16. KAPITEL

 

»Jean-Luc, wir müssen uns unterhalten.«

Er blickte von einer Zeichnung auf, die Heather tagsüber angefertigt hatte, und sah, wie Alberto ins Studio kam. »Gibt es ein Problem in Paris?«

»Nein. Das Problem ist hier.« Alberto deutete auf Heathers Arbeit. »Das - das ist ein Desaster.«

Jean-Luc legte die Zeichnung hin. »Es war meine Entscheidung, Alberto. Ich muss mich nicht rechtfertigen.«

Er senkte den Blick. »Ich möchte Sie nicht belehren, Jean-Luc, aber Sie haben mir selbst beigebracht, dass Ihre Entwürfe nur für einige wenige Privilegierte gemacht sind.«

Der verzweifelte Ausdruck auf Albertos Gesicht beschwichtigte Jean-Lucs Wut. Der Mann glaubte offensichtlich, dass Heathers Projekt ein Fehler war. »Ich weiß, die Idee ist unorthodox, aber ich möchte es versuchen.«

»Sie werden sich in der Modewelt lächerlich machen. Keiner der Hollywoodstars wird mehr ihre Entwürfe tragen, wenn sie auch vom gewöhnlichen Volk getragen werden.«

»Sie und ich, wir stammen beide aus dem gewöhnlichen Volk.«

»Ja, aber wir haben uns darüber erhoben.« Alberto deutete auf die Schneiderpuppe. »Sie macht Kleider für fette Frauen!«

Ein leises Keuchen verkündete Heathers Ankunft. Jean-Luc stöhnte innerlich auf. Es war klar, dass sie Albertos beleidigende Bemerkung gehört hatte. Er trat neben seinen Protégé und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie irren sich, und Sie werden sich entschuldigen.«

Alberto errötete. Er blickte über seine Schulter zu Heather. »Es tut mir leid, Signora.«

»Stimmt es?« Heather ging mit besorgtem Gesicht zu ihnen. »Werden meine Entwürfe deinem Ruf schaden?«

Sie musste mehr als nur Albertos Beleidigung gehört haben. Jean-Luc zuckte mit den Schultern. »Die Medien sind wankelmütig. Ich weiß nie, wie sie reagieren werden. Sie könnten die Sache lächerlich machen, oder sie nennen uns Helden und Visionäre.«

Sie neigte den Kopf zur Seite und dachte nach. »Ist es wirklich wichtig, was sie denken? Ich meine, wenn der Verkauf gut läuft, wie kann das Ganze dann ein Fehlschlag sein?«

Alberto schnaufte entnervt. »Es geht nicht um Geld. High Fashion ist eine Kunst.«

»Ich glaube, es geht darum, dass die Leute sich gut fühlen«, verkündete Heather. »Und wenn sie ihr Geld für etwas ausgeben, bedeutet das, dass es sie glücklich macht.«

Das Selbstvertrauen kehrte zu Heather zurück, und Jean-Luc lächelte, als er es bemerkte. »Wir werden es machen, Alberto. Dank Heather wird Mode für Frauen aller Formen und Größen zugänglich sein.«

Alberto stotterte etwas Unverständliches, und Heather genoss ihren Triumph. Jean-Luc wollte sie gerade in den Arm nehmen, als er von einer plötzlichen Eingebung abgehalten wurde.

»Wir können die Wohltätigkeitsshow dazu benutzen, auszuloten, wie die Leute reagieren«, schlug er vor. »Heather, kannst du bis Ende nächster Woche einige Entwürfe fertigbekommen?«

»Ich glaube schon.« Sie nickte. »Klar.«

Jean-Luc wollte nicht noch mehr professionelle Models einstellen, weil er nicht wollte, dass die Medien von seiner Show oder seiner Anwesenheit in Texas erfuhren. »Kennst du ein paar Frauen von hier, die deine Kleider vorführen würden?«

Alberto schnaufte. »Die Stadt ist doch voller fetter Frauen.«

Heather warf ihm einen vernichtenden Blick zu und wendete sich dann an Jean-Luc. »Ich habe einige Freundinnen, die sehr gerne modeln würden. Und die sind nicht fett.« Sie warf noch einen wütenden Blick zu Alberto.

