19
Ich starrte auf die geschlossene Tür und hörte ein gemurmeltes Gespräch dahinter. »Wie meinst du das?«, fragte ich Ivy, und sie zuckte mit den Schultern.
»Woher soll sie wissen, dass du hier bist? Hast du sie angerufen? Ich nicht.«
Nein, hatte ich nicht. Ich schaute wieder durch den Spion und sah, dass sie und Robbie über die Sache diskutierten. »Sie weiß, dass ich irgendwo in der Stadt bin«, sagte ich. »Sie ist verrückt, aber nicht dumm, und wahrscheinlich weiß die Presse, wo Trent sich aufhält.«
»Rachel?«, rief meine Mom. »Ich will vor dem Prozess noch mit dir reden, Liebes.«
Ivy schüttelte den Kopf. »Sie flucht nicht. Und wann war Robbie jemals glücklich, dich zu sehen?«
Ich runzelte die Stirn und schielte wieder durch das Guckloch, um meine Mom besser zu sehen. Ihre Schuhe passten nicht zu ihrem Kleid, und Robbie lächelte immer noch. Der letzte Punkt entschied die Sache. »Du hast Recht.« Ich erhob die Stimme und schrie: »Netter Versuch! Geht weg!« Ich ging hinter der Tür in die Hocke und fühlte mich wie das kleine Geißlein, das den großen, bösen Wolf nicht reinließ.
»Ist Trent da?«, fragte der Mann, der nicht Robbie war, und seine Stimme klang seltsam.
Ivy lehnte sich Richtung Tür. »Nein«, sagte sie angriffslustig. »Und was macht ihr jetzt?«
Ich schlug ihr auf die Schulter, und sie blinzelte mich unschuldig an. Der braune Ring um ihre Augen verschwand, und ich wich einen Schritt zurück. »Warum hast du ihnen das erzählt?«
»Um die Sache zu beschleunigen. Ich will heute Abend den Sonnenuntergang über der Bucht sehen.«
Ich seufzte und lehnte mich wieder zum Spion, aber ich erhaschte nur einen kurzen Blick auf die beiden, die sich über ein leuchtendes Kraftlinienamulett beugten, bevor ich mich zur Seite warf und Ivy mitnahm.
Ihr Protestschrei wurde von einem lauten Knall übertönt, und die schwere Stahltür flog nach innen und landete auf der ersten Couch im Wohnzimmer.
»Heilige Scheiße«, schrie ich und kämpfte um mein Gleichgewicht. Als ich den rauchenden Türrahmen sah, griff ich nach einer Kraftlinie, aber die Energiequelle quoll durch meine geistigen Finger wie Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Es tat weh, und ich kämpfte darum, mein Chi mit dem scheußlichen Zeug zu füllen.
Der Rauch verzog sich, und ich ließ Ivy los, als Robbie und meine Mutter hereinkamen. Jetzt war offensichtlich, dass sie es nicht waren, und ich verzog das Gesicht, als ich Wyatt und diese junge Hexe aus dem Zirkel hinter ihnen bemerkte. Verdammter Mist! Trent hatte Recht gehabt. Sie würden versuchen, mich umzubringen.
»Ihr!«, rief ich, dann jaulte ich auf, duckte mich und versuchte, einen Schutzkreis zu errichten, als Robbie eine kleine Luftpistole herauszog und auf mich richtete. Heiliger Dreck, sie hatten alle Luftpistolen!
Der Schutzkreis um Ivy und mich wurde durchlässig und brach in sich zusammen. Er flackerte einfach einmal auf und fiel dann in sich zusammen. Schockiert blieb ich stehen, während Ivy sich das Tablett vom Couchtisch schnappte. Die Reste der Cracker und der kalte Braten flogen durch den Raum, als sie es hochriss, um den Splat Ball abzufangen. Er traf die Oberfläche mit einem Ping und dem Zischen von Magie. Gelber Schaum bildete sich und wurde schnell schwarz, weil das Salz in der Luft auf ihn wirkte. Ivy verzog die Lippen zu einem höhnischen Lächeln und warf das Tablett wie ein eckiges Frisbee auf meine Nicht-Mutter.
