Oh.« Bethany drehte sich enttäuscht um.
»Lass mich sehen.« Fidelia drückte sich näher an sie.
Heather wühlte in dem Styropor herum und zog noch etwas heraus. Schwarze Spitzenunterwäsche. Sie stopfte sie schnell wieder in den Karton.
Fidelia lachte leise. »Dieser Jean-Luc. Hat es faustdick hinter den Ohren.«
Kopfschüttelnd überlegte Heather, ob er das alles Sonntagnacht bestellt hatte? War er die ganze Zeit darauf aus gewesen, sie zu verführen? Sie zog ein mitternachtsblaues Seidennachthemd heraus, das mit Spitze eingefasst war. Jepp, so war es wohl.
»Mmm, muy romantico«, flüsterte Fidelia.
Die Hitze des Errötens brannte auf ihrer Haut, während sie die Schachtel schloss. Sogar Ian und Phil sahen peinlich berührt aus. Sie betrachteten die Schatten an der Wand.
»Ich behalte das Zeug nicht.« Sie stapelte die zwei Schachteln säuberlich aufeinander. »Ich weigere mich, in seiner Schuld zu stehen.«
Fidelia schüttelte den Kopf. »Mir ist egal, was du sagst, ich gebe meine neuen Karten nicht zurück.«
Sie machten sich alle auf den Weg ins Designstudio. Die französischen Türen an der hinteren Wand waren mit Vorhängen verhängt worden. Die Möbel aus der Küche standen in einer vorderen Ecke, ein Stück entfernt von Heathers Nähmaschine. Sie konnte den ganzen Tag nähen, ohne Fidelia beim Fernsehen zu stören.
Der Morgen ging ohne weitere Vorfälle vorüber. Beim Mittagessen wurde es etwas gruselig, als Ian in die Küche geschlendert kam und etwas Rotes aus einem Glas trank.
Alberto schloss sich ihnen etwas später an. »Wissen Sie, wo Sasha sein könnte? Sie ist zu unserem Date nicht aufgetaucht.«
Heather zuckte mit den Schultern. »Sie ist in so einem Spa in San Antonio.«
»Ich habe dort angerufen, sie hat bereits ausgecheckt.«
»Oh.« Heather nahm einen Bissen von ihrem Truthahnsandwich, während sie nachdachte. »Ihre Mutter lebt in der Nähe. Sasha besucht sie vielleicht.« Oder sie wollte nur Alberto aus dem Weg gehen.
Von allen Seiten betrachtete er sein Sandwich. »Wahrscheinlich.«
»Ich bin mir sicher, zur Modenschau ist sie rechtzeitig wieder da«, beruhigte Heather ihn. »Die würde sie auf keinen Fall verpassen.«
Alberto nickte. »Wo Sie davon sprechen. Wir müssen einen Laufsteg in der Ausstellung vorbereiten. Kennen Sie hier im Ort irgendeinen Schreiner?«
Phil schüttelte den Kopf. »Wir wollen keine Fremden hier zum Arbeiten haben.«
»Ich habe eine Idee.« Heather trug ihren Teller zur Spüle. »Die Schule, an der ich unterrichte, hat letztes Jahr ein Musical aufgeführt. Dafür haben sie einen Laufsteg durch den Orchestergraben gebaut. Ich könnte fragen, ob wir den haben können.«
»Gut.« Alberto sah erleichtert aus. »Versuchen Sie, uns den zu besorgen. Ich arbeite an der Gästeliste.«
»Nicht mehr als zwanzig«, warnte Ian ihn.
Alberto schnaufte. »Das ist lächerlich!«
Ian hob eine Augenbraue. »Das sagen Sie noch, nach dem, was Pierre geschehen ist?«
»Aber wenn ich die Mitglieder des Schulausschusses eingeladen habe und den Bürgermeister, und den Stadtrat, sind das schon fast zwanzig Gäste«, protestierte Alberto.
»Die Show wird klein«, wiederholte Ian. »Jean-Lucs Befehl. Sicherheit geht vor.«
Alberto verließ murrend den Raum.
Die anderen kehrten ins Studio zurück, wo Heather arbeitete, während Fidelia und Bethany die verschiedenen Kleider der neuen Puppe ausprobierten. Es war fast sechs Uhr, als Ian stolperte und sich an der Tischkante festhielt, um sich zu fangen.
»Stimmt etwas nicht?« Phil ging zu ihm.
»Ich fühle mich... merkwürdig.«
Heather hörte auf zu nähen und sah ihn an.
Ian krümmte sich mit einem lang gezogenen Stöhnen zusammen.
Sie eilte zu ihm. »Geht es dir gut?«
»Nay.« Er stolperte und fiel dann auf die Knie. Er atmete schwer, und Schweiß glänzte auf seiner Stirn. »Ich fühle mich sehr...« Mit einem Stöhnen bedeckte er sein Gesicht.
Heather kniete sich neben ihn. »Können wir irgendetwas tun?«
Er schrie auf und brach ganz zusammen.
Heather sah Phil an. »Wir müssen etwas tun.«
Er schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. »Wir können ihn nirgendwo hinbringen. Die Sonne würde ihn toasten. Und einem Arzt die Sache erklären geht auch nicht.«
Ian stöhnte lange.
»Aber er leidet«, flüsterte sie.
»Mama, was ist mit Ian?« Bethany ging auf sie zu, aber Fidelia hielt sie zurück.
»Keine Sorge, Liebes«, antwortete Heather. »Es ist nur ein bisschen... krank. Hat was Falsches gegessen.«
Ian schrie noch einmal und streckte sich dann ganz steif und lang aus. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, an denen die Knöchel weiß hervortraten.
»Was können wir tun?« Heather beugte sich über ihn. »Wo tut es dir weh?«
»Uberall«, sagte er heiser. »Mein Gesicht. Es fühlt sich an, als ob es in Stücke reißt.«
Heather berührte seine Schulter. »Du darfst diesen Trank nicht mehr nehmen.«
»Ich muss.«
»Nein, musst du nicht. Phil kann uns tagsüber bewachen. Ich werde nicht zulassen, dass du wegen uns leidest.«
»Das ist nicht nur wegen euch«, stöhnte Phil. »Sondern für mich.«
»Was meinst du?«
Phil hockte sich neben sie. »Er wird mit jedem Tag, an dem er die Droge nimmt, ein Jahr älter.«
Heather konnte sich nicht vorstellen, warum jemand älter werden wollte.
»Ich bin vierhundertundachtzig Jahre alt«, murmelte Ian. »Ich bin ein Mann, gefangen im Körper eines Fünfzehnjährigen. Ich kann so nicht weitermachen.«
»Aber es tut dir weh«, widersprach Heather.
»Ist mir egal.« Ian schrie wieder auf und krümmte sich zusammen. »Ich - ich muss älter aussehen. Ich will auch die wahre Liebe finden... wie du und Jean-Luc.«
Gerade als sie anfangen wollte zu leugnen, dass sie so etwas wie Liebe für Jean-Luc empfand, bewegte sich Ians Körper nicht mehr. Seine Hände lösten sich von seinem Gesicht. »Er - er atmet nicht.«
Phil legte zwei Finger an Ians Hals. »Sein Herz hat aufgehört zu schlagen.«
»Oh mein Gott.« Heather ließ sich nach hinten fallen. »Das kann doch nicht wahr sein.« Sie rappelte sich auf. »Er kann doch nicht...« Tot sein? Waren Vampire nicht schon tot? »Was - was passiert jetzt mit ihm?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Phil fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes braunes Haar. »Ich kann mir zwei Möglichkeiten vorstellen. Es könnte sein, dass die Formel ihre Wirkung verloren hat, und Ian einfach in seinen täglichen Todesschlaf gefallen ist. Das wäre gut, weil er dann keine Schmerzen mehr spürt.«
»Und die zweite Möglichkeit?«
Phil runzelte die Stirn. »Die Formel könnte ihn umgebracht haben.«
»Nein!« Tränen traten ihr in die Augen. »Er darf nicht sterben. Alles, was er wollte, war ein älteres Gesicht und die Chance auf wahre Liebe.« Verdammt, diese Vampire waren einfach zu menschlich.
