8. KAPITEL
Jean-Luc sprang auf die Veranda und richtete seine Klinge auf den Unbekannten.
Eine blonde Frau kreischte auf und stolperte nach hinten. Der Absatz ihres Stilettos verfing sich zwischen zwei Holzplanken, und sie fiel krachend auf die Veranda. »Scheiße!«
Sie kam ihm bekannt vor. »Wer sind Sie?«, fauchte er sie an. Sie war sterblich, aber das bedeutete nicht, dass sie keine Gefahr darstellte. Lui machte es Spaß, seine Fähigkeit zur Gedankenkontrolle zu benutzen, um Sterbliche dazu zu bringen, seine Morde zu verüben.
»Verdammt.« Die Frau rieb sich ihren knochigen Knöchel. »Ich hoffe für Sie, ich kann noch auf dem Laufsteg laufen.« Sie starrte ihn wütend an. »Sie verrückter Volltrottel! Sie haben mich mit Ihrem Schwert zu Tode erschreckt!«
Jetzt erkannte er sie. Sasha Saladine, das Model, das Alberto gebucht hatte. Sie hatte offensichtlich keine Ahnung, wer er war.
Immer noch auf der Veranda ausgestreckt, zog sie ihre Schuhe aus und untersuchte die mit falschen Diamanten beklebten Absätze. »Ich schwöre Ihnen, wenn meine Schuhe kaputt sind, dann verklage ich Ihren Hintern. Die haben vierhundert Dollar gekostet, okay? Ich kaufe nur das Beste.«
Er vermisste Heather jetzt schon. Wenn sie ihn zum Streiten herausforderte, gefiel es ihm. Sie war schlagfertig, und es machte Spaß, mit ihr zu diskutieren. Diese Frau dort unten war einfach nur nervig. Während sie ihn weiter mit schriller Stimme ausschimpfte, suchte er im Vorgarten nach irgendwelchen Bewegungen.
»Wollen Sie die ganze Nacht wie ein Idiot da rumstehen, oder helfen Sie mir endlich hoch?« Sie sah sich auf der Veranda um. »Hier wohnt doch Heather, oder nicht? Hat sie jedenfalls, als wir noch zur Highschool gegangen sind.«
Sie sah über die Schulter nach seinem Auto. »Scheiße. Sie hat mir gesagt, sie hat keinen Freund.« Sie sah ihn misstrauisch an. »Was machen Sie mit einem blöden Schwert?«
»Ist dir eine Pistole lieber?« Fidelia schob sich an Jean-Luc vorbei, ein Bier in einer, ihre Glock in der anderen Hand.
»Oh mein Gott!« Sasha sprang auf und hob die Hände. »Nicht schießen! Ich dachte, hier wohnt Heather.«
»Fidelia, sei vorsichtig!« Heather kam mit einem Gewehr in der Hand heraus.
Sasha keuchte. »Und ich dachte, New York wäre gefährlich.«
»Heather, habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen drinnen bleiben?« Gleich würde er seine Fassung verlieren.
Heather ignorierte ihn und wendete sich an das blonde Model. »Sasha? Was machst du denn hier?«
»Anscheinend aufgespießt oder erschossen werden, nur was genau, weiß ich noch nicht.«
»Dann entscheide dich. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.« Fidelia stellte ihr Bier auf die Veranda und zog ein Schlüsselbund aus ihrer Rocktasche. Sie fummelte mit den Schlüsseln herum und versuchte, das Schloss an ihrem Abzug aufzusperren.
»Lass das«, warnte sie Heather, »du hast zu viel getrunken.«
Fidelia schnaubte. »Ich bin nicht betrunken. Ich habe alles unter Kontrolle.« Sie riss das Schloss von ihrer Waffe.
Peng! Ein Schuss löste sich und traf die große Eiche.
Die Frauen schrien auf. Jean-Luc zuckte zusammen.
Ein Eichhörnchen purzelte aus dem Baum und landete dumpf im Vorgarten.
Fidelia zuckte mit den Schultern. »Das war Absicht. Das blöde Nagetier hat sich am Haus zu schaffen gemacht. Und die Nüsse von unserem Pekanbaum geklaut.«
Heather stemmte die Hände in die Hüften. »Habe ich dir nicht schon eine Million Mal gesagt, dass du die Schlösser dranlassen sollst?«
Mit angemessener Zerknirschung senkte Fidelia den Kopf. »Ich werde ab jetzt vorsichtiger sein.« Sie aktivierte die Sicherung und sah Jean-Luc dann scharf an. »Ich weiß, wie man mit einem Nüsse klauenden Mistvieh umgeht.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Ich werde es mir merken.«
Im gleichen Moment kam Emma auf die Veranda gerannt, in der Hand einen Pflock. »Ist er hier?«
»Nein«, antwortete Jean-Luc. »Falscher Alarm.«
Emma sah sich um. »Aber ich habe einen Schuss gehört.«
»Ja.« Jean-Luc deutete in den Vorgarten. »Wir haben einen Verlust erlitten.«
»Wir sind von einem Eichhörnchen angegriffen worden?«
»Verdammt richtig.« Fidelia verkaufte sich wirklich gut. »Und ich habe mich drum gekümmert.«
»Oh mein Gott, Heather«, flüsterte Sasha, »handelst du mit Drogen?«
»Was?« Heather drehte sich zu ihr um. »Nein!«
»Oh.« Sasha sah enttäuscht aus. »Was sollen dann all die Waffen?«
Heather seufzte. »Das kann ich dir erklären. Später.«
»Da alles in Ordnung scheint, gehe ich zurück auf meinen Posten.« Emma warf Jean-Luc einen amüsierten Blick zu, während sie zurück in den Flur ging. »Und du hast gedacht, in Texas wäre es langweilig.«
Er nickte. In letzter Zeit war das Leben wirklich viel interessanter geworden.
»Ich hatte genug Aufregung für einen Tag«, verkündete Fidelia und watschelte hinter Emma her. »Ich nehme ein langes, heißes Bad und gehe zu Bett.«
»Gute Nacht.« Heather stellte ihr Gewehr auf der Veranda ab. »Toll. Jetzt darf ich mich um das Eichhörnchen kümmern.«
»Es gibt nichts zu kümmern«, versicherte ihr Jean-Luc. »Das Eichhörnchen ist tot.«
»Ich kann es da nicht liegen lassen. Bethany wird es sehen, und dann denkt sie, es ist Spongebob Schwammkopfs Freundin Sandy.«
Jean-Luc hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. »Ich könnte es begraben. Sogar die Sterbesakramente vortragen.« Er wusste sie auswendig, nachdem er mehr als hundertmal dabei gewesen war, als Roman sie für die gefallenen Kameraden im großen Vampirkrieg vorgetragen hatte.
Heathers hübsche Mundwinkel hoben sich. »Ich wusste nicht, dass unser Eichhörnchen katholisch ist.«
Verspottete sie ihn? »Wenn ich lieber nicht...«
»Nein, bitte, das wäre sehr schön.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Ich finde Sie sehr lieb.«
Sein Herz ging ihm auf. Mon Dieu, dieses Gefühl konnte einen Mann süchtig machen. »Haben Sie eine Schaufel?«
»Ja, in der Garage.« Sie zeigte nach links.
Schnell eilte er die Verandatreppe hinunter und wendete sich links in die Auffahrt. Das Schwert behielt er vorsichtshalber bei sich, nur für den Fall, dass Lui sich im Schatten versteckte. Oder in der Garage.
Sasha Saladine blickte ihm verträumt hinterher, und zischte Heather dann an. »Du unglaubliche Lügnerin! Du hast gesagt, du hast gar keinen Freund.«
»Er ist nicht mein Freund«, flüsterte Heather.
Jean-Luc hörte ihrem Gespräch weiter zu, als er sich in Richtung der freistehenden Garage entfernte.
»Wo in aller Welt hast du ihn aufgegabelt?«, flüsterte Sasha.
»Ich habe ihn letzte Nacht bei der großen Eröffnung kennengelernt.«
»Du machst Witze! Dieser gut aussehende Kerl war da? Verdammt, ich hab den falschen gebumst.«
»Sasha!«
»Hast du schon mit ihm geschlafen?«
»Natürlich nicht«, sagte Heather mit einem Schnaufen. »Ich kenne ihn erst seit gestern.«
Ihre Entrüstung brachte Jean-Luc zum Lächeln. Er blieb an der Seitentür der Garage stehen, um mehr zu hören.
»Wenn du ihn nicht willst, nehme ich ihn«, fuhr Sasha fort. »Alberto war irgendwie enttäuschend. Aber er hat mir mehr Runden auf dem Laufsteg versprochen. Und, was sagst du?«
»Ah, Glückwunsch?«
»Nein, ich meine den Prachtkerl mit dem Schwert. Kann ich mich an ihn ranmachen oder nicht? Willst du ihn?«
Auf diese Antwort war er mehr als gespannt.
»Jean!«, rief Heather ihm nach, »ist die Tür abgeschlossen?
Er drehte den Knauf, und die Tür öffnete sich knarrend. »Alles in Ordnung!« Er schlüpfte hinein, ließ die Tür aber offen, um keine Silbe zu verpassen. Er sah sich um. Die Garage war leer.
»John?«, fragte Sasha. »John wer?«
»Jean Echarpe«, antwortete Heather. »Er ist Jean-Luc Echarpes Sohn.«
Sasha keuchte auf. »Du machst Witze! Oh, Mist! Ich habe echt den falschen Kerl gebumst.«
Jean-Luc schüttelte den Kopf. Als könnte er jemals diese eitle Schreckschraube begehren. Bei Heather war das etwas anderes. Wie gern würde er sehen, wie sich ihre grünen Augen vor Verlangen verklärten, wenn er ihre Brüste berührte, oder sie zwischen den Schenkeln streichelte, wie ihre Wangen sich vor Hitze röteten, und wie sich ihr Mund zu einem kehligen Stöhnen öffnete. Er...
Er sollte besser aufhören, ehe seine Augen zu glühen anfingen. Mit der Schaufel in der Hand verließ er die Garage. Die Frauen redeten immer noch, aber es ging nicht mehr um ihn.
»Wo ist dein Mietwagen?«, wollte Heather wissen. »Wie bist du hergekommen?«
Sasha hatte sich auf die Schaukel drapiert und stieß sich mit einem nackten Fuß von der Veranda ab. »Alberto hat mich gebracht. Wir waren zusammen beim Dinner, und er fand, ich hätte zu viel getrunken, um zu fahren. Aber ich schwöre dir, ich hatte nur zwei Margaritas.«
»Hast du auch etwas gegessen?«
»Klar. Aber ich hab es nicht bei mir behalten, wenn du verstehst, was ich meine.« Sasha deutete mit ihrem Zeigefinger in ihren Mund.
Jean-Luc verzog das Gesicht. Sie hatte Bulimie. Genau deshalb benutzte er Simone und Inga als seine Vorzeigemodelle. Sie waren Vampire, also mussten sie sich nie selbst Schaden zufügen, um dünn zu bleiben. Unglücklicherweise begannen die Medien auch bei ihnen nachzufragen, warum sie nicht alterten.
»Du solltest keine Witze über Bulimie machen«, knurrte Heather. »Es ist eine Krankheit.«
»Es ist Verzweiflung. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und versuche, mit Babies Schritt zu halten.« Sasha bemerkte Jean-Luc, der an ihnen vorbeiging, und sprang auf. »Oh, Mr. Echarpe, es freut mich so sehr, Sie hier zu treffen. Ich hoffe, ich habe Sie nicht mit etwas von dem, was ich gesagt habe, beleidigt.« Ihr Blick wanderte zu seinem Schwert, das er immer noch in der rechten Hand hielt. »Heather hat gesagt, dass Sie hier sind, um Sie zu beschützen. Ich finde das so was von edel von Ihnen.«
Sie schmeichelte sich bei ihm ein. Daran war Jean-Luc gewöhnt. Es hatte nichts mit ihm zu tun. Er hatte schon Vorjahren festgestellt, dass einige Models den Glöckner von Notre Dame bespringen würden, wenn es ihrer Karriere guttäte.
»Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.« Dann blickte er auf Heather. »Wo würden Sie das Begräbnis gern abhalten?«
Sie sah sich im Vorgarten um. »Wie wäre es unter der Eiche? Da war es zu Hause, also würde es ihm sicher gefallen.«
»Wie Sie wünschen.« Jean-Luc schlendert auf den Baum zu. Er entdeckte einen freien Fleck zwischen zwei Blumenbeeten und begann zu graben. Wenn die Frauen bloß reingehen würden, dann könnte er Vampirgeschwindigkeit nutzen und die Aufgabe innerhalb von Sekunden erledigen.
Die Schaukel knarrte, als Sasha sich wieder daraufsetzte. »Die Leute reden immer davon, wie nett es in der Kleinstadt ist, aber das ist so was von gelogen. Die alte Mrs. Erman hat mich aus ihrem Bed & Breakfast geworfen. Kannst du dir das vorstellen?«
»Wie merkwürdig.« Heather war erstaunt. »Sie ist verwitwet. Ich hätte gedacht, sie braucht das Geld.«
»Sie ist eine verklemmte alte Ziege. Ich habe Alberto letzte Nacht zu mir eingeladen, und als er morgens gegangen ist, hat sie sich total aufgeregt und gesagt, dass sie ja wohl kein Bordell betreibt. Dann haben Alberto und ich versucht, nach dem Dinner wieder reinzukommen, und sie hat uns nicht gelassen. Ich schwöre es dir, sie ist bloß eine frigide alte Fledermaus!«
»Sie war unsere Lehrerin in der Sonntagsschule«, murmelte Heather. »Weißt du, wo du schlafen kannst?«
»Na ja, ich will nicht wirklich bei meiner Psycho-Mom in ihrem stinkenden Wohnwagen bleiben, also dachte ich, ich komme hier unter. Was sagst du?«
»Wo ist dein Gepäck?«
»Brauche ich nicht. Ich schlafe nackt.«
»Toll«, genau das hatte Heather erwartet.
»Ich hole mein Zeug und meinen Mietwagen morgen. Ich kann es nicht erwarten, aus der Stadt rauszukommen. Ich fahre morgen in das Spa d’Elegance in San Antonio. Willst du mit?«
»Ich muss hierbleiben.«
»Wie kannst du bloß?« Sashas Stimme wurde schrill. »Ich kann es nicht mehr aushalten. Es gibt keine Einkaufszentren, keine Nightclubs. Ich habe im Diner einen Orange Frappaccino bestellt, und die haben mich angesehen, als wäre ich irgend so ein Alien.«
Heather seufzte. »Du hast achtzehn Jahre lang hier gelebt. Du weißt doch, wie es ist.«
»Glaub mir, ich habe dafür gesorgt, dass ich alles über diese gottverlassene Kloake so schnell wie möglich vergesse.«
Heathers Stimme war leise und angespannt. »Ich lebe hier immer noch.«
Jean-Luc hörte mit dem Schaufeln auf und warf einen Blick zu den Frauen auf der Veranda. Ein rosa Schimmer auf Heathers Wangen war deutlich zu erkennen, ebenso wie das grüne Funkeln der Wut in ihren Augen.
Sasha zuckte mit den Schultern. »Na ja, dein Pech.«
Vielleicht war es besser, ein größeres Grab auszuheben, überlegte er.
»Da du kein Auto hast und nirgendwo sonst hin kannst«, fuhr Heather fort, »werde ich deine beleidigenden Kommentare ignorieren und dir das Gästezimmer zeigen.«
Jean-Lucs Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Trotz ihrer Scheidung war Heather immer noch nachsichtig und mitfühlend. Aber wäre sie auch so verständnisvoll, wenn sie die Wahrheit über ihn erfuhr? Das Lächeln verblasste, als er sich daran erinnerte, wie sie in der Nacht zuvor über Vampire gesprochen hatte. Gruselige Monster. Wie konnte sie ihn da jemals akzeptieren?
»Herrje, Heather.« Sashas dünne Schultern sackten zusammen. »Ich wollte deine Gefühle nicht verletzen. Du bist die einzige richtige Freundin, die ich habe. Alle anderen wollen mich immer nur benutzen. Na ja, ich benutze die ja auch. Aber du bist die einzige, mit der ich wirklich reden kann.«
Heathers Gesicht wurde weich, und sie umarmte das Model. »Okay.« Sie öffnete die Haustür. »Komm, wir stecken dich ins Bett.«
Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sah Jean-Luc sich das Haus noch einmal genau an. Es war mehr als nur ein Zuhause, es war eine Herberge für die, die sie brauchten. Heather hatte Fidelia zu sich eingeladen, und jetzt auch Sasha. Mit ihrem großzügigen, liebevollen Herz würde sie immer Freunde und Familie um sich haben.