Sie ließ ihre gezogene Pistole fallen und sprang aus dem Weg, wobei sie gegen Robbie knallte und seine Waffe zur Seite schlug. Sein Splat Ball traf die Decke. Trent würde ziemlich sauer werden. Das Tablett knallte gegen die Wand und blieb zitternd stecken. Es hätte problemlos ein paar Rippen brechen können. Was auch immer in diesen Splat Balls war, mit denen Robbie um sich schoss, es war nicht nett. Robbie — zur Hölle. Es war Oliver. Ich konnte es an der Art erkennen, wie er knurrte und schrie: »Erschießt sie beide!«
»Runter!«, zischte Ivy und zerrte mich die Stufen zum oberen Wohnzimmer hinauf und hinter die Couch.
»Mein Schutzkreis hat nicht gehalten!«, sagte ich und fühlte mich irgendwie verraten. Sie waren zu viert. Oliver sah aus wie Robbie. Diejenige, die sich als meine Mutter ausgab, war wahrscheinlich Amanda, da ich Wyatt an seinen harten braunen Augen und der strengen Miene erkannte. Und die letzte, dämlich aussehende Hexe — das war, wenn ich mich richtig an die Zeitungsartikel erinnerte, Leon.
»Ihr konntet einfach nicht bis heute Nacht warten, hm?«, schrie ich, dann duckte ich mich hinter den riesigen Fernseher auf dem Drehtisch, der fast schon ein Raumteiler war. Gelber Schaum knisterte, wo Ivy und ich gestanden hatten. Ivy roch nach aufgeregtem Vampir, als sie sich neben mich kauerte, und ihre Augen wurden jede Sekunde schwärzer. Meine Tasche lag auf der Couch. Aber es war sowieso nichts drin, was mir helfen konnte.
»Ich dachte, du hast gesagt, dass Erdmagie an der Küste nicht funktioniert«, hauchte Ivy atemlos, und ich riss sie wieder nach unten, als ich zwei sanfte Schüsse hörte.
»Gewöhnlich tut sie das auch nicht«, sagte ich und ging in Gedanken mein Repertoire an magischen Tricks durch, aber mir fiel nichts ein. Sie hatten es perfekt getimt. Kein Wunder, dass sie nicht versucht hatten, mich auf dem Weg hierher zu töten. Hier war der einzige Ort, an dem ich hilflos war. »Aber sie sind der Hexenzirkel«, sagte ich, beäugte die schwarzen Blasen ihrer Magie und versuchte zu kalkulieren, wie lange das natürliche Salz in der Luft brauchen würde, um den Zauber zu brechen. »Du weißt schon, die Besten der Besten. Der Zauber muss ja nur lange genug wirken, um uns zu töten.« Ich sah sie an und fing an, mir Sorgen zu machen, während ich Olivers Forderung lauschte, dass wir uns zeigen sollten. »Wie lange dauert das?«
»Drei Sekunden, wenn du dich nicht wehrst«, erklärte sie grimmig.
Ja. Etwas in der Art hatte ich mir auch gedacht. Verdammt, wo war Pierce, wenn ich ihn brauchte? Mister Schwarzmagie wäre im Moment wirklich hilfreich.
Die Schüsse hatten aufgehört, und ich war nicht überrascht, als ich Oliver sagen hörte: »Sie kommt nicht raus. Du gehst da lang, und ich komme von der anderen Seite.«
Oooh, sie würden sich aufteilen. Dumme Entscheidung.
Ich schaute zu Ivy und hatte das Gefühl, dass wir die Situation vielleicht doch noch retten konnten. »Ich nehme die zwei Kerle, du kümmerst dich um meine Mom und Robbie.«
Ivys Blick wurde unkonzentriert, als sie ihre Ohren benutzte, um ihre Positionen im Raum zu bestimmen. »Nicht böse sein, Rachel«, flüsterte sie. »Aber deine Mutter kriegt eins aufs Dach.«
Ich nickte, aber Ivy bewegte sich bereits. Sie stieß einen Schrei aus, als sie sich über den zaubergetränkten Teppich warf und auf die zerbrochene Tür zurollte. Ich stand auf und sah, dass ihre Rolle sie direkt vor meine schockierte Mutter führte. Mit einem Tritt gegen Wyatt schlug sie meiner Mom mit dem Handrücken ins Gesicht und schleuderte sie damit neben dem zitternden Tablett gegen die Wand. Amandas Arme knallten gegen die weiße Fläche, und sie verlor die Waffe, die auf den Boden fiel. Ivy packte sie und drehte sich grinsend um.