»Ich glaube nicht, dass er tot ist. Wenigstens nicht für immer.« Phil betrachtete den bewegungslosen Körper. »Meiner Erfahrung nach verwandelt sich ein wirklich toter Vampir zu Staub.«
»Wann können wir uns sicher sein?« Heather wischte sich die Augen.
»Wenn die Sonne untergeht. Wenn es ihm gut geht, dann fängt sein Herz wieder an zu schlagen.« Phil deutete auf sein Gesicht. »Finden Sie, er sieht anders aus?«
»Nein.« Heather sah ihn genauer an. »Eigentlich doch. Ich glaube, sein Kiefer ist etwas breiter. Und er hat einen Bartschatten.«
Phil nickte. »Wachstumsschmerzen. Das hat er gefühlt. Ein Jahr Wachstumsschmerzen. Ich glaube, er ist auch ein Stück größer geworden.«
Heather sah den toten Körper mit gerunzelter Stirn an. »Wusste der Erfinder dieser Formel, dass das geschehen würde?«
Kopfschüttelnd verneinte Phil. »Roman hat nie Schmerzen empfunden. Aber er war auch schon dreißig Jahre alt. Er war ausgewachsen, also war das Ganze nicht so ein Schock für seinen Körper.«
»Roman hat selbst die Droge genommen?«
»Ja. Nachdem sein Sohn geboren worden war, hat er sie eine Woche lang genommen, um mit dem Baby zu helfen. Aber dann hat er graue Haare bekommen und gemerkt, was passiert.«
Heather stand auf. »Ich finde, Ian sollte sie nicht noch einmal nehmen. Es gibt doch bestimmt weibliche Vampire, die das Problem verstehen und ihn so nehmen können, wie er ist?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich finde, es ist seine Entscheidung.«
Heather war da anderer Ansicht und beschloss, mit Jean-Luc darüber zu sprechen. Gleich nachdem sie ihm die Sachen, die er gekauft hatte, zurückgegeben hatte. Mist, so viel zu ihrem Plan, ihm ganz aus dem Weg zu gehen.
Sie sah zu Ians Körper hinab. »Wir können ihn nicht einfach auf dem kalten, harten Boden liegen lassen.«
Phils blaue Augen funkelten amüsiert. »Er spürt nichts davon, glauben Sie mir.«
»Es sieht aber so unbequem aus.« Heather sah sich in den Regalen um und fand zwei Ballen weichen Flanell. Sie schob einen als Kissen unter Ians Kopf und rollte den anderen auseinander, um daraus eine Decke zu machen.
Danach gönnten sie sich eine Pause, um zu Abend zu essen. Sie rief die Versicherung an, um nach ihrem Haus zu fragen, und dann die Theaterlehrerin der Guadalupe High. Liz Schumann freute sich, ihr den Laufsteg zu überlassen und eines von Heathers Kleidern in der Show vorzuführen. Liz kündigte an, dass ihr neuer Freund den Laufsteg am Wochenende vorbeibringen würde, und Heather versprach, ihm ein paar Tickets für die Veranstaltung dafür zu geben.
Nach dem Abendessen kehrten sie ins Studio zurück und damit auch zu dem Toten, der dort auf dem Boden lag. Heather beendete ihr erstes Kleid und sah auf die Uhr. Halb acht. Die Sonne würde bald untergehen. Sie sprach ein stummes Gebet und bat darum, dass Ian aufwachen möge. Dann schüttelte sie verzweifelt den Kopf. Sie konnte nicht mehr dagegen an. Sie konnte diese Vampire nicht länger als Monster ansehen.
Sie war dabei, in ihre Welt gezogen zu werden.
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Jean-Luc erwachte mit dem üblichen elektrischen Schlag, der durch seinen Körper zuckte und sein Herz zum Schlagen brachte. So schnell wie möglich duschte er sich und frühstückte dann in Windeseile, denn er musste wissen, dass sich tagsüber nichts Schlimmes ereignet hatte. Ging es Heather gut? Wie war es Ian an seinem ersten wachen Tag mit der Formel ergangen?
Er zog sich graue Stoffhosen und ein kastanienbraunes Polohemd an - normale Kleidung. Hoffentlich schaute Heather ihn nicht so an wie letzte Nacht, mit diesem Blick voll Ekel und Angst in den Augen. Er musste sie irgendwie zurückgewinnen.
Ein Blick in die Küche zeigte ihm, dass dort niemand war. Dann sah er, wie Fidelia Bethany gerade zur Treppe brachte.
»Oh, Juan-Luc! Danke für die schönen Geschenke.« Fidelia drückte lächelnd die Schachtel mit den Tarotkarten gegen die Brust.
»Ich liebe meine neue Puppe.« Bethany hielt sie hoch, um sie ihm zu zeigen. »Sie heißt Prinzessin Katherine.«
»Das gefällt mir.« Also waren die Sachen, die er Sonntagnacht bestellt hatte, angekommen. »Weißt du, wo deine Mutter ist?«
Bethany zeigte den Flur hinab.
»Sie sind alle im Studio.« Fidelia senkte ihre Stimme. »Sie warten, dass Ian aufwacht.«
Jean-Luc erstarrte. »Er ist nicht... wach?«
Bethany kicherte. »Er schläft zu viel.«
Entschuldigend blickte Fidelia zu Jean-Luc. »Komm mit, Kleines. Ab in die Wanne mit dir.« Sie schob Bethany die Treppe hinauf.
Jean-Luc sauste ins Studio und blieb dann abrupt stehen.
Heather kniete auf dem Boden neben Ian. Robby, Phineas und Phil standen um sie herum. Dann richtete sie ihren Blick auf ihn, und sein Herz begann wie wild in seiner Brust zu klopfen. In ihren Augen stand keine Abscheu mehr, aber dafür glänzte Schmerz in ihnen. Sie war so einfühlsam, dass ihr Ians Zustand nun sehr naheging.
»Ich muss mit dir sprechen.« Sie stand auf und trat zur Seite, offensichtlich, damit sie sich ungestört unterhalten konnten. Noch wusste Heather nicht, dass das unnötig war, weil Vampire ein so viel besser ausgeprägtes Gehör hatten. »Wie konntest du zulassen, dass er etwas so Gefährliches tut?«
»Ich hatte meine Einwände«, antwortete Jean-Luc ruhig. »Aber letztendlich konnte ich ihn nicht zwingen, die Finger davon zu lassen. Es war seine Entscheidung.«
»Aber er hat sich vielleicht umgebracht, nur für die Chance, die wahre Liebe zu finden.« Heather wischte sich die Augen. »Das ist so traurig.«
»Ein ehrenhafter Mann würde für die wahre Liebe alles opfern.«
Was wollte er damit jetzt wieder andeuten?
»Als Roman die Formel genommen hat, ist er auch später aufgewacht.« Jean-Luc drehte sich zu Ian. »Ich glaube, er wird noch aufwachen.«
Stille breitete sich aus, während sie warteten.
Robby wendete sich an Phineas. »Sieh nach, ob es Fidelia und der Kleinen gut geht. Wir lassen dich wissen, wenn hier etwas passiert.«
»In Ordnung.« Phineas schleppte sich aus dem Raum.
»Und du hast Feierabend, Laddie«, murmelte Robby Phil zu. »Du musst nicht bleiben.«
»Doch, muss ich.« Phil verschränkte die Arme vor der Brust.
Heather atmete tief ein. »Wir haben die Sachen bekommen, die du bestellt hast.«
Jean-Luc drehte sich zu ihr um. »Gefällt dir das Kleid?«
»Es ist sehr hübsch.« Sie vermied es, ihn direkt anzusehen. »Aber ich kann es nicht behalten.«
»Warum nicht?« Wollte sie ihn bestrafen?
»Ich will nicht... in deiner Schuld stehen. Du hast mir bereits einen tollen Job verschafft. Und einen sicheren Ort zum Wohnen.«
»Du hast mein Leben gerettet, Heather. Ich stehe in deiner Schuld.«
»Ich bin mir sicher, du wärest auch allein mit Louie fertig geworden.« Sie winkte ab. »Du bist der europäische Champion im Fechtkampf, hast du das nicht gesagt?«
»Aber ich hatte kein Schwert, wenn ich dich erinnern darf.«
Sie drehte sich mit einem wütenden Ausdruck auf dem Gesicht zu ihm. »Ich bin mir sicher, du hättest ihn auch ohne meine Hilfe besiegt. Du bist... muy macho, wie Fidelia es ausdrückt.«
»Merci. Auch wenn du deswegen nicht so genervt aussehen musst.«
Sie verschränkte die Arme. »Ich kann das Kleid und das... andere Zeug trotzdem nicht behalten.«
Er trat näher zu ihr. »Du meinst die Büstenhalter?«
»Da war mehr als einer?«
»Drei, und drei passende Schlüpfer.« Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern. »Ich habe mich sehr bemüht, die richtige Größe zu treffen.«
Ihre Wangen wurden rosa. »Die werden zurückgegeben.«
»Nein, werden sie nicht.« Als sie den Mund öffnete, um zu widersprechen, redete er einfach weiter. »Du und deine Familie, ihr seid wegen mir in Gefahr. Wegen mir ist euer Haus ruiniert. Wahrscheinlich hat alles in eurem Haus einen Rauchschaden und muss ersetzt werden. Ich habe dich ein Vermögen gekostet. Die wenigen Dinge, die ich gekauft habe, fangen nicht einmal an, dir das zu ersetzen. Ich bin es, der Schulden bei dir hat.«
Ein ergebenes Seufzen war zu hören. »In Ordnung. Danke.«
»Wie fühlst du dich sonst?« Es gefiel ihm nicht, dass er vielleicht für die dunklen Ringe unter ihren Augen verantwortlich war.
»Ich bin sehr müde. Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen.«
»Es tut mir leid, wie du die Wahrheit erfahren hast. Ich hätte es dir früher sagen sollen.«
Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans und senkte ihren Blick. »Warum hast du es nicht getan?«
Für einen Augenblick schloss er die Augen und fragte sich, wie er es ihr erklären sollte. »Ich war... betört von der Art, wie du mich angesehen und mit mir geredet hast. Als wäre ich normal. Es war, als wäre ich wieder ein Mensch, mit einem Zuhause und einer Familie und einer wunderschönen Frau, die mich wirklich anziehend findet. Ich - ich hatte so etwas nie, als ich noch sterblich war.«
»Dir haben sich nie Frauen an den Hals geworfen? Schwer zu glauben.«
»Ich hatte nie ein Zuhause und eine Familie.« Er trat näher zu ihr. »Es hat lange gedauert, bis ich gemerkt habe, dass ich das mehr als alles andere will.«
Obwohl sie sich abwendete, sah er noch den Schimmer von Tränen in ihren Augen.
»Erlaubst du mir die Ehre, dich zu umwerben?«
Heather lachte kurz und nervös. »Du klingst so altmodisch.«
»Vielleicht.« Er lächelte verlegen. »Aber ich bin auch sehr zielstrebig.«
»Ich - ich gehöre nicht in deine Welt.«
»Du kannst überall hingehören, wo du nur willst.«
Sie rieb sich die Stirn. »Das ist ja das Problem. Ich will nicht dorthin gehören. Aber ich will dir auch nicht wehtun. Ich...«
Ian zuckte heftig zusammen, und seine Brust hob sich zu einem tiefen Atemzug.
»Er lebt!«, verkündete Robby lachend und voller Freude.
»Ja!« Phil schlug mit seiner Faust in die Luft.