»Sie können auch einige Ihrer Entwürfe vorführen«, sagte Jean-Luc zu Alberto. »Simone, Inga und Sasha können sie anziehen.«

»Können wir einen Wettbewerb daraus machen?«, fragte Alberto mit leuchtenden Augen. »Und Stars für die Jury einladen?«

»Nein.« Jean-Luc warf ihm einen warnenden Blick zu. »Keine Stars, keine Medien. Sie wissen, warum.«

Alberto seufzte.

Heather blickte neugierig von einem zum anderen. »Warum...«

»Es wird eine kleine Veranstaltung, nur für die Leute vor Ort«, unterbrach Jean-Luc sie. »Weil der Erlös nur der Stadt zugutekommen soll.« Er hoffte, das ergab genug Sinn, um weitere Fragen zu vermeiden.

Sie lächelte. »Ich finde es wunderbar, dass du Geld für den Schulbezirk aufbringen willst. Danke.«

»Alberto organisiert das Ganze.« Es war peinlich, für wohltätig gehalten zu werden, wenn er eigentlich bloß den Bauunternehmer und den Bürgermeister bestach, damit sie über seinen Laden den Mund hielten.

Er fing an, sich vor der Show zu fürchten, denn danach würde sein Exil offiziell beginnen. Der Laden würde für immer schließen. Alberto und die Models würden nach Paris zurückkehren, und die Leute würden annehmen, dass er ebenfalls abgefahren war. Aber er musste sich mit zwei Wachen fünfundzwanzig lange Jahre in dem verlassenen Gebäude verstecken. Wie konnte er direkt neben Heather wohnen und nicht der Verlockung erliegen, sie zu besuchen?

»Sollen auch einige von Ihren Entwürfen vorgeführt werden?«, fragte Alberto.

Jean-Luc war es unwichtig. »Ist doch egal.« Nichts schien mehr wichtig, wenn fünfundzwanzig lange Jahre im Gefängnis vor einem lagen, in denen nicht die geringste Hoffnung bestand, Heather je wiederzusehen. Aber wie konnte er sie und ihre Familie darum bitten, sein Gefängnis mit ihm zu teilen? Sie hatten im Gegensatz zu ihm nicht die Möglichkeit, in der Zukunft noch Jahrhunderte weiterzuleben. Das hier war ihr Leben, ihr einziges. Sie mussten es leben. Ohne ihn.

»In Ordnung«, fuhr Alberto fort. »Dann werden Heather und ich unsere Entwürfe dem lokalen... Gesocks vorführen, und die sollen entscheiden, welche ihnen besser gefallen.« Er warf ihr einen provozierenden Blick zu und stolzierte dann aus dem Raum.

Endlich konnte sie sich Jean-Luc nähern. »Geht es dir gut?«

»Ja.«

Sie betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. »Du siehst aus, als hättest du deinen besten Freund verloren.«

Ihm wurde klar, dass genau das passieren würde. Er war in einer Situation, in der er nicht gewinnen konnte. Im schlimmsten Fall würde er Heather durch Luis mörderische Rache verlieren. Aber das durfte er nicht zulassen. Er würde Lui zuerst umbringen. Unglücklicherweise würde er dann Heather verlieren, weil es das einzig Ehrbare war, was ihm zu tun blieb. Er konnte sie nicht bitten, fünfundzwanzig Jahre ihres kurzen Lebens aufzugeben, um mit ihm ins Exil zu gehen.

Er würde sie fortschicken müssen. Er könnte sie einstellen, um in New York oder Paris Mode zu entwerfen. Dann konnte sie wenigstens ihr Traumleben leben. Und er würde auf jeden Fall sicherstellen, dass es ihr und ihrer Tochter nie an irgendetwas fehlte. Eine heftige Welle der Gefühle bemächtigte sich seiner. Ihm wurde klar, dass er nicht nur aus Pflicht oder Ehrgefühl plante.

All das plante und tat er aus Liebe. Irgendwie, irgendwann während der letzten Tage hatte er begonnen, sich zu verlieben.

»Es geht mir gut«, versicherte er ihr. »Ich mache mir nur Sorgen, weil wir Lui noch nicht gefunden haben.«

»Darüber wollte ich mit dir sprechen.« Sie zog ein Stück Papier aus ihrer Jeanstasche und gab es ihm.

»Fidelia hat von einem Ölgemälde geträumt, und das befindet sich in diesem Museum, am Stadtrand. Die Kuratorin lässt es für uns etwas länger offen.«

»Dann sollten wir hinfahren.« Er begleitete sie zur Tür und warf einen Blick auf das Blatt Papier. »Chicken Farm. Eine Hühnerfarm?«

»Jepp. Die berühmteste in ganz Texas, deshalb haben sie ein Museum daraus gemacht.«

Gemeinsam gingen sie den Korridor hinab. »Sie haben ein Museum über Hühner gemacht?«

Heather lachte. »Es war ein sogenanntes Freudenhaus.«

»Ah. Das hätte ich wissen müssen.«

»Ja.« Heather stutzte. »Ich frage mich nur, wieso Fidelia so viel darüber weiß.«

Glücklicherweise bemerkte Jean-Luc beim Betreten des Ausstellungsraumes sofort Robby, der eine Kamera an der zwei Stockwerke hohen Decke installierte. Der Vampir benutzte dazu keine Leiter.

Er packte Heather und drehte sie so, dass sie den schwebenden Robby nicht bemerkte. »Wie... war dein Tag?«

»Schön.« Sie lächelte langsam. »Er hat mit einer wunderbaren Massage begonnen.«

Sein Lächeln wirkte etwas gequält, dann warf er einen vorsichtigen Blick zu Robby hinauf. Der Schotte hatte sie gehört und war bereits auf dem Weg nach unten. »Ich mag deine Zeichnungen.«

»Danke.«

Robby war jetzt auf dem Boden angekommen.

»Schnapp dir die Schlüssel, Robby. Und bring unsere Schwerter mit. Wir gehen auf die Jagd.«

»Ich komme auch mit.« Heather eilte auf die Küche zu und rief über die Schulter: »Ich leihe mir eine Pistole von Fidelia. Geht nicht ohne mich!«

Robby runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee.«

»Sie kommt mit«, sagte Jean-Luc entschlossen und ging dann durch die Eingangstür hinaus, ehe Robby ihm widersprechen konnte.

An der Tür befanden sich zwei Außenlichter, die die Veranda schwach beleuchteten. Jean-Luc ließ seinen Blick über das Grundstück, das seinen Unterschlupf vom Highway trennte, wandern. Er konnte keine Bewegung erkennen. Zedern und eng beieinanderstehende Palmettos standen auf dem Bereich, der von der langen, kreisförmigen Auffahrt eingeschlossen wurde. Sein BMW und Heathers Truck waren in der Nähe geparkt. Er hatte einen Gärtner die Auffahrt entlang Eichen einsetzen lassen, aber die waren noch klein. Wenn sein fünfundzwanzigjähriges Exil vorüber war, würden sie groß und prächtig sein.

»Da bist du ja.« Heather kam auf die Veranda herausgelaufen. »Ich hatte schon Angst, ihr seid ohne mich weg.«

»Das sollten wir, aber ich bin erst kürzlich auf ein Problem aufmerksam geworden, das mit dir zu tun hat.«

»Welches?« Sie legte ihre Handtasche über ihre Schulter.

»Ich kann dir nichts abschlagen.«

Sie lachte. »Das ist kein Problem.«

»Ist es doch, wenn es dich in Gefahr bringt.«

»Ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich habe der Angst den Krieg erklärt, weißt du noch?«

»Dein Willen, dich dem Schurken zu stellen, beeindruckt mich.« Er legte eine Hand in ihr Kreuz und führte sie an das dunklere Ende der Veranda. »Wie wäre es, wenn wir uns der Anziehungskraft zwischen uns beiden stellen würden?«

Mit großen Augen sah sie ihn an. »Ich... nehme an, wir könnten zugeben, dass es sie gibt.«

»Und sie wird immer stärker. Für mich wenigstens.«

Sie lehnte sich gegen eine Säule und starrte auf den Highway hinaus. »Das alles geht sehr schnell.«