Die Männer hatten sich verteilt. Der vernünftigere Wyatt eilte auf das Badezimmer zu, von wo aus er ein besseres Schussfeld hatte, der weniger erfahrene Leon tauchte in der Küche ab, um sich hinter dem Tresen zu verstecken. Oliver sprang ebenfalls Richtung Küche, als er die Waffe in Ivys Hand sah.
»Hey!«, schrie ich. Ich blieb aufrecht stehen und duckte mich im letzten Moment unter Wyatts Schuss hinweg. Oliver warf einen Blick über den Tresen und schoss wild um sich. Fast hätte er Ivy getroffen. Sie verzog das Gesicht und packte sich Amanda, bevor die arme Frau ihr Gleichgewicht wiederfinden konnte, weil sie von ihrem Aufprall immer noch betäubt war. Olivers nächster Schuss traf sie direkt gegen die Brust. Amanda riss die Augen auf und verlor das Bewusstsein. Ihre Wut auf Oliver löste sich in einem zauberbedingten Koma auf.
»Schießt auf sie! Schießt auf den Vampir!«, verlangte Oliver, und Wyatt streckte den Kopf aus der Badezimmertür. Sein Blickfeld war nicht so groß, wie er es sich gewünscht hatte, und er musste sich aus der Deckung begeben, wenn er einen guten Schuss auf mich abgeben wollte. Aber er zielte nicht auf mich, und ich warf eine Vase in seine Richtung. Ich kniff die Augen zusammen, als sie von einem schnell errichteten Schutzkreis abprallte und auf den Fliesen zerschellte. Entweder war er an die schrecklichen Linien hier gewöhnt oder er benutzte einen Vertrauten.
Wutentbrannt schoss Wyatt auf mich und ich duckte mich wieder. Das gab Ivy die Sekunde, die sie brauchte, um Deckung zu finden. Auf Adrenalin war sie wunderschön. Sie glitt zu mir zurück und blieb geduckt im Schutz des Fernsehers stehen. »Ich habe dir was mitgebracht«, sagte sie und gab mir Amandas Waffe. Ich warf einen kurzen Blick auf die bewusstlose Hexe. Der Zauber löste sich nicht so schnell auf, wie ich erwartet hatte. Musste ziemlich starkes Zeug sein. Ich wette, sie war stinksauer, weil einer von Olivers Zaubern sie erledigt hatte. Wieder mal.
»Danke«, sagte ich, als ich die Waffe in der Hand wog, dann ballerte ich ein paar Schüsse in die generelle Richtung von Küche und Bad, nur, um sie wissen zu lassen, dass ich sie hatte. »Hey!«, schrie ich, die Augen immer noch auf Amanda. »Was habt ihr in den Splat Balls, Jungs?«, fragte ich. »Wird Amanda in Ordnung kommen oder sollen wir eine Auszeit ausrufen?«
»Gib mir Deckung!«, schrie Oliver Leon an, und Ivy lachte leise, als die junge Hexe sich weigerte. Dass man gut mit Magie umgehen konnte, bedeutet noch nicht, dass man gerne sein Leben riskierte. Wyatt streckte den Kopf vor, und ich schoss auf ihn. Sein aufflackernder Schutzkreis lenkte den Schuss an die Decke ab, von wo aus der Schaum auf den Teppich tropfte. Dabei kam mir eine Idee, und ich zielte auf die Decke im Bad. Zwei kurze Plopps später und über der Schwelle hing eine grauenhafte schäumende Masse und bildete einen giftigen Stalaktiten. Mit ein wenig Glück würde es auf Wyatt tropfen.
»Wie kommt es, dass seine Magie funktioniert?«, fragte Ivy.
Ich drückte mich tiefer in den Schutz des Fernsehers. »Er ist an die Kraftlinien hier gewöhnt.« Ich wünschte mir, bei mir wäre es genauso. Aber um fair zu sein, auch seine Schutzblasen hielten nicht lang. Vielleicht gab es da einen Trick.
»Hey, Ivy«, sagte ich, als mir plötzlich ein Gedanke kam. Ich konnte kaum eine Kraftlinie anzapfen, aber ich kannte einen Zauber, der schnelle Energiestöße benutzte statt ein langsames Ziehen an der Linie wie zum Beispiel ein Schutzkreis. Vielleicht konnte ich etwas tun, wenn ich weiter Energie speicherte und sie damit sozusagen filterte. »Ich habe eine Idee«, sagte ich, drehte die Waffe um und öffnete das Magazin.
Ivys erst verwirrter Gesichtsausdruck wurde amüsiert, als ich einen kleinen gelben Ball in meine Hand schüttelte. Offensichtlich erinnerte sie sich an unsere Spiele auf dem Friedhof, wo ich Splat Balls abgelenkt hatte, die Ivy auf mich abschoss und die Pixies auf mich warfen. Ich brauchte nur ein wenig Kraftlinienenergie und ein Bezugsobjekt. »Aber du kannst keine Linie anzapfen«, protestierte sie, als ich das Magazin wieder in die Waffe rammte und ihr die Pistole gab.
»Kann ich schon. Ich kann sie nur nicht besonders lange halten«, erklärte ich und straffte die Schultern, als die fragmentierte Energie in mich floss, mein Chi füllte und überfloss, um in meinem Kopf gespeichert zu werden. Mein feuchtes Haar würde liegen bleiben und mich damit nicht verraten. »Also, du nimmst die Waffe und ich lenke einfach ab, was sie schießen.« Ich brauchte Pierce nicht. Wir konnten das zusammen schaffen, wie wir es immer taten. Mich auf ihn zu verlassen hatte mich weich werden lassen.
Ivys Lächeln wurde breiter. »Bereit?«, fragte sie und duckte sich, als ein Splat Ball nur Zentimeter über ihren Kopf hinwegschoss.
War ich nicht, aber sie war bereits losgesprungen, und das leise Plopp-plopp-plopp komprimierter Luft gesellte sich zu ihren Schreien, als sie zu der zerbrochenen Tür sprang und sie nach oben riss, um dahinter in Deckung zu gehen. Ich stand auf, den Splat Ball locker in der Hand. »Hey!«, schrie ich und alle Köpfe drehten sich zu mir.
Mit leuchtenden Augen richtete Oliver seine Waffe auf mich. Mein Herz raste. Vier Luftstöße erklangen, aber ich bewegte bereits die Hand. Daumen und kleiner Finger zeigten die Richtung und Entfernung an, die drei mittleren Finger verliehen meinem Zauber Stärke. »Iacio!«, schrie ich und fühlte einen Energieabfall in meinem Chi.
Mein Kraftlinienzauber traf den Splat Ball, der auf Ivy zuschoss, das gelbe Plastik prallte ab, als hätte es eine Wand getroffen, und wirbelte zu Wyatt zurück. Er riss die Augen auf und zog sich zurück und die kleine Kugel verschwand irgendwo im Bad. Ich konnte es. Es würde funktionieren!
»Iacio!«, schrie ich wieder und warf einen zweiten Ball zurück auf Leon. Der Mann duckte sich hinter die Kücheninsel und in seinen braunen Augen stand Angst.
»Rhombus!«, schrie ich, und die zwei Schüsse von Oliver trafen meine Schutzblase, während ich mich duckte, weil ich mich nicht darauf verlassen wollte. Die Bälle verlangsamten sich, als wären sie gegen ein Gazenetz geflogen, und fielen dann intakt zu Boden.
»Rachel!«, schrie Ivy, und ich wirbelte mit erhobener Hand herum, um Wyatts nächsten Schuss abzuwehren. Ich hatte nicht genug Zeit für einen Zauber und mein Schutzkreis brach bereits wieder zusammen. Ich sprang in Deckung. Sein Schuss verfehlte mich um ein gutes Stück, als er zu früh abdrückte, um sich dann hinter einem eigenen Schutzkreis zu verschanzen. Dreck, es funktionierte nicht, aber während ich mich noch wappnete, um einen weiteren Zauber abzulenken, konnte ich sehen, wie die Masse an der Badezimmerdecke endlich tropfte.
Wyatt zuckte zusammen, als der Zauber seinen Kopf traf, befühlte die kalte Stelle und riss entsetzt die Augen auf. Er suchte meinen Blick, und ich sah ihn an, während ich hören konnte, dass Ivy auf Oliver und Leon schoss. »Dämonenbrut«, sagte Wyatt mit hasserfülltem Blick, dann rollten seine Augen nach oben, und er fiel um.
Zwei erledigt. Zumindest, bis der Zauber vom Salz in der Luft aufgelöst wurde.
Mit einem Grinsen zog ich heftig an den zerbrochenen Kraftlinien und speicherte tief in mir Energie, die nach geborstenen Steinen schmeckte. Ivy hatte keine Munition mehr und schmiss angewidert ihre Waffe auf den Boden. Trotzdem versteckte sie sich nicht hinter der Tür, sondern stiefelte dreist auf die Küche zu — zu mir.
Das schmale Gesicht meines Bruders, das Oliver trug, war hässlich gerötet, während er in der Küche stand und auf mich schoss, wobei er für jeden Schritt, den ich auf ihn zutrat, ein kleines Stück zurückwich. Er wurde immer verängstigter und schoss immer wilder um sich, als ich seine Magie mit schnell errichteten Schutzblasen stoppte, die ich wieder senkte, sobald seine Magie sie getroffen hatte. Ich fühlte mich wie ein Dämon, unaufhaltsam, und ein Teil von mir machte sich Sorgen, während ich dieses Gefühl gleichzeitig genoss.
»Warum stirbst du nicht?«, schrie er mich an, als ich ihn an Leon vorbei nach hinten drängte. Die junge Hexe kauerte mit zitternder Waffe in einer Ecke. Aber Oliver kapierte es immer noch nicht. Vier Mitglieder des Hexenzirkels reduziert auf zwei, bald schon nur noch eines, und all das wegen ein bisschen mehr Wissen. Dabei war ich nicht mal schwarz. Ich konnte Kraftlinienenergie speichern, und sie konnten es nicht. Das hatte den Unterschied ausgemacht.
»Halt endlich den Mund«, sagte ich. Ich konnte Ivy hinter mir fühlen und riss das Bein in einem weiten Halbmondtritt nach oben. Dass Oliver immer noch aussah wie mein Bruder, war ein Bonus.
Oliver riss die Augen auf und schrie protestierend auf, als er meinen Fuß auf sich zurasen sah. »Nein!«, konnte er noch schreien, dann traf ich sein Kinn.
Die Erschütterung übertrug sich nach oben, und ich sprang zurück und hüpfte auf einem Bein, während der andere Fuß in scharfem Schmerz pulsierte. Genau deswegen hatte ich nicht die Faust benutzt. Ich stolperte. Ivy packte meinen Arm, und zusammen fanden wir unser Gleichgewicht. »Du musst wirklich endlich die Klappe halten«, flüsterte ich, das Gewicht auf dem guten Bein, während ich auf Oliver herabschaute, der bewusstlos an den Küchenregalen lehnte. Trankflecken zischten und brodelten, und ich schaute nach oben, um sicherzustellen, dass nichts an der Decke hing, um auf mich herabzutropfen. Ich war erschöpft, und als Ivy mich losließ, runzelte ich die Stirn.
Mein Blick wanderte zu Leon, der sich angsterfüllt gegen die Schränke drückte. Verängstigt ließ er die Waffe fallen und schob sie über die Fliesen auf uns zu. Anscheinend war es bis auf die gerichtlichen Folgen vorbei.
Ivy lächelte die junge Hexe an, und ich ging vor Oliver in die Hocke und befühlte die Kette des nicht ganz legalen Kraftlinienzaubers, der ihn in meinen Bruder verwandelte. Te-ee-eu-uer. Ich riss fest genug daran, um die Kette zu sprengen, und warf das Amulett in die Spüle. Das Gesicht meines Bruders flackerte und verschwand, um Oliver zurückzulassen, immer noch bewusstlos und mit Speichel im Mundwinkel. Ich stand auf und wünschte mir, ich hätte ein paar Zip-Strips. Er hatte ein rotes Mal auf der Wange, das bereits anschwoll. Verdammt, mein Fuß tat weh.
»Wirst du brav sein?«, fragte Ivy Leon, und als er nickte, schlenderte sie aus der Küche. Ich beobachtete sie ein wenig besorgt. Sie hatte sich gestern um sich gekümmert und hatte also keinen Hunger, aber Kämpfe brachten immer das Schlimmste in ihr an die Oberfläche.
»Pass auf diesen tropfenden Trank auf«, warnte ich sie, und sie zog Wyatt auf den Teppich, bevor sie ihn hochhob und ohne großes Tamtam neben Oliver warf. Als Nächstes kam Amanda. Zumindest ging ich davon aus, dass es Amanda war.
»Was wirst du mit uns machen?«, flüsterte Leon. »Man wird uns vermissen. Du kannst uns nicht töten.«
»Mein Gott, denkst du wirklich, ich will euch töten?«, fragte ich angewidert, auch wenn mir kurz der Gedanke gekommen war, sie einfach aus dem Fenster zu schubsen. Aber sie würden immer weiter Meuchelmörder hinter mir herschicken, bis ich ins Jenseits floh und jeder meiner Bekannten im Gefängnis saß. Aber er hatte eine wichtige Frage gestellt. Ich hatte sie. Und jetzt?
»Warum konntet ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?«, fragte ich wütend. Ich trat zur Seite, um Ivy mehr Platz zu geben, als sie das Ebenbild meiner Mutter in die Küche zog und über Wyatt drapierte. Die Lider der Frau bewegten sich schon, weil der Zauber sich langsam löste. Auch Oliver bewegte sich, und als Erstes schossen seine Finger zu seiner angeschwollenen Wange. Gut. Ich hatte ihm einiges zu sagen. Dass die Tränke so lange gehalten hatten, bewies, dass es Hexenzirkel-Magie war. Oliver mochte ja wirken, als wäre er dämlich und langsam, aber das war er nicht. Er war nur einfach unglaublich rückständig.
»Habt ihr einen Gegenzauber?«, fragte ich Leon, weil ich die Sache ein wenig beschleunigen wollte.
Er drückte sich immer noch in die Ecke, und sein Blick glitt zur Vordertasche von Wyatts Jacke. »S-Salzwasser«, stammelte er.
»Danke.« Vorsichtig durchsuchte ich die bewusstlose Hexe, bis ich einige kleine Phiolen fand.
Erst jetzt nahm ich meiner Nicht-Mutter das Amulett ab und feixte, als eine untersetzte blonde Erdhexe erschien. Ja, es war Amanda. Ich öffnete die erste Phiole und kippte sie über ihr aus. Sie wachte fluchend auf, löste sich von Oliver und setzte sich mit dem Rücken zu den Küchenschränken. Als Nächstes kam Wyatt, der mich böse anstarrte, kaum dass er seine Augen wieder scharf stellen konnte.
»Wenn du dich bewegst, breche ich dir die Finger«, erklärte ich der Kraftlinienhexe, dann drehte ich mich zu Amanda um und ging in die Knie, um ihr in die Augen zu schauen. »Hi, Amanda«, spottete ich. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie sagte nichts, vollkommen erstarrt vor Angst. »Mach dir keine Sorgen«, erklärte ich, als ich aufstand und ein paar Schritte zurücktrat, »Ich werde dich nicht fressen. Zumindest nicht heute. Wenn ihr mich zwingt, mich im Jenseits zu verstecken, ändere ich allerdings vielleicht meine Meinung.«
Ivy reichte mir schweigend eine der verbliebenen zwei Waffen, bevor sie sich im breiten Durchgang zur Küche positionierte. So versperrte sie ihnen den Fluchtweg und hatte trotzdem eine gute Sicht durch den offenen Türrahmen auf den Flur. Sie stand breitbeinig da, die Hände in die Hüften gestemmt und mit dunklen Augen. Die Angst und Wut im Raum löste sich bei weitem nicht schnell genug auf. Sicher, der Hexenzirkel war besiegt, und wir hatten ihre Waffen, aber was sollte ich jetzt mit ihnen anstellen? Trent würde sie mit einem Vergessenszauber belegen. Pierce würde sie wahrscheinlich an Al übergeben wollen, nachdem Leute ihres Schlages ihn lebendig begraben hatten. Ich würde nichts davon tun und ausgerechnet mich nannten sie schwarz. Das war einfach nicht fair. Frustriert streckte ich mir die Waffe in den Rockbund.
»Dafür wirst du brennen«, knurrte Oliver.
Ich hatte genug. Wütend packte ich ihn am Kragen und schüttelte ihn. »Du hättest auf Vivian hören sollen!«, sagte ich, dann rammte ich ihn wieder gegen den Schrank. Er befühlte mit einer Grimasse seinen Hinterkopf und hatte bei weitem noch nicht genug Angst.
»Also?«, fragte Ivy. »Soll ich ein paar Freunde ausfindig machen und sie aussaugen?«
Ich verzog das Gesicht und fragte mich, ob Vivian wusste, wo sie waren, und ob es ihr gutging. Vielleicht hatten sie ihr einfach nicht gesagt, was sie vorhatten. »Ich muss kurz jemanden anrufen«, murmelte ich und machte mich auf den Weg zu meiner Tasche. »Wenn einer von ihnen sich bewegt, brich ihnen die Finger. Wenn einer von ihnen etwas sagt, schlag ihm die Zähne ein.«
Ivy lächelte so, dass man ihre Reißzähne sah, und Amanda wich zurück. Das Adrenalin im Blut machte mich unruhig, als ich meine Tasche fand und mein Handy herausholte. Spontan klappte ich es auf und suchte die Kamerafunktion. »Cheese!«, sagte ich und machte ein Foto von den vieren, zusammengesunken vor den Schränken, dann tippte ich sorgfältig Vivians Nummer ein. Nicht, dass die Presse einem Foto glauben würde, aber ich wollte den Schnappschuss für mich.
Oliver starrte böse, als das vorgetäuschte Klicken eines Fotoapparates erklang. Fast wäre er aufgestanden, aber als Ivy ihm etwas zuraunte, setzte er sich wieder. Ihr ging es erstaunlich gut, und nur ihre geweiteten Pupillen verrieten ihre Blutlust.
Ich setzte mich auf eine Sofalehne, von wo aus ich sowohl sie als auch den Flur sehen konnte. Neben mir lag die herausgerissene Tür, und ich trat dagegen. Ich hatte diese gebrochene Kraftlinie nicht losgelassen und füllte langsam mein Chi neu und speicherte den Rest, für den Fall, dass sie nochmal etwas probierten.
Schließlich hob Vivian ab. »Hey«, sagte ich, noch bevor sie irgendetwas sagen konnte. »Wusstest du, dass deine Freunde heute Nachmittag mein Hotelzimmer auseinandergenommen haben? Sie haben ein scheußliches Durcheinander angerichtet.«
»Nein, aber das erklärt eine Menge.« Nach den Hintergrundgeräuschen war sie in einem Konferenzsaal, und ich drückte mir das Handy fester ans Ohr, als Pierces Stimme erklang, die sich nach meinem Wohlergehen erkundigte. »Sind alle noch am Leben?«, fragte sie.
»Momentan noch. Und das auch nur, weil sie ihre Splat Balls mit nicht tödlichen Zaubern geladen hatten. Sie haben die Tür aus dem Rahmen gerissen, und ich werde nicht dafür aufkommen. Sind Komazauber für euch nicht ein wenig zu nah an schwarzer Magie?«
»Deine Aussage gegen unsere«, verkündete Oliver höhnisch, und Ivy drohte ihm, ihn zu schlagen.
Er war viel zu selbstbewusst. Ich holte Luft, um ihm zu sagen, dass er den Mund halten sollte, aber er kniff siegessicher die Augen zusammen und schlug seinen Handrücken gegen den Schrank. Ein leises Klirren erklang, als der Stein in seinem Ring brach.
»Runter!«, schrie ich, und Ivy suchte sich Deckung. Ich kauerte mich hinter die aufgestellte Tür, aber nichts geschah.
Oliver lachte, als ich peinlich berührt wieder aufstand. Vivian schrie ins Telefon, aber Ivy starrte mich mit verängstigten schwarzen Augen an. Und eine Sekunde später wusste ich auch, warum.
»Erdbeben!«, stieß sie hervor, und ich kämpfte um mein Gleichgewicht, als der Boden plötzlich zu Wackelpudding wurde.
»Unter einen Tisch, Rachel!«, brüllte Vivian. »In einen Türrahmen!«
Ein Stück Decke knallte zwischen Oliver und mir auf den Boden. Ich erstarrte, weil ich einfach nicht wusste, was ich tun sollte. Gleichzeitig rannten alle vier Hexen auf die Tür zu. Ich konnte mich nur mit Mühe auf den Beinen halten und fiel auf die Couch, als sie in den Flur eilten und verschwanden. Bilder fielen von der Wand und mit einem Geräusch wie ein Schuss brach eines der Fenster.
»Rachel!«, schrie Ivy, dann packte sie meinen Arm und zog mich zum Türrahmen der Eingangstür. Dort blieben wir stehen und beteten, dass der Rahmen halten würde, während die Decke riss und Putzstücke die Brandspuren verdeckten. Endlich hörte es auf, aber ich zitterte weiter. Meine Augen glitten in den leeren Flur. Sie waren verschwunden.
»Warum leben Leute hier?«, fragte ich und schaute über den Raum hinweg, als hätte er mich verraten. Dann zog ich die Waffe aus dem Rock und ließ sie auf ein Sofa fallen.
»Haben sie das getan? Das Erdbeben ausgelöst?«, fragte Ivy.
»Wahrscheinlich.« Ihre Augen waren immer noch schwarz, und ich rückte ein Stück von ihr ab, weil ich nicht wollte, dass meine Furcht sie über die Kante trieb. Ich hielt mir das Handy wieder ans Ohr, nur um festzustellen, dass die Verbindung abgebrochen war. Pierce war wahrscheinlich schon auf dem Rückweg, zu spät und sinnlos. Der Schaden, den das Beben im Zimmer angerichtet hatte, war nicht groß, und die herausgerissene Tür würde ein geschmierter Versicherungskerl einfach ignorieren. Aber ich hatte noch mein Foto.
»Und mich nennen sie schwarze Hexe«, sagte ich, als ich mein Handy zuklappte und mir vorsichtig den Weg durch die Zauber und den Pflasterstaub zum Fenster bahnte, um unten zu schauen, ob ich sie wegrennen sah. Und ich fragte mich, wie viele der kleineren Erdbeben an der Küste wohl auf den Hexenzirkel zurückgingen. Das war einfach scheußlich. Aber immerhin war ich noch am Leben.
Ivy war zur Minibar gegangen und öffnete mit einem lauten Zischen eine Dose mit viel Zucker und Kohlensäure darin. Wir beide waren am Leben.
»Danke, dass du mir geholfen hast«, sagte ich.
Ivy atmete tief durch, als sie die Dose absetzte. »Gern geschehen. Jederzeit.«
Ich lächelte, aber meine Gedanken wanderten zu den letzten Worten, die sie gesagt hatte, bevor der Hexenzirkel aufgetaucht war. Ivy und ich arbeiteten gut zusammen. Hatten wir schon immer.
Zu dumm, dass ich es völlig in den Sand gesetzt hatte.