Ein Bild blitzte in seinen Gedanken auf. Ein Familienbild - Roman und Shanna Draganesti und ihr kleiner Sohn Constantine. Jean-Luc klammerte sich an den hölzernen Griff seiner Schaufel. Er hatte nie eine Familie gehabt. Das würde er auch nie.
Zornig rammte er die Schaufel in den Boden. Mit seiner Vampirstärke glitt die Kelle bis unter den Ansatz in den Boden und schnitt sauber durch eine Baumwurzel. Das Grab war jetzt groß genug für ein Eichhörnchen, das er nun holte. Nach zwei Schritten blieb er stehen.
Ein weißer Polizeiwagen kam vor Heathers Haus zum Stehen. An den Seiten des Autos stand in leuchtenden Buchstaben County Sheriff. Merde. Wie die meisten Vampire war auch Jean-Luc der Polizei gegenüber misstrauisch. Ein Vampir konnte niemals zulassen, dass man ihn in einem dieser Räume mit Einwegspiegeln verhörte, weil ihre Körper nicht gespiegelt wurden.
Er sah zu seinem Schwert, das er gegen den Baum gelehnt hatte. Er ging zurück und schob es unter einige dichte Büsche am Fuß des Baumes.
Inzwischen war der Beamte aus seinem Wagen gestiegen. Er marschierte auf das Haus zu und sah sehr amtlich aus in seiner sauber gebügelten Khaki-Uniform, komplett mit Gürtel und Waffenhalfter. Er sah Jean-Luc mit zusammengekniffenen Augen an und rollte einen Zahnstocher von einem Mundwinkel in den anderen.
»Treten Sie von dem Baum zurück. Zeigen Sie ihre Hände so vor, dass ich sie sehen kann«, befahl er.
Jean-Luc trat einen Schritt zur Seite und öffnete seine Hände mit den Handflächen nach außen. »Gibt es ein Problem, Sheriff?«
Der junge Officer blieb stehen und kaute auf seinem Zahnstocher. »Wer zum Henker sind Sie?«
»Ich bin Jean Echarpe.«
»Johnny Sharp, was? Wo kommen Sie her, Mr. Sharp?«
Jean-Luc beschloss, es wäre am Besten, das Missverständnis nicht aufzuklären. »Aus Paris.«
Der Sheriff nickte wissend. »Nördlich von Dallas. Da war ich schon.«
Jean-Luc war einige Sekunden lang verwirrt. »Es gibt ein Paris in Texas?«
»Jepp. Aber Sie reden zu komisch für jemanden aus dem Norden. Dann sind Sie wohl einer von diesen Froschfressern.«
Jean-Luc knirschte mit den Zähnen. »Ich bin aus Frankreich.«
»Pech für Sie.« Der Sheriff bemerkte das Grab, das er ausgehoben hatte. Er zog den Zahnstocher aus dem Mund und warf ihn auf den Boden. »Ich habe Nachricht von einem Nachbarn gekommen, dass sich hier ein Schuss gelöst hat. Und jetzt erwische ich Sie dabei, wie Sie ein Grab ausheben.«
Jean-Luc deutete auf das Loch. »Wie Sie sehen, handelt es sich um ein sehr kleines Grab.«
»Na, vielleicht hacken Sie ihre Opfer in Stücke und vergraben sie einzeln.« Der Sheriff legte eine Hand auf sein Waffenhalfter.
»Ich habe niemanden umgebracht.« Noch nicht. Er deutete zur Seite. »Das Opfer liegt dort.«
»Scheiße.« Der Sheriff schlenderte auf das tote Eichhörnchen zu und starrte Jean-Luc dann wütend an. »Hören Sie, Mr. Sharp, ich kann es nicht haben, dass Ausländer hierherkommen und unsere Eichhörnchen erschießen.«
»Ich habe es nicht erschossen.«
Der Sheriff schnaubte. »Klar, das war Selbstmord.« Er hob eine Hand, als Jean-Luc sich ihm näherte. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Das hier ist ein Tatort, und ich will nicht, dass Sie den verunreinigen.«
Jean-Luc seufzte. In dieser Stadt passierte offensichtlich nicht viel. »Ich habe Heather gesagt, ich werde das Eichhörnchen für sie begraben.«
Der Sheriff kniff die Augen zusammen. »Sie kennen Heather?«
»Natürlich.« Jean-Luc hob sein Kinn. »Das ist ihr Haus, falls Sie das nicht wissen sollten.«
»Natürlich weiß ich das.« Der Sheriff stellte sich breitbeiniger hin und verschränkte die Arme. »Ich war in der Highschool zwei Jahre mit ihr zusammen. Wie lange kennen Sie sie schon?«
Das war also der Kerl, den Heathers Mutter für zu gefährlich gehalten hatte. Wenn sie sich nicht eingemischt hätte, wäre Heather dann mit diesem Volltrottel verheiratet? Ein wütendes, schlangenartiges Gefühl zog Jean-Luc den Magen zusammen. Mit einem Schlag wurde ihm klar, was es war. Eifersucht. Merde. Die hatte er seit über zweihundert Jahren nicht gefühlt.
»Billy! Was willst du hier?« Heather schloss die Tür und kam die Treppe hinunter.
»Hey, Heather.« Der Sheriff hob eine Hand zum Gruß.
»Thelma hat angerufen, weil sie einen Schuss gehört hat.« Er sah Jean-Luc misstrauisch an. »Und ich habe diesen Froschfresser dabei erwischt, wie er deinen Garten umgegraben hat. Wahrscheinlich hat er nach Schnecken fürs Abendessen gesucht.« Sein eigener Witz schien ihm überaus gut zu gefallen.
Heather sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Jean ist mein Gast. Und er war so nett, mir mit diesem armen toten Eichhörnchen zu helfen.«
Diese wunderbare Frau verteidigte ihn. Schon wieder. Jean-Luc genoss es. Aber er merkte auch, dass Billy nicht beeindruckt war. Billy sah sogar ziemlich wütend aus.
»Du bittest einen Ausländer darum, dein Eichhörnchen zu begraben? Das ist ein Job für einen echten Mann.« Billy griff sich das tote Eichhörnchen und ging zum Grab.
Jean-Luc beobachte Heather, um zu sehen, ob diese Neanderthalermethoden einen Eindruck auf sie machten. Glücklicherweise sah sie Billy nicht wie einen Helden an. Ihr Blick wirkte eher genervt.
»Das ist nicht nötig, Billy. Jean hat alles unter Kontrolle.«
Billy ließ das Eichhörnchen ins Grab fallen. »Du hättest mich anrufen sollen, Heather. Ich hab dir schon vorher gesagt, dass du mich anrufen sollst, wenn du irgendwas brauchst.« Er nahm sich die Schaufel, aber sie steckte fest. Er zog daran, aber sie rührte sich nicht.
»Soll ich?« Das war seine Chance.
»Bleiben Sie weg.« Billy stellte sich breitbeiniger hin und packte die Schaufel mit beiden Händen. Er strengte sich an. Ein leises Grollen vibrierte in seinem Hals. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
Die Schaufel bewegte sich nicht.
Er starrte Jean-Luc wütend an. »Was haben Sie mit dem verdammten Ding gemacht?«
»Lassen Sie mich.« Jean-Luc legte eine Hand um den Griff und zog die Schaufel mit einem Ruck aus dem Boden. »Ah, Sie hatten recht. Das ist ein Job für einen echten Mann.«
Heather bedeckte ihren Mund, um ihr Grinsen zu verbergen.
Billy starrte unsicher in die Gegend, als wüsste er nicht, ob er beleidigt worden war. Ehe er Zeit hatte, es herauszufinden, rauschte sein Walkie-Talkie, und eine Stimme kam heraus. Er drückte auf einen Knopf. »Sheriff hier. Was ist los?«
»Jemand hat wegen einem Vorfall hinter Schmitty’s Bar angerufen«, berichtete eine Frauenstimme.
»Cathy, benutz den richtigen Code«, knurrte Billy.
»Es gibt keinen Code für einen Typen, der sich wie eine Schabe verhält!«, schrie die Frau ihn an. »Er ist in ihren Müllcontainer geklettert und suhlt sich in den Abfällen.«
Schabe? Jean-Luc blickte zu Heather. Es musste ihr Exmann sein. Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
»Verdammte Säufer«, murmelte Billy in sein Mikrofon. »Ich bin gleich da.« Wütend blickte er Jean-Luc an. »Ich werde ein Auge auf Sie haben, Mr. Sharp.« Dann stolzierte er zu seinem Dienstwagen.
Jean-Luc benutzte die Schaufel, um das Eichhörnchen mit Erde zu bedecken.
»Ich glaube, mein Ex ist verrückt geworden«, flüsterte Heather.
»Es war verrückt von ihm, Sie zu verlassen.« Er klopfte die Erde mit der flachen Seite der Schaufel fest.
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich habe Angst, meine Tochter bei ihm zu lassen.«
»Es ist schwer, Menschen zu finden, denen man rückhaltlos vertrauen kann.«
»Das können Sie laut sagen.« Sie runzelte die Stirn, als der Polizeiwagen fortfuhr.
Jean-Luc holte sein Schwert unter den Büschen hervor und benutzte die Spitze, um ein Kreuz in die lockere Erde auf dem Grab zu ritzen. »Vertrauen Sie dem Sheriff nicht?« Als sie den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Das dachte ich mir. Sie haben ihm nichts von Lui erzählt.«
Fragend sah sie ihn an. »Sie auch nicht.«
Er machte sich auf den Weg zur Garage, um die Schaufel zurückzustellen. »Ich bin daran gewöhnt, mich um meine Probleme selbst zu kümmern.«
Heather ging neben ihm her. »Und ich bin eines Ihrer Probleme.«
»Nein, überhaupt nicht. Ich genieße die Zeit mit Ihnen. Ich bedaure zutiefst, dass Sie und Ihre Tochter in Gefahr sind.«
Sie sah ihn abschätzend an. »Dann geben Sie zu, dass ich wegen Ihnen in Gefahr bin.«
Worauf wollte sie hinaus? »Ja.«
»Dann werden Sie mich auf der Suche nach Louie mitnehmen.«
Jean-Luc blieb stehen. »Das habe ich nicht gesagt.«
»Doch, das werden Sie. Sie verstehen doch, dass ich der Angst den Krieg erklärt habe.«
»Ja, das tue ich, aber ich will Sie nicht noch mehr in Gefahr bringen als...« Mitten im Satz brach er ab, als sie nahe zu ihm ging und ihm eine Hand auf die Brust legte. Sie sah ihn so fest und mit so eindringlich flehenden Augen an, dass es ihm schwerfiel, nicht die Schaufel hinzuwerfen und sie in seine Arme zu schließen. »Ms. Westfield, versuchen Sie mich mit weiblicher Tücke von etwas anderem zu überzeugen?«
Sie zog ihre Hand eilig zurück. Dann lächelte sie und legte sie wieder auf seine Brust. »Glauben Sie, ich könnte?«
»Vielleicht. Wie... überzeugend können Sie sein?«
Jetzt legte sie ihre Hand um den Aufschlag seines schwarzen Mantels. »Ich bin mein ganzes Leben lang viel herumkommandiert worden. Es wird Zeit, dass ich das Steuer übernehme.«
»Dann haben Sie vor, mich zu verführen?«
»Nein. Ich will nur mitkommen. Ich muss eine aktive Rolle übernehmen.«
»Wie enttäuschend.«
Sie schnaufte. »Dass ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen will?«
»Nein, dass ich nicht verführt werde. Ich glaube, es würde mir gefallen, von einer starken, selbstbewussten Frau verführt zu werden.«
Sie lachte und sah ihn dann auffordernd an. »Die Nacht ist noch jung.«
Er lächelte. »Das ist sie.«
»Dann sind wir uns einig«, verkündete sie. »Ich komme mit.«
Merde. Sein Lächeln verblasste. Wann hatte er die Kontrolle über diese Beziehung so vollkommen verloren? Heather Westfield wickelte ihn um ihren kleinen Finger. Und Gott steh ihm bei, es gefiel ihm.