»Zweifelst du, ob es echt ist?«

Sie sah ihn an. »Nein. Es ist echt. Echt genug, um verletzt zu werden.«

»Ich würde dir nie wehtun. Jedenfalls nicht absichtlich.«

»Das weiß ich.« Sie legte eine Hand auf seine Brust. »Ich... fühle mich sehr stark zu dir hingezogen, Jean-Luc, aber ich versuche, keine Fehler mehr zu machen, die ich bereuen könnte.«

»Ich verstehe.« Er legte seine Hände an die Säule und schloss sie mit seinen Armen ein. »Ich weiß, dass ich dir widerstehen sollte. Aber immer, wenn du in meiner Nähe bist, kann ich nur noch daran denken, wie sehr ich dich begehre.«

Er küsste ihre Stirn. »Ich erinnere mich immer wieder daran, wie gut du dich in meinen Armen anfühlst und wie süß du schmeckst.« Er küsste ihre Wange. »Erinnerst du dich an unseren ersten Kuss, Chérie? Im Park?«

Ihre Mundwinkel zuckten. »Welcher Kuss? Haben wir uns geküsst?«

»Du bist in meinen Armen geschmolzen. Du hast in meinen Mund gestöhnt. Du hast mich mit deiner Zunge gekostet.«

»Oh. Der Kuss.«

»Und du hast es heute Morgen wieder getan.«

»Na ja, einige Dinge muss man einfach immer wieder tun, bis man sie richtig kann.«

Er lächelte. »Chérie, das kannst du schon.« Er fuhr mit den Fingern ihren Hals hinauf. »Ich kann nur noch daran denken, dich zu küssen. Ich arbeite kaum noch. Mein Verstand ist vollkommen nutzlos geworden.«

»Armes Baby.« Sie neigte ihren Kopf, als er seine Nase an ihrem Hals rieb. »Wir wollen doch nicht, dass du dich nutzlos fühlst.«

»Ich bin mir sicher, wir finden eine Aufgabe für mich.« Er berührte mit seiner Zunge die pochende Ader an ihrem Hals. Der Duft ihres Blutes durchflutete seine Sinne.

»Zum Beispiel den Versuch, mich zu verführen?« Ihre Stimme klang atemlos.

Er legte eine Spur aus Küssen bis zu ihrem Ohr. »Das ist kein Versuch. Ich tue es bereits.«

Saugend bearbeitete er ihr Ohrläppchen und stöhnte auf, als sie mit einem Beben reagierte.

Heather schlang ihre Hände um seinen Hals. »Ja«, flüsterte sie.

Er fuhr mit den Lippen über ihre Wange. »Ich will dich so sehr.«

»Ich weiß«, hauchte sie die Worte gegen seinen Mund. »Warum fühlt sich das so richtig an?«

»Weil wir... passen.« Ihre Münder verschmolzen miteinander, als Jean-Luc sie fest an sich zog. Sie passten wirklich zusammen. Ihre Lippen fühlten sich auf seinen genau richtig an. Ihre Brüste bewegten sich genau richtig an seinem Brustkorb.

Er strich mit den Händen ihren Rücken hinab. Ihr Kreuz schmiegte sich perfekt gegen seinen Bauch, ihre Hüften ruhten verlockend an seinem Schoß, und ihr Bauch polsterte seine harte Erektion. Sie war einfach auf jede Art perfekt.

Wie konnte er sie gehen lassen? Vielleicht würde sie lernen, ihn als Vampir zu akzeptieren. Vielleicht konnte er die Art Liebe haben, die Roman und Angus gefunden hatten. Vielleicht konnte er sogar eine Familie gründen.

Ein plötzlicher Lichtblitz traf sie, als ein Auto die Auffahrt hinaufkam. Er zog sie sofort hinter die Säule in den Schatten.

»Glaubst du, es ist Louie?«, flüsterte sie.

»Nein. So offensichtlich würde er nicht vorgehen.« Jean-Luc beobachtete, wie das Auto an Heathers Truck und seinem BMW vorbeifuhr. Es kam mit quietschenden Reifen genau vor der Tür zum Stehen. »Wahrscheinlich einer deiner Verehrer aus der Stadt.«

»Ich habe keine Verehrer«, murmelte sie.

»Wer war dann der laute kleine Mann, den ich ins Wasser werfen musste?«

»Coach Gunter. Er ist eher eine Plage als ein Verehrer.« Heather verdrehte den Hals, um einen Blick um die Säule herum zu werfen, aber Jean-Luc zog sie zurück in den Schatten.

»Vorsicht.« Er kniff die Augen zusammen, als der Mann aus dem Auto stieg. »Ja. Der da ist auf jeden Fall in dich verliebt.«

»Was?«, schnaufte sie.

»Heather!«, brüllte der Mann von der Auffahrt. »Ich weiß, dass du hier bist!«

»Cody?«, flüsterte sie mit verzogenem Gesicht. »Mein Ex liebt mich nicht. Er hasst mich.«

»Er hasst es, dass du ihn zurückgewiesen hast«, flüsterte Jean-Luc. »Aber er liebt dich noch. Glaub mir, ich kenne die Anzeichen.«

»Tust du?« Zweifelnd musterte sie ihn.

»Komm schon raus, Heather«, brüllte Cody. »Ich hab dich auf der Veranda gesehen, wie du diesen Mann geküsst hast.«

»Eifersucht«, flüsterte Jean-Luc.

»Die ganze Stadt weiß es schon«, brüllte Cody weiter. »Alle wissen, dass du jetzt hier wohnst, sie wissen, dass du dich mit diesem Ausländer zusammengerottet hast.«

»Soll ich ihn aufspießen?«, fragte Robby, als er leise die Vordertür hinter sich schloss.

»Nein.« Jean-Luc trat aus den Schatten in das Licht neben der Vordertür. »Sie betreten unbefugt ein privates Grundstück. Ich schlage vor, dass Sie wieder verschwinden.«

»Ich habe das Recht, hier zu sein. Sie haben meine Tochter da drinnen. Was tun Sie ihr an?«

»Bethany geht es ausgezeichnet.« Heather trat ins Licht. »Du kannst sie zum vereinbarten Zeitpunkt nächsten Freitag abholen. Jetzt fahr nach Hause, Cody.«

»Warum? Damit du es mit deinem neuen Freund treiben kannst? Ich wusste nicht, dass du so eine verdammte Schlampe bist, Heather.«

»Genug!« Jean-Luc konzentrierte all seine Gedankenkraft auf Codys Stirn. Der Bastard stolperte ein paar Schritte rückwärts. Jedes Mal, wenn du Heather beschimpfst, wirst du eine Schabe werden.

Cody brach auf dem Ziegelpflaster zusammen.

Heather trat einen Schritt vor. »Was...«

»Lass ihn.« Jean-Luc fasste ihren Arm.

Cody zuckte auf der Auffahrt liegend und erhob sich dann auf alle viere. »Ich bin eine Schabe«, krächzte er.

Es war unglaublich. »Nicht schon wieder.«

Cody krabbelte auf den BMW zu, sprang darauf und kroch über die Haube.

Jean-Luc zuckte zusammen, als er sah, was seinem Auto angetan wurde. Du kannst deine Tochter dieses Wochenende nicht abholen.

Cody taumelte auf sein Auto zu. »Ich kann meine Tochter dieses Wochenende nicht abholen.« Er hechtete durch das offene Fenster in sein Auto und zappelte herum.

»Ist er betrunken?« Heather verzog das Gesicht, als der Motor startete. »Er sollte so nicht fahren.«

Das Auto machte einen Satz vorwärts und rollte über den Kantstein, wo die Auffahrt sich dem Highway anschloss.

Du wirst gut fahren, übertrug Jean-Luc in Gedanken, auch wenn er sich nicht sicher war, dass Cody in seinem Zustand überhaupt fahren konnte.

Das Auto hörte auf zu schlingern und fuhr in einer geraden Linie den Highway hinunter.

Heather atmete langsam aus. »Er ist verrückt geworden. Gott sei Dank will er Bethany dieses Wochenende nicht.«

»Das war mal was anderes.« Robbys Stimme hinter ihnen klang begeistert.

Jean-Luc sah sich um und merkte, dass der Schotte ihn belustigt ansah. »Bist du so weit?«

»Aye.« Robby schritt die Treppe zur Auffahrt hinunter, zwei Schwerter in der Hand. »Lass mich erst das Auto untersuchen.«

****

»Das ist es.« Heather betrachtete das Queen-Anne-Haus, das von Jean-Lucs Scheinwerfern beleuchtet wurde, während er parkte. Zwischen dichten Azaleensträuchern in den vorderen Blumenbeeten erkannte sie einen Steinkeller.

Das zweigeschossige Holzhaus stand mitten im Nirgendwo, aber vor fünfzig Jahren hatte es Kunden aus dem ganzen Staat angezogen. Ein großes Schild bei den Eingangsstufen verkündete Chicken Ranch, est. 1863. Heather bemerkte einen alten Chevy Impala auf dem Parkplatz, wahrscheinlich Mrs. Boitons Auto.

Sie nahm ihre Handtasche, in der sich Fidelias Glock und eine Taschenlampe befanden, und ging zu Jean-Luc auf den Gehweg. Robby reichte ihm seinen Degen, und Jean-Luc schob ihn in eine Scheide unter seinem langen schwarzen Mantel. Diese Mühe machte Robby sich nicht. Er verbarg den Claymore noch nicht einmal hinter seinem Rücken.

Heather schüttelte den Kopf, als sie die Stufen zur Veranda erklommen. »Die Kuratorin lässt euch mit den Schwertern gar nicht erst rein.«

»Das ist die geringste meiner Sorgen.« Jean-Luc klopfte an der Tür.

Während sie warteten, bewunderte Heather die verschwenderischen Schnitzarbeiten um die überdachte Veranda und die Korbmöbel, die darauf standen. »Sie haben sich gut um alles gekümmert.«

Jean-Luc klopfte erneut.

Am Telefon wirkte Mrs. Bolton sehr verlässlich. »Sie hat gesagt, sie wartet auf uns.«

Jean-Luc drehte den Türknauf, und die Tür öffnete sich langsam. »Sie hat nicht abgeschlossen.« Er betrat das schwach beleuchtete Foyer, und Robby folgte dicht hinter ihm.

»Hallo?«, rief Heather, als sie ins Haus trat. Keine Antwort. Sie sah sich um und ließ den Blick über die beflockte Tapete und die Orientteppiche auf dem Parkettfußboden schweifen. »Vielleicht ist sie im Badezimmer.«

Robby glaubte offensichtlich nicht an eine so einfache Antwort, denn er zog sein Schwert. Er betrat das dunkle Empfangszimmer zu seiner Rechten, die Faust fest um den Griff seines Claymores geschlossen.

Plötzlich blieb er stehen. »Allmächtiger«, flüsterte er.

»Was ist los?« Jean-Luc eilte ihm nach und blieb ebenfalls abrupt stehen.

Heather konnte nichts erkennen, also tastete sie sich vorsichtig an der Wand entlang, bis sie einen Lichtschalter fand. »Lieber Gott.«

Das Licht strahlte auf die gegenüberliegende Wand, wo ein riesiges Ölgemälde sich über eineinhalb Meter ausbreitete. Heather schluckte. Kein Wunder, dass Fidelia sich an dieses Gemälde erinnerte. Wer könnte es vergessen? Eine kurvige Blondine lag auf einer mit Samt bezogenen Chaise, vollkommen nackt, und befriedigte sich selbst. Eine Hand lag auf ihrer vollen Brust, die andere zwischen ihren gespreizten Beinen. Von ihrem Gesichtsausdruck ließ sich schließen, dass ihre Hände wahre Wunder vollbringen konnten.

»Du meine Güte. Das überlässt ja nichts mehr der Vorstellungskraft.« Heather wendete sich ab, um sich den Rest des Zimmers anzusehen. Rote Samtliegen, wie die auf dem Bild, standen an den Wänden entlang aufgereiht. Sie fragte sich, ob die Prostituierten die Szene darauf für zahlende Kunden nachgestellt hatten.

Robby neigte seinen Kopf zur Seite, während er das Bild betrachtete. »Ich nehme an, es dient dazu, den Mann vorzubereiten.«

Jean-Luc stellte sich neben ihn, ebenfalls wie gefesselt von dem Gemälde. »Vom geschäftlichen Standpunkt her ergibt das durchaus einen Sinn. Wenn die Männer schon bereit sind, ihren Dienst zu leisten, können mehr Kunden abgearbeitet werden.«

»Und so wird mehr Geld gemacht«, schloss Robby.

»Hallo?« Heather wedelte eine Hand vor ihren Gesichtern, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Wir suchen nach einem wahnsinnigen Mörder, erinnert ihr euch noch?«

Robby zuckte zusammen, als erwachte er aus einer Trance. »Ich werde mich mal umsehen.« Er kehrte ins Foyer zurück und erklomm die Treppe.

Heather betrachtete das Bild und dann Jean-Luc mit einem Stirnrunzeln. »Bist du so weit?«

Sein Mund zuckte. »Mir tut sie ein wenig leid. So viele Männer sind hierhergekommen, und sie muss immer noch ihre eigenen Hände benutzen, um befriedigt zu werden.«

Heathers Standpunkt zu diesem Thema war äußerst praktisch. »Wenn eine Arbeit gut erledigt werden soll, muss man sie eben selbst machen.«

Er hob eine Augenbraue. »Ist das bei dir so?«

Sie schnaufte. »Ich habe nicht von mir gesprochen.«

»Bist du sicher? Hatte dein Ex nicht nur drei Schritte?«

Ihre Wangen überzog ein leichter Rotton. »Ich frage mich, was mit Mrs. Bolton passiert ist.« Sie ging auf eine geschlossene Tür zu und klopfte, ehe sie sie öffnete. »Hallo?«

»Erlaube mir.« Jean-Luc zog seinen Degen und betrat den Raum als Erster.

Heather fuhr mit der Hand die Wand entlang und fand einen Lichtschalter. Ein kleiner Kristallleuchter hing von der Decke, der von einem Spiegel in einem reich verzierten, goldenen Rahmen eingefasst war. Der Spiegel reflektierte die Lichter des Leuchters und brachte einen Teil der Decke zum Funkeln, aber Heather hatte den Verdacht, dass er auch noch für andere Zwecke gedacht war. Immerhin war er über einem großen Bett angebracht.

Das Bett und die Fenster waren mit rotem Satin und Spitze dekoriert. Rote Tapeten, mit schwarzen Amorfiguren beflockt, zierten die Wände. Ein großer Schreibtisch mit Schubfächern stand in einer Ecke.

»Das Zimmer der Madame, glaube ich.« Jean-Luc sah in einen Schrank. »Auch wenn es aussieht, als ob sie selber einige Kunden bedient hätte.«

»Jepp.« Heather deutete auf ein Paar Handschellen, die am schmiedeeisernen Betthaupt festgemacht waren. »Sieht aus, als müsste sie immer die Kontrolle behalten.«

Jean-Luc runzelte die Stirn. »Dem könnte ich mich nie hingeben. Ich mag es nicht, mich machtlos zu fühlen.«

Heather schnaubte. »Du müsstest dich einfach darauf verlassen, dass ich dir nicht wehtue.« Sie erstarrte. »Ich meine, wer auch immer bei dir ist.« Ihr Gesicht wurde heiß.

Während er auf sie zuging, wurde sein Lächeln breiter. »Lädst du mich in dein Bett ein, Chérie?«

»Nein. Ich meinte das theoretisch.« Sie verschränkte ihre Arme. »Auch wenn ich bezweifle, dass ich dich ans Bett fesseln müsste.«

»Nein, das müsstest du nicht.« Seine Augen funkelten. »Würde ich dich fesseln müssen? Rein theoretisch?«

Sie strich ihr Haar aus ihrer feuchten Stirn. Diese Theorie wurde ihr ein wenig zu heiß. »Ich muss auch das Gefühl haben, die Kontrolle nicht zu verlieren.«

»Ah, jetzt hast du mich herausgefordert.« Er trat näher auf sie zu. »Dich die Kontrolle verlieren zu lassen.«

Heather schluckte heftig. »Ich glaube, wir kommen vom Thema ab. Wir müssen Mrs. Bolton finden.« Sie ging zu einer weiteren Tür.

Jean-Luc ging als Erster hindurch, und sie folgte ihm. Es schien sich um ein weniger formelles Empfangszimmer zu handeln, in dem die Damen sich entspannen konnten, wenn sie nicht ihrer Pflicht nachgehen mussten. Es führte ins Foyer und den Raum daneben, die Küche. Dort fanden sie eine Tür zum Keller.

Robby schloss sich ihnen an und bestand darauf, als Erster hinabzusteigen. Er betätigte den Lichtschalter. Nichts geschah.

»Vielleicht ist die Sicherung rausgesprungen«, meinte Jean-Luc.

Gut, dass Heather ihre Taschenlampe in die Handtasche gesteckt hatte. Sie leuchtete die Treppe hinab. Robby ging zuerst, gefolgt von Jean-Luc und Heather. Am Fuß der Treppe sahen sie im Lichtkegel der Taschenlampe einen kleinen Lagerraum mit Regalen. Der Keller war offensichtlich in mehrere Räume unterteilt.

»Riechst du das?«, fragte Robby leise.

»Ja.« Jean-Luc griff Heathers Arm. »Ich bringe dich zurück zum Wagen.«

»Was? Warum?« Sie sah, dass Robby in den angrenzenden Raum ging. Sie sog die Luft scharf ein, konnte aber nichts als Staub riechen.

»Lui ist nicht hier«, rief Robby aus dem anderen Raum, »aber ich brauche die Taschenlampe.«

»Merde.« Jean-Luc legte seinen linken Arm fest um Heather. »Bleib bei mir.«

Sie zitterte, und das Licht schwankte, als sie den angrenzenden Raum betraten.

»Die Wand zu eurer Linken«, kam Robbys Stimme aus der Dunkelheit. »Dort kommt der Geruch her.«

Sie deutete mit der Taschenlampe auf die Wand und keuchte erschreckt auf, als rote Buchstaben auftauchten. Es war eine Nachricht, aber sie verstand die Sprache nicht.

»Es ist französisch.« Jean-Luc nahm ihre Taschenlampe und leuchtete die Wörter entlang. »Da steht ›Wir treffen uns zu der von mir bestimmten Zeit.‹ Unterschrieben mit einem L.«

»Louie«, flüsterte Heather und trat einen Schritt zurück. »Er war hier.«

Robby untersuchte die roten Buchstaben. »Ist noch ganz frisch.«

Mit einem Keuchen wurde Heather klar, dass das dort an der Wand keine Farbe war. Es war Blut. Frisches Blut. Sie trat einen Schritt zurück. Ihr ganzer Körper war von einer Gänsehaut überzogen. »Er hat die Nachricht für uns hinterlassen. Er wusste, dass wir kommen.«

»Ja.« Jean-Luc betrachtete die Nachricht weiter.

In ihrer Kehle stieg Galle hoch. Wo kam das ganze Blut her? Sie trat einen Schritt zurück und stolperte.

»Aaah!« Sie fiel rückwärts und landete auf etwas Massigem. Sie schrie noch einmal.

Jean-Luc drehte sich schnell um und richtete den Strahl der Taschenlampe auf Heather. Und die Leiche.

»Oh mein Gott!« Auf allen vieren rutschte sie in Sicherheit.

Die Leiche einer Frau lag auf dem Kellerboden. Ihre Kehle war aufgeschlitzt. Jean-Luc und Robby eilten zu ihr.

Alles ging sehr schnell. Heather schlug eine Hand auf ihren Mund, und im selben Moment packte Jean-Luc sie. Ihr wurde einen Augenblick lang schwarz, dann schlecht und schwindelig.

****

Eine kühle Brise wehte über ihr Gesicht, als sie plötzlich auf dem Parkplatz neben dem BMW standen. Sie musste eine Minute lang ohnmächtig gewesen sein, weil sie sich nicht erinnern konnte, wie sie dorthin gekommen waren.

»Bringen wir dich lieber nach Hause.« Jean-Luc half ihr dabei, ins Auto zu steigen.

Mit zitternden Händen legte sie ihre Handtasche auf den Boden zwischen ihren Füßen. Die arme Mrs. Bolton. Sie war zu Louies erstem Opfer in Texas geworden. Mit einem Schaudern wurde Heather klar, dass sie »erstes« gedacht hatte.

Sie konnten nicht zulassen, dass Louie noch einmal tötete. Zumal Heather selbst und Bethany auf seiner Liste standen.