Erleichtert atmete Jean-Luc auf. »Gott sei Dank.«
»Oh ja, ja!« Heather sprang auf und ab. »Ja!« Sie schlang Jean-Luc die Arme um den Hals.
Sein Herz wurde weit, als er sie in seine Arme nahm. »Ja.«
Mit einem erschreckten Keuchen zog sie sich zurück. »Oh, ich wollte nicht - es tut mir leid. Ich war nur so glücklich, da habe ich vergessen...«
»Dass ich ein Monster bin?«, beendete er ihren Satz.
Ihre Wangen bekamen rote Flecken. »Ich dachte nicht daran...«
»Was ist passiert?« Ian setzte sich auf.
»Du hast während der Arbeit geschlafen.« Robby verschränkte die Arme und zog die Brauen zusammen. »Ich sollte dein Gehalt kürzen.«
Ian sah sich verwirrt um. »Bin ich... zu spät?«
Robby lachte und streckte eine Hand aus, um ihm aufzuhelfen. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Laddie. Wie fühlst du dich?«
Ian ergriff Robbys Hand und stellte sich langsam auf. »Es geht mir gut, glaube ich.«
»Du bist wenigstens drei Zentimeter größer«, verkündete Phil.
»Bin ich?« Ian grinste. »Es hat funktioniert! Ich bin ein Jahr älter. Und ich bin am Verhungern, verdammt noch mal.«
»Geh nach unten und frühstücke erst mal«, befahl Robby.
»Ich wünschte, du würdest die Droge nicht noch einmal nehmen«, bat Heather. »Du hast so viele Schmerzen gehabt.«
»Es tut mir leid, dass ihr das mit ansehen musstet«, entschuldigte sich Ian. »Aber ich höre nicht auf.« Er und Phil verließen den Raum.
»Ich lasse euch zwei allein.« Robby verbeugte sich und verließ ebenfalls den Raum.
»Ich sollte auch gehen.« Heather hielt auf die Tür zu.
»Was ist mit deiner Arbeit?«, fragte Jean-Luc.
»Oh.« Sie drehte sich um. »Mit dem ersten Kleid bin ich fertig.« Sie zeigte auf die Schneiderpuppe.
Er ging darauf zu. »Du hast dich doch gegen Ärmel entschieden.«
»Ja.« Sie trat ebenfalls näher. »Sie haben bei der Passform des Oberteils gestört. Also dachte ich, ich mache lieber eine passende Stola, die entweder wie ein Schal oder um die Schultern getragen werden kann.«
Er nickte. »Gute Idee«
»Ich habe mich gefragt...« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Wer macht die Handarbeit an deinen Entwürfen?«
»Verschiedene Frauen aus Frankreich und Belgien, je nachdem, was getan werden muss. In Brüssel gibt es eine Frau, die die beste Spitze macht, und in der Bretagne eine, die wunderschöne Stickereien fertigt.«
»Oh.«
Hatte sie gedacht, er beschäftigte irgendwo heimlich illegale Einwanderer zu Hungerlöhnen? »Ich halte sie für Künstler und bezahle sie sehr gut. Ich könnte dich zu ihnen mitnehmen, wenn du ihre Arbeit ansehen willst.«
»Ich - ich glaube nicht.« Sie wich zurück. »Ich sollte lieber gehen. Ich bin wirklich müde.«
Er nickte. »Du hattest einen langen Tag.«
»Ja. Gute Nacht.« Sie rannte fast aus dem Raum.
Jean-Luc seufzte. Sie wollte sich nicht umwerben lassen und schien immer noch ein wenig Angst zu haben, aber ihr Blick war nicht mehr so angewidert. Er machte Fortschritte, wenn auch nur langsame.
Er ging den Flur hinab zu Albertos Büro und besprach mit ihm die Wohltätigkeitsveranstaltung. Dann teleportierte er sich in sein Büro, um seine liegen gebliebenen Unterlagen aufzuholen. Es gab mehr als hundert E-Mails und ein Dutzend Berichte aus Paris zu beantworten. Er war außerdem der Zirkelmeister von Westeuropa, also gab es dort einige Streitereien zu schlichten. Er gönnte sich gegen Mitternacht eine kurze Pause, in der er noch ein Glas synthetisches Blut aus dem Vorrat in seinem Büro trank.
Es war nach zwei Uhr morgens, als der Alarm ertönte. Jean-Luc griff sich sein Schwert, teleportierte sich zu Heathers Schlafzimmer und riss die Tür auf. Sie lagen alle drei noch schlafend im Bett. Der Alarm hatte sie nicht aufgeweckt, weil er auf eine Frequenz eingestellt war, die nur Vampire und Hunde hören konnten. Der Alarm bedeutete genau eine Sache - fremde Vampire hatten sich ins Gebäude teleportiert.
Er eilte zum Badezimmer und sah hinein. Es war leer.
»Was ist los?«, fragte Heather verschlafen.
»Nichts«, flüsterte er. »Ich sehe nur nach, ob alles in Ordnung ist. Schlaf weiter.«
Er erblickte Robby auf dem Flur, also eilte er zu ihm und schloss die Tür hinter sich. »Was ist passiert?«
»Das war Simone«, erklärte Robby. »Sie behauptet, sie hätte sich gelangweilt und ist deswegen ausgegangen.«
»Wohin?«
»Das wollte sie nicht sagen«, antwortete Robby. »Sie hat sich aus dem Haus teleportiert, ohne dass jemand es gemerkt hat, aber bei ihrer Rückkehr ist der Alarm losgegangen.«
Hatte Simone nicht damit angegeben, dass sie vielleicht eine Affäre mit Lui haben könnte, erinnerte sich Jean-Luc. »Sie stellt vielleicht eine Gefahr dar.«
»Ich weiß. Soll ich sie fortschicken?«
»Nein. Wir wollen, dass Lui seinen Zug macht, damit wir ihn erwischen können.«
»In Ordnung. Ich behalte sie im Auge.« Robby raste die Treppe hinunter.
Heather spähte durch die halb offene Tür. »Was ist los?«
»Alles ist in Ordnung«, versicherte Jean-Luc ihr.
Sie trat hinaus auf den Flur. »Ich habe gehört, wie ihr euch unterhalten habt. Glaubst du, Simone könnte unter Louies Kontrolle stehen?«
»Es ist möglich. Er benutzt normalerweise Sterbliche, aber er könnte es auch schaffen, einen Vampir zu kontrollieren, besonders wenn die Betreffende einen Groll hegt.«
»Wie Simone.« Heather runzelte die Stirn. »Diese Gedankenkontrolle - die hast du bei mir doch nie benutzt, oder?«
Er erstarrte. »Nein, das wäre mehr als unehrenhaft.«
»Ich wollte dich nicht beleidigen.«
Sein Blick wanderte über ihr wunderbar zerzaustes Haar und ihren zerknitterten Pyjama. »Wenn ich dich unter meiner Kontrolle hätte, wärest du jetzt gerade unten in meinem Bett.« »Oh.«
»Und du wärest nackt. Und ich wäre...«
»Schon gut! Ich kann es mir vorstellen.«
Lächelnd schaute er sie an. »War es für dich auch so gut?«
Wie konnte er nur so fragen? Heather war das mehr als unangenehm.
»Du sieht wunderschön aus.«
Sie schnaufte. »Ich bin nicht einmal geschminkt.«
»Du bist eine natürliche Schönheit.«
»Das hält nicht mehr lange. Bald bin ich alt und faltig.«
»Die Zeit macht mir keine Angst.« Er trat näher auf sie zu. »Lass mich dich umwerben.«
Aus ihrem merkwürdigen Blick las er gleichzeitig Misstrauen und Begehren, die sich eine Schlacht zu liefern schienen. »Ich denke darüber nach.« Sie ging leise in ihr Schlafzimmer zurück und schloss die Tür.
Ja, er machte definitiv Fortschritte.