17
»Ich hatte eigentlich vor, sie zu verabschieden«, sagte ich. Fast hätte ich meinen Beschwörungsspiegel abgelegt, aber im letzten Moment änderte ich meine Meinung. Ich würde nicht bleiben — wenn ich dabei ein Wörtchen mitzureden hatte.
Al zog seinen Stuhl näher ans Feuer und setzte sich auf den Rand, bevor er die Ärmel des Bademantels über die Ellbogen schob und vorsichtig einen Marshmallow auf die Spitze seiner Grillgabel piekte. Seine muskulösen Arme wirkten im Licht des Feuers fast gebräunt. Breitbeinig beugte er sich zum Feuer und unter dem Saum seines Bademantels lugten seine nackten Füße hervor. Sie sahen erstaunlich normal aus. Hinter mir bedeckten Bücher wie schweigende Zeugen die Wand.
»Du wolltest sicherstellen, dass sie gut ankommen«, sagte Al leise, scheinbar vollkommen auf den Marshmallow konzentriert. »Das sind sie. Unterwegs, um Unfug in elfischer Größe zu betreiben, was weltweit bedeutet und trotzdem ... vollkommen bedeutungslos ist. Du brauchst ein neues Hobby, Rachel. Etwas anderes als bösartige kleine Männer, die von der Weltherrschaft träumen.«
Der Marshmallow ging in Flammen auf und er zog ihn zu sich. Irgendwie wirkte es anzüglich, als er die Finger die lange Gabel entlanggleiten ließ, um den immer noch brennenden Zuckerball von der Gabel zu lösen. »Ich will mit dir über Magie und Schweiß reden«, sagte er, und das Flackern der brennenden Süßigkeit ließ seine Augen glitzern. »Von guten Taten, die aus dummen Ideen geboren werden. Von ehrlichen Fehlern, die in unehrliche Gräber führen.« Er suchte meinen Blick und spitzte die Lippen, um sanft die Flammen auszupusten.
Oh Gott. Er redet seltsam, dachte ich und sah mich nervös im dunklen Zimmer um. Dann entschied ich mich, hinter dem Stuhl stehen zu bleiben, und legte nur meinen Beschwörungsspiegel auf die lederbezogene Sitzfläche. Ich wollte die Hände frei haben.
Al stand auf, und ich erstarrte. Die Bewegung war elegant gewesen, mit einer machtvollen Stärke darin, die ich selten an ihm sah. Der Marshmallow war verschwunden, und er leckte sich die Finger ab, während er mich durchdringend musterte. Mein Puls beschleunigte sich, als er zum Feuer ging und sich einen zweiten Zuckerball nahm. Was zur Hölle hatte er vor?
»Dieser Prozess morgen«, sagte er. »Die Quoten stehen drei zu eins, dass Pierce dich betrügen wird.«
»Ich dachte, du behauptest, dass er mich umbringen wird«, sagte ich in dem Versuch, lässig zu wirken.
Ein Lächeln hob seine Mundwinkel. »Dafür stehen die Chancen bei elf Prozent. Aber die Buchhalter wissen nicht, dass er dich li-i-ie-eb-bt«, spottete er, als er seine Grillgabel wieder belud. »Bleib hier. Vergiss das alles und blieb hier bei mir. Lass mich dir das alles ersparen.«
Nachdem er jetzt fast drei Meter entfernt war, fühlte ich mich besser und rollte nur mit den Augen. »Erspar mir diesen Dreck, ja? Al, ich will zurück ins Hotel.« Scheiße, er ist ein Dämon. Warum vergesse ich das immer?
Al ging mit der Gabel in der Hand vor dem Feuer in die Hocke und irgendwie wirkte diese Haltung bedrohlich. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen, als er mich spöttisch ansah. »Die Dinge haben sich verändert.«
Ich unterdrückte einen Schauder und sah mich im Zimmer um, aber hier gab es nichts, was mir helfen würde. Verdammt, verdammt, verdammt! Warum habe ich ihm vertraut? »Bitte erzähl mir nicht, dass du mich anbaggerst«, sagte ich und konnte nur mit Mühe meinen Griff an der Stuhllehne lösen. »Das würde die nächsten fünfhundert Jahre wirklich unangenehm machen. Außerdem habe ich den letzten Kerl, der etwas in der Art zu mir gesagt hat, während er nur einen Bademantel trug, mit einem Stuhlbein bewusstlos geschlagen.«
Al blinzelte überrascht. Dann sah er an sich herunter, als wäre ihm erst jetzt aufgegangen, welchen Eindruck er erweckte. Aber dann lächelte er. Und es war ein grausames Lächeln.
Er stand auf, und ich wich mit klopfendem Herzen einen Schritt zurück.
»Dieser Dämon, den dein Vertrauter freigelassen hat? Ku'Sox?« Er wirkte bereit zum Angriff, und mir trat Schweiß auf die Stirn. »Er gleicht nichts, was du bis jetzt erlebt hast. Er will mit dir spielen. Dich langsam auseinandernehmen, während du noch schreist. Das Kollektiv würde mich nackt in die Kraftlinien werfen, wenn ich dich jetzt einfach rumlaufen lasse. Pierce ist nicht genug. Du bleibst hier.«
»Den Teufel tue ich! Machst du das, weil ich versuche, meine Bannung dauerhaft zurücknehmen zu lassen?« Wütend ging ich um den Stuhl herum, damit ich ihm direkt ins Gesicht starren konnte. »Ich könnte unsere Wette auch gewinnen, also wirst du mich hierbehalten, damit du automatisch gewinnst?«
»Bist du bereit, dein Leben darauf zu verwetten?«, knurrte Al fast, während er mit hochgezogenen Schultern ins Feuer starrte. »Ich nicht. Im Guten wie im Schlechten, meine Lebensgrundlage ist daran geknüpft, dass du weiterhin existierst«, erklärte er und wieder fing sein Marshmallow Feuer. »Nenn mich selbstsüchtig, aber du bleibst hier.«
»Du magst ja Angst vor diesem Ding haben, das ihr gemeinsam geschaffen habt, aber ich nicht«, blaffte ich. »Seine verletzlichsten Teile liegen genau da, wo deine auch sind. Ku'Sox ist ein Dämon, und ich gewöhne mich langsam dran, euch zu schlagen. Ich habe ihn schon mal besiegt. Ich kann es wieder!«
Al wandte sich vom Feuer ab und der Blick aus seinen Ziegenaugen traf mich mit unerwarteter Intensität. Ich fühlte, wie ich bleich wurde. Er wirkte gefährlich und aggressiv, wie er da mit glühenden Augen vor dem Feuer kauerte. Ein tiefes Geräusch erklang, und ich hob den Fuß.
Das war mein Untergang.
Al sprang auf mich zu, und die Grillgabel fiel vergessen vor dem Kamin zu Boden. Voller Panik wollte ich weglaufen, aber ich konnte nirgendwo hin. Es war reiner Instinkt.
Ich unterdrückte meinen entsetzten Aufschrei, als seine Finger sich in meine Schulter gruben. Die Welt drehte sich, als er mich herumwirbelte. »Al!«, presste ich hervor, dann fühlte ich, wie ich hochgehoben und gegen ein Bücherregal gepresst wurde.
Harte Kanten gruben sich in meine Schultern, und ich konnte nicht mehr atmen, als ich gegen die Folianten knallte und kleine Energiefunken in meinen Körper schossen. Ich keuchte und starrte Al an, der nur Zentimeter von mir entfernt war. Seine dicken Hände lagen unter meinem Kinn. Ich hatte nicht mal gesehen, dass er sich bewegt hatte.
»Du denkst, du kannst Ku'Sox zurückschlagen? Dann lass uns üben.«
»Weg von mir!«, fauchte ich. Meine Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht.
Er fletschte die Zähne, und ich zuckte zusammen, als er eine Hand von meinem Hals löste und stattdessen meinen Oberschenkel packte. »Das wird lustig.«
»Hey!«, brüllte ich und versuchte, ihn von mir wegzuschieben. Dann kreischte ich auf, als er mich fester gegen das Bücherregal drückte und sich gegen mich lehnte. »Geh zur Hölle nochmal runter von mir!«
»Ich glaube, du verkennst deine Stärke, Krätzihexi«, sagte Al mit eisenharter Stimme. »Und ich werde es dir beweisen.«
»Wie? Indem du mich plattdrückst?«, keuchte ich. Dann riss ich die Augen auf, als Al seinen Mund wild und verlangend auf meinen presste. Der Gestank von Dämonen überschwemmte mich. Eine dünne Spur der Kraftlinie floss von ihm in mich, tauchte in meinen Unterleib ab und entfachte dort ein Feuer. Es mochte Ekstase sein, aber ich war zu wütend. Sein Körper lag schwer an meinem, und sein Knie drängte sich zwischen meine Beine.
Heilige Scheiße, dachte ich. Meine Arme waren hinter meinem Körper gefangen. Ich konnte nicht atmen. Konnte mich nicht bewegen. Ich dachte, Al wollte mir beweisen, dass ich mich nicht selbst schützen konnte. Aber ich hatte keine Angst — ich war stinksauer!
Wütend bemühte ich mich, mein Bein zwischen uns nach oben zu reißen. Als er es fühlte, ließ Al mich lange genug los, um mit schwerer Faust auf mein Knie zu schlagen. Ich keuchte, als Schmerzen mich durchfuhren und mein Knie taub wurde. Aber jetzt war meine Hand frei, und ich schlug nach seinen Augen.
Meine Finger fanden ihr Ziel. Al reagierte kaum darauf, sondern packte nur mein Handgelenk und riss mir fast den Arm aus dem Gelenk, als er ihn wieder gegen das Bücherregal schlug.
»Das reicht nicht ansatzweise, Täubchen«, sagte er und lächelte, als er sich wieder zu mir beugte. Ich biss die Zähne zusammen und schmeckte sein Blut, als er seinen Mund wieder auf meinen zwang.
»Du Hurensohn!«, schrie ich erstickt und griff nach einer Kraftlinie.
Al fühlte es, und ich konnte einmal tief durchatmen, als er sich lange genug von mir löste, um zu lachen.
»Jetzt haben wir's«, sagte er keuchend, und sein Gesicht leuchtete. »Ich glaube, jetzt bist du wütend genug. Gib mir, was du hast. Ich werde es so sanft in dich zurückgleiten lassen, dass du vor Vergnügen schreist und nach mehr bettelst.«
Und erst da bekam ich Angst. Die Kraftlinie, die durch mich floss, fühlte sich gut an. Wirklich gut. Ich wusste, was eine Hexe mit einer anderen machen konnte, und Schmerzen und Ekstase lagen eng nebeneinander. Vielleicht hatte das als Lehrstunde begonnen, aber Al konnte Misshandlungen einstecken und mich dafür kriechen lassen. Ich war ja jetzt schon auf halbem Weg zum Orgasmus. Und das war nicht, was ich wollte.
Al sah die Erkenntnis in meinen Augen und lächelte. Er verlagerte anzüglich sein Gewicht und schloss vor Vorfreude halb die Augen. »Du glaubst, du kannst mit mir umgehen, Algaliarept?«, knurrte ich, und er riss die Augen auf, als ich seinen wahren Namen benutzte. Aber der Griff um meine Handgelenke war immer noch schmerzhaft fest.
»Gott, Rachel, du bist so aufreizend«, sagte er und lehnte sich vor. Sein Mund war fordernd und rau. Er ließ meine Handgelenke los und packte meinen Hinterkopf, um mich gegen sich zu drücken. Die Linie, die er hielt, sang durch meinen Körper und entzündete meine Synapsen in einem blitzenden Wasserfall, der von meinen Lippen direkt in meinen Unterleib fiel. Ich genoss es, während ich gleichzeitig verabscheute, was er tat.
Ich war fertig mit Männern, die mir unschickliche Avancen machten.
Ich drückte mich von den Büchern ab, und wir bewegten uns vorwärts. Unser Kuss brach nicht ab, als er gegen die Lehne des großen Sessels stieß und anhielt. Ich hätte das niemals tun können, wenn er mich nicht gelassen hätte, aber nachdem ich ihm nicht die Augen auskratzte und das, was er mir mit tat, sich wirklich fantastisch anfühlte, dachte er wahrscheinlich, ich wäre ihm verfallen.
Er hielt immer noch meinen Kopf, seine Zunge bahnte sich ihren Weg und brachte meinen Puls zum Rasen. Mir entkam ein kleines, verlangendes Geräusch, und Al ließ mein Gesicht los und hob mich hoch, so dass ich meine Beine um seinen Körper legen und ihn an mir spüren konnte. Ich vergrub die Hände in seinem Haar, während ich ihn in mich einsaugte und durch ihn die Linie nahm. Ich lernte, welche Wege die Energie durch seinen Körper bis zu mir nahm. Gott, diese langsame Erkundung fühlte sich so fantastisch an, und ich zitterte. Ich wusste, dass es ihm genauso ging, und das machte mich nur wütender.
Al löste sich von mir, und wir beide keuchten. »Krätzihexi«, sagte er und musterte mich von oben bis unten, während er mich hielt. »Mein Gott. Du bist ... Verdammt. Du hast keine Ahnung, wie lange es her ist.«
Ich lächelte, die Arme um seinen Hals gelegt, während meine Finger mit den Haaren in seinem Nacken spielten. »Das glaube ich nicht, Algaliarept«, murmelte ich, als ich mich vorlehnte und meinen Mundwinkel gegen seinen drückte. »Ich bin nicht aufreizend. Ich musste nur wissen, wie ich dir ... wehtun kann.«
Er holte tief Luft, aber es war zu spät. Ich umklammerte ihn fester mit den Beinen und drückte sein Gesicht gegen meines. Meine Gedanken tauchten in seine ein und fanden den Pfad zwischen seinen Synapsen, den er vor Äonen gebahnt hatte, um problemlos eine Kraftlinie in sich ziehen zu können. Ich durchstieß die dünne Wand seiner Überraschung, packte die Kraftlinie ... und zog.
»Nein!«, kreischte er, als ihm sein Fehler bewusst wurde.
Ich drückte den Rücken durch, als die Macht in mich floss, gleichzeitig schmerzhaft und köstlich. Ich konnte Als Schreie hören, aber es war, als schwämme ich in der Herrlichkeit selbst. Ich zog ihn näher an mich, weil ich mehr wollte, führte die Energie durch mich zurück in die helle, saubere Kraftlinie, die den Schmutz in mir mit dem Licht der Götter erhellte.
Ein leises Plopp verging fast unbemerkt, als meine Seele hell erklang, eingestimmt auf die Kraftlinie, in der ich Al ertränkte, aber der Selbsterhaltungstrieb zwang mich, meine Augen zu öffnen. Alles war in silberweißes Licht getaucht. Na ja, alles bis auf den flachen Fuß in einem purpurnen Schuh, der auf mich zukam.
Ich versuchte, mich von Al zu lösen, und der Fuß traf mich und schleuderte mich durch den Raum, als wäre ich eine Puppe. Ich knallte gegen ein Bücherregal, meine Hand fuhr zu meiner Brust und ich konnte nicht atmen.
Scheiße, ich glaube, meine Rippen sind gebrochen, dachte ich, als ich seitlich zu Boden rutschte und meine Wange auf dem Teppich aufschlug.
»Du hast mich angelogen!«, schrie Newt und ich versuchte, aufzuschreien, als sie mich hochriss und wieder gegen das Regal knallte. »Ich habe meine Schwestern für dich getötet!«
Mein Mund bewegte sich, aber es kam nichts heraus. Mein Kopf fiel zur Seite, und ich sah nur verschwommen. Die Linie, mit der ich verbunden gewesen war, war verschwunden, und mir stieg Galle in die Kehle.
Und dann schrie ich auf, als die Linie, die ich durch Al gezogen hatte, plötzlich durch meinen Körper schoss.
Tulpa!, dachte ich in dem Versuch, sie zu speichern, und schlug hilflos auf Newt ein.
»Newt! Stopp! Es ist Rachel!«, hörte ich Al heiser krächzen, und dann hörte ich, wie Haut auf Haut schlug. Die Welt drehte sich, und ich fiel wieder auf den Teppich.
Ich blieb zusammengesackt liegen, und meine Finger spielten mit den weichen Knoten des Stoffes unter mir. Ich atmete langsam, und es fühlte sich gut an. Es war wunderbar, nicht in Flammen zu stehen. Mein Kopf hämmerte. Ich drückte den Großteil der gespeicherten Energie aus mir heraus und sackte erleichtert zusammen.
»Newt, das ist nicht Ku'Sox!«, schrie Al wieder. Ich hörte einen Schlag, dann roch es nach Ozon und brennenden Büchern.
»Ich habe meine Schwestern für ihn getötet!«, tobte Newt. »Geh mir aus dem Weg, Gally!«
Als Hand berührte sanft meine Schulter. Ich zuckte zusammen und schaffte es, mich aufzusetzen. Al stand in seinem Bademantel neben mir, und der Saum zitterte. Newt stand in ihrem purpurfarbenen Karateanzug vor uns, und ihr seltsamer hoher Hut wurde vom Feuer angestrahlt. Sie hatte wieder Haare, und die glatten schwarzen Strähnen waren zu einem Pagenkopf geschnitten. Es war schwer zu sagen, wo sie hinsah, weil ihre Augen vollkommen schwarz waren, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ihr hasserfüllter Blick auf mich gerichtet war.
»Das ist nicht Ku'Sox«, sagte Al mit zitternder Stimme und ich fragte mich, warum er sie aufgehalten hatte. »Es ist Rachel. Sie riecht nach Ku'Sox, weil sie gegen ihn gekämpft hat. Es ist nicht Ku'Sox!«
Newt sah mich an, dann drehte sie den Kopf zu Al. »Sie hat ihn überlebt? Bist du dir sicher? Vielleicht trägt Ku'Sox ihre Haut. Das tut er manchmal.«
Al atmete tief durch und nahm die Hand von meiner Schulter. Ich blieb gebeugt auf dem Boden sitzen, und die Haare hingen mir ins Gesicht. Ich hatte versucht, Al zu verletzen, um ihn dazu zu bringen, mich in Ruhe zu lassen, und hatte das Gefühl, dass ich zu weit gegangen war. Ich hatte eine Linie durch ihn gezogen wie durch einen Vertrauten und fast seine kleine Kätzchenseele frittiert.
»Sie ist es«, sagte Al reumütig. Ich schaute hoch und sah, wie er die Stühle vors Feuer rückte, um sich dann auf den am weitesten von mir entfernt stehenden fallen zu lassen.
Newts Gesichtsausdruck spiegelte wieder die vertraute Verwirrung. »Habe ich wieder etwas vergessen?«, fragte sie misstrauisch. »Es schien, als würde sie dich töten. Oder habt ihr zwei ...?« Sie zögerte, dann schlug sie eine Hand vor den Mund und lachte. »Gally! Du Schwerenöter! Du hast versucht, sie zu verführen?«
»Sie lebt seit fast einem Jahr in meiner Küche«, erklärte er mürrisch. »Man muss einem Mann vergeben, dass er mal die Fühler ausstreckt. Sie hat nicht geschrien. Und ich heiße jetzt Al. Erinnerst du dich?«
»Die Fühler ausstrecken!«, wiederholte ich genervt. »Ich lag schon fast auf dem Boden.« Ich wäre ja wütend geworden, wenn ich nicht genauso viel zurückgegeben hätte. Gott! Männer waren Schweine.
Al runzelte die Stirn und musste sich aufrichten, um über die Couch zwischen uns hinwegschauen zu können. »Du hast ausgesehen, als würde es dir Spaß machen. Bei mir war es auf jeden Fall so.«
»Und deswegen hast du auch gekreischt wie ein kleines Mädchen, richtig?«, blaffte ich, dann beugte ich mich vor und hielt mir die Rippen. Au. Ja, es hatte mir gefallen. Aber nicht mit ihm. Niemals.
»Ist das eine Pyjamaparty, Gally?«, fragte Newt, und eine schwarze Schicht Jenseits überzog sie. Mein Chi schmerzte, während Newt zusammenschrumpfte. Als das Jenseits verschwand, sah sie aus wie ein Kind im hellroten Pyjama. Ihre Haare waren verschwunden, ihre Augen lagen tief in den Höhlen, und sie wirkte krank. Entsetzt ging mir auf, dass sie eines der Kinder aus dem Krankenhaus war — das Mädchen, das mir vergeben hatte, dass ich schwarze Magie wirkte. Sie war mit einem meiner Stofftiere im Arm gestorben. Und Newt nahm ihre Gestalt an, als bedeute ihr das gar nichts.
»Das ist nicht nett«, sagte ich. Newt lächelte wie ein wunderschöner kahler Engel, der die Weisheit der Welt in sich trug, und verletzte mich damit umso mehr.
Newt lachte wieder, diesmal mit hoher, kindlicher Unschuld, die mir einen Schauer über den Rücken jagte und mich vergessen ließ, warum ich wütend war. Sie kam mit ausgestreckten Händen auf mich zu, um mir aufzuhelfen, und ich kämpfte mich auf die Beine, weil ich ihre Berührung nicht ertragen hätte.
»Ich habe versucht, dich genug zu provozieren, dass du dich richtig verteidigst«, sagte Al laut. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und wirkte gleichzeitig besorgt und verlegen. »Ich mache mir Sorgen wegen Ku'Sox. Newt, nachdem du hier bist, was meinst du? Ist sie halbwegs sicher?«
»Nachdem sie dabei war, dich zu töten, würde ich sagen, dass sie eine Chance hat«, sagte Newt mit ihrer Kinderstimme, und ich unterdrückte den nächsten Schauder.
»Das ist toll«, knurrte ich und humpelte von Newt weg auf das Feuer zu. Gott, mein Leben stank wirklich zum Himmel. »Also kann ich jetzt zurückgehen, richtig?«, fragte ich mürrisch, als ich meinen Beschwörungsspiegel hochhob und mich setzte. Dreck, mir tat alles weh. Wahrscheinlich würde ich mir die Rippen verbinden lassen müssen. Ich würde bei dem Prozess morgen sicher ein tolles Bild abgeben.
»Oooh! Marshmallows?« Entzückt hüpfte Newt zu der vollen Schale neben dem Kamin. Irgendwie passte das Aussehen eines sterbenden Kindes zu ihr.
»Al?«, fragte ich nochmal, eine Hand an den Rippen. Ich hatte das Gefühl, dass er mir auch das Knie angebrochen hatte.
Al saß so tief in seinem Stuhl, dass sein Hintern fast schon die Sitzfläche verließ. Sein Bademantel hatte sich geöffnet, und ich konnte mir einen Blick einfach nicht verkneifen. Junge ... Er war ausgestattet wie ein Hengst und seine rötliche Haut war dort unten fast schwarz. Auf keinen Fall würde ich sein Gerät irgendwo in meine Nähe lassen.
»Schön«, grummelte er, ohne zu merken, wie entblößt er war. »Wenn Newt sagt, dass du halbwegs in Sicherheit bist, kannst du gehen. In vierundzwanzig Stunden bist du sowieso wieder da.«
Ja! Es fühlte sich an wie ein Sieg. Ich würde lange duschen müssen, um den Gestank nach verbranntem Bernstein loszuwerden, aber wahrscheinlich würden sie mir zusätzliches Duschgel bringen, wenn ich an der Rezeption anrief.
Newt drehte sich mit einem leicht gebräunten Marshmallow auf der Gabel zu mir um. »Bring ein Lineal mit, wenn du zurückkommst«, sagte sie mit kindlicher Stimme. »Das Jenseits schrumpft. Aber ich kann es ohne ein Maßband aus der Realität nicht beweisen. Alle, die wir hier haben, schrumpfen auch.«
Ich drückte meinen Beschwörungsspiegel an die Brust und beobachtete, wie Al sich wand. »Schrumpft?«, fragte ich.
»Langsam«, sagte sie und spreizte den kleinen Finger ab, als sie vorsichtig den Marshmallow drückte, um zu testen, ob er schon fertig war. »Aber es wird sich exponentiell beschleunigen, je weniger wir zu verlieren haben. Die Gezeiten zwischen der Realität und dem Jenseits haben sich verändert. Es kommt nicht alles zurück. Irgendwo gibt es ein Loch.«
Sie sah mich mit ihren schwarzen Augen an, und ich zitterte.
Al setzte sich wieder auf und schloss den Bademantel. Gott sei Dank. »Die Kraftlinien sind seit Äonen im Gleichgewicht. Nichts hat sich geändert«, sagte er, aber seine Stimme war zu sicher, zu selbstbewusst.
Mit dem wunderbaren Lächeln eines toten Kindes setzte sich Newt ungeschickt im Schneidersitz vor das Feuer. »Du warst in letzter Zeit nicht an der Oberfläche.« Sie wandte sich wieder ab und hielt die Gabel zurück in die Flammen, weil sie mit dem Zuckerball noch nicht zufrieden war.
»Ich versuche, es zu vermeiden«, grollte Al.
»Die Gebäude«, fuhr Newt vor, als hätte er nichts gesagt, »fallen mit erstaunlicher Geschwindigkeit.«
Ich erinnerte mich an die Häuser im Jenseits von Vegas und holte Luft, aber Al warf mir einen warnenden Blick zu. Besorgt hielt ich den Mund und spielte mit meinem Beschwörungsspiegel herum. »Gebäude brechen immer ein«, sagte Al, und seine Augen huschten zu seinen Büchern.
»Ja, Gally«, flötete sie. »Aber jetzt stehen sie auch noch in Flammen.«
Dreck, war ich das gewesen? Ich hatte eine Kraftlinie geschaffen. Vielleicht hatte ich es nicht richtig gemacht. »Ähm, Al?«, fragte ich verängstigt.
Wieder verzog Al das Gesicht und sagte mir damit, dass ich die Klappe halten sollte. »Wahrscheinlich war es dein Flegel Ku'Sox«, sagte er, und ich drückte mir den Spiegel an die Brust, bis ich seine Kälte spüren konnte. Al log. Er log Newt an. Es war nicht Ku'Sox gewesen, sondern ich, und Al wusste das. Scheiße. Was habe ich getan?
»Ku'Sox ist nicht mein Flegel«, sagte Newt, während sie ihren Marshmallow von der Gabel zog. »Ich habe dagegen gestimmt, ihm die Fähigkeit zu geben, so viel Energie zu halten. Ihr habt mich alle zusammen überstimmt. Erinnerst du dich?«
Heiliger Dreck, Al log Newt direkt an, und das jagte mir eine Angst ein, die Al auf Freiersfüßen nicht in mir hervorgerufen hatte.
»Nimm einen Marshmallow, Rachel«, sagte Newt und lehnte sich über den Couchtisch, um ihn mir zu geben. »Betrachte es als Belohnung dafür, dass du Al fast getötet hast.«
Wie betäubt nahm ich den perfekt gebräunten Zuckerball entgegen. Okay. Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Al provoziert mich, damit ich mich verteidige. Ich bringe ihn fast um. Dann versucht Newt, mich umzubringen, weil sie mich für Ku'Sox hält. Al hält sie auf und rettet mir damit das Leben. Und jetzt essen wir alle zusammen Marshmallows? Was zur Hölle stimmt nicht mit diesen Leuten?
»Danke«, sagte ich leise und schob mir den weichen Brei in den Mund. Der scheußliche Geschmack von verbranntem Bernstein überzog meine Zunge, ich würgte und spuckte den Marshmallow zurück in meine Hand. »Oh mein Gott! Was ist mit diesen Marshmallows los?«
Mit vor Scham geröteten Ohren gab Al mir eine Serviette, die vor Sekunden noch nicht existiert hatte. Ich wickelte den Marshmallow darin ein und legte das Paket auf den Tisch zwischen uns. »Die echten sind zu teuer«, erklärte Al mit einem Seufzen. »Deswegen verbrenne ich sie fast.«
»Und wenn es jetzt ein Loch im Gewebe der Zeit gibt, wie finden wir es und stopfen es?«, fragte ich und überlegte gleichzeitig, woraus die Zuckerkugeln wohl bestanden, wenn sie nicht echt waren. Der Kaffee hier schmeckte auch nicht. Brimstone?
»Kannst du nicht.« Newt fischte einen Marshmallow aus der Schüssel und spießte ihn umständlich auf, bevor sie mir die Gabel gab. »Du bist dran.«
Das Metall lag warm in meiner Hand. »Man kann das Loch nicht finden oder man kann es nicht stopfen?«, fragte ich, weil ich das für eine wichtige Unterscheidung hielt.
Newt antwortete nicht. Sie kniete vor dem Kamin und zog ihre Hände durchs Feuer als wäre es ein Katzenfell. Als Hausschuh bewegte sich ein winziges Stück, und ich bemerkte, dass er ziemlich nervös war. Newt warf ihm bei dem leisen Geräusch einen verschlagenen Blick zu und lächelte. Mein Magen schmerzte, als ein Nebel aus Jenseits sich um sie legte und sie wieder die Gestalt annahm, in der sie in Als Bibliothek gesprungen war, um mich zu treten. »Du bist süß«, sagte sie, als sie sich mir zuwandte. Ich zitterte. »Willst du deinen Marshmallow nicht?«
»Ich will nur zurück«, sagte ich, dann versteifte ich mich, als sie mit scheinbar knochenloser Eleganz aufstand und sich so auf die Couch setzte, dass ihre Knie fast meine berührten.
»Und du wirst zurückgehen«, sagte sie und legte eine Hand auf meine Haare.
»Wenn das Jenseits schrumpft, sollte sie vielleicht hierbleiben«, sagte Al, und ich versteifte mich. Newt sah meine Wut und zog die Hand zurück.
»Ich habe bewiesen, dass ich gegen Ku'Sox bestehen kann«, sagte ich. »Außerdem ist Pierce dort, falls ich etwas wirklich Dummes anstelle. Du schuldest mir diese Chance. Wenn ich die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht überleben kann, werde ich hier auch nicht überleben.«
Newt zog fragend die dünnen Augenbrauen hoch. Dann sah sie meinen Beschwörungsspiegel und nahm ihn mir weg. »So ein hübsches kleines Dreieck«, sagte sie, als sie ihr trübes Spiegelbild betrachtete, dann veränderte sie ihr Aussehen, bis sie mir glich. »Al will Pierce umbringen«, sagte sie und schob sich eine jetzt lockige rote Strähne hinters Ohr. »Aber er kann Rachel nicht allein und verletzlich in der Sonne lassen. Und Pierce«, sie gab mir meinen Spiegel zurück, »na ja, er wird dich zerstören, ob er es will oder nicht. Intrigen, Intrigen. Die Begehrlichkeiten so vieler Männer kreisen um dich.«
Es war extrem beunruhigend, mich in Newts Kleidung zu sehen. Ich hatte das Gefühl, dass es einer ihrer schlechteren Tage war. »Pierce will mich nicht töten«, sagte ich und dachte erst zurück an unsere Nacht unter der Erde, dann an seine schlechte Laune, als ich Al gerettet hatte. Vielleicht würde er mir vergeben, wenn ich ihm erzählte, dass ich Al auch fast getötet hatte. »Er war ein bisschen verstimmt, das ist alles. Er wird drüber wegkommen.«
Sie nickte und saß mir immer noch als mein Ebenbild gegenüber. »Sie kommen alle darüber hinweg, oder? Und dann wird er deine Hoffnungen zerstören und deine Seele töten. Er wird nicht mal wissen, was er tut, bis es zu spät ist. Ich kann die Zukunft vorhersagen, weil meine Tage immer gleich sind.« Ich versteifte mich, als sie wieder meine Haare berührte. Sie legte nachdenklich den Kopf schräg und betrachtete die Strähnen zwischen ihren Fingern, die genau aussahen wie meine, bis hin zu dem Ring am kleinen Finger und dem angeschlagenen roten Nagellack. »Unter uns, du wärst besser dran, wenn sie beide tot wären.«
Al räusperte sich. Newts Blick glitt zu ihm, und sie gab ein kleines Geräusch von sich. »Al, du bist ein Narr«, sagte sie, als wieder Jenseits über ihre Haut glitt und sie ihre eigentliche androgyne Form annahm. »Du hättest mehr als zwei Flüche in der Tasche, wenn du nicht sowohl deinen Vertrauten als auch deine Studentin in der Sonne herumlaufen lassen würdest, wo sie sich gegen dich verschwören können.«
»Dann soll sie also bleiben, ja?«, fragte er. Sie warf den Kopf zurück und lachte.
»Nein. Rachel geht zurück«, erklärte sie, und ich sackte vor Erleichterung ein wenig in mich zusammen. »Morgen muss mehr als eine Schuld beglichen werden, und sie haben mich mal wieder zum Schiedsrichter ernannt. Sie lassen mich überhaupt nicht mehr wetten. Nicht mehr, seitdem ich Minias gewonnen habe. Wo ist er überhaupt? Oh, stimmt.« Sie beäugte mich abschätzend. »Ich habe ihn umgebracht.«
Super. Jetzt war Newt neben allem anderen auch noch ein Dämonen-Buchmacher. »Wie stehen die Quoten dafür, dass ich meine Bannung rückgängig machen kann?«, fragte ich. Ich musste es einfach wissen.
Newt lächelte. »Du wirst wegen Pierce verlieren. Hast du mir nicht zugehört? Oder vergisst du auch manchmal Dinge?«
Ich konnte nicht antworten, weil ich kaum atmen konnte. Habe ich eine Chance oder nicht?
»Das ist mein Mädchen«, sagte sie, und in ihren Augen lag Mitgefühl, als sie meine Verwirrung sah. »Al, wo wirst du sie unterbringen? Nicht in deinem Zimmer. Sie würde eine Linie durch dich ziehen und dich umbringen, noch bevor du die Decke angehoben hast. Ich nehme den Streuner auf. Und ich verspreche, dass ich sie anständig aufziehe.«
Newt klopfte auf den Platz neben sich, und mein Gesicht wurde kalt. Oh Gott. Alles ist besser als das.
Al stand auf und band seinen Gürtel fester. »Ich habe alles unter Kontrolle.«
Newt wedelte herablassend mit der Hand. »Und deswegen hat sie auch eine Linie durch dich gezogen, ja?«, fragte sie, dann verschwand sie. Das Polster hob sich langsam, und das Feuer flackerte, als Luft durch den Kamin gezogen wurde, um die Lücke zu füllen, die ihr Körper hinterlassen hatte.
Ich zwang meine Zähne auseinander und packte meinen Beschwörungsspiegel fester. »Jetzt, Al?«, fragte ich, und Al ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen.
»Al?«, fragte ich nochmal, lauter, und er warf mir einen Blick zu, während seine Finger nach seiner Brimstone-Dose tasteten. Er öffnete sie, sog eine Prise in jedes Nasenloch, legte den Kopf zurück und seufzte tief. Super, jetzt würde ich bei dem Treffen morgen auch noch die Drogenhunde am Hals haben.
»Du musst wirklich alles am eigenen Leib erfahren«, sagte er, die Augen immer noch geschlossen.
»Du hast gesagt, du schickst mich zurück«, warnte ich ihn, und er sah mich an, mit Augen, die ein wenig röter waren als sonst.
»Tue ich ja, tue ich ja«, sagte er, aber er saß einfach nur da und kniff sich in die Nasenwurzel. Das tat er nur, wenn ich wirklich Mist gebaut hatte. Wie das eine Mal, als ich Fingerhut statt Pfefferminze verwendet hatte und die Tinte, an der ich gearbeitet hatte, versteinert war. »Ich weiß nicht, ob ich hoffen sollte, dass du gewinnst oder verlierst.«
»Pah«, sagte ich. »Ich dachte, du willst, dass ich verliere.«
»Das tue ich«, erklärte er. »Aber wenn du in der Realität bist, dauert es länger, bis jemand herausfindet, dass du das Loch in das Zeitgefüge gerissen hast. Gut gemacht, Rachel.«
Meine Brust wurde eng vor Sorge, und ich legte den Spiegel auf meine Knie. »Warum gehst du davon aus, dass ich es war? Vielleicht war es wirklich Ku'Sox. Er hat den Arch zum Einsturz gebracht. Ich habe nichts getan, was du nicht auch getan hast, als du eine Kraftlinie geschaffen hast.«
Aber Al schüttelte den Kopf. Er seufzte schwer und nahm die Hand von der Nase. »Ich habe eine Kraftlinie geschaffen, als ich vom Jenseits in die Realität gesprungen bin. Du hast deine bei einem Sprung von der Realität in die Realität geschaffen. Sie leckt.«
Ich leckte mir die Lippen. »Ich nehme an, das Kollektiv wird ziemlich sauer sein, hm?«
Sein bellendes Lachen erschreckte mich, und ich versuchte, nicht zusammenzuzucken. »Ja, das Kollektiv wird ziemlich sauer sein. Ich hoffe nur, dass ich rausfinden kann, wie man das repariert, bevor sie Newt zuhören und feststellen, dass sie Recht hat.«
»Ääähm ...«, stammelte ich und Al sah mich böse an.
»Äääähm ...«, äffte er mich spöttisch nach, dann griff er unter seinen Stuhl nach einem Bündel, das vor einer Minute noch nicht da gewesen war. »Hier. Das wirst du für deine Hinrichtung morgen brauchen.«
Ich fing das Stoffpaket auf und kämpfte damit, gleichzeitig nicht meinen Spiegel fallen zu lassen. »Was ist es?«, fragte ich, und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es zu schwer war, um der Kopf von irgendwem zu sein.
Seine roten Augen fixierten mich, die ich verängstigt, durchgefroren und durcheinander vor ihm saß. »Du bist völlig fertig. Zieh es an. Ich hole dich morgen nicht in Fetzen ab.«
»Hey! Ich habe eine Chance! Das ist angeblich nur eine Formalität!«
Er grinste mich mit seinen breiten Zähnen an. »Du hast nicht mal die Chance eines Regenbogens in der Hölle, deine Bannung rückgängig zu machen«, sagte er und spielte an einem Marshmallow herum, bevor er ihn wieder in die Schüssel fallen ließ. »Du bist gerade erst quer über den Kontinent getobt und hast eine Spur aus schwarzer Magie hinter dir hergezogen, während du Dämonen befreit und Nationaldenkmäler zerstört hast. Du hast ein Mitglied des Hexenzirkels bewusstlos geschlagen. Sie entführt. Dich von ihr dabei beobachten lassen, wie du Dämonenmagie verwendest, um den freigesetzten Dämon zu bekämpfen. Und das zweimal. Zur Hölle, Mädchen, du hast das Margaritaville abgefackelt!« Sein Grinsen wurde breiter. »Du bist so am Arsch«, sagte er mit überspitztem englischen Akzent.
»Halt die Klappe!«, schrie ich und drückte das Paket und den Spiegel an meine Brust. Eine Wolke aus verbranntem Bernstein stieg auf, und ich verzog das Gesicht. Was auch immer er mir gegeben hatte, ich würde es reinigen lassen müssen.
»In Ordnung, in Ordnung«, sagte Al, setzte sich auf und rieb sich die Hände. »Du kannst nach Hause. Oder vielmehr in dein jämmerliches Hotelzimmer. Was auch immer«, setzte er hinterher, als ich protestierend grunzte. »Ich werde heute einen anstrengenden Tag haben, und du würdest ihn nur durcheinanderbringen, wenn du hier rumsitzt und jammerst. Ich muss Reservierungen im Dalliance machen. Es ist ein wenig kurzfristig, aber wenn ich deinen Namen fallenlasse, wird sich schon was ergeben. Und dann muss ich noch Zimmer für dich arrangieren.« Er sah zu mir auf. »Bist du dir sicher, dass wir nicht zusammen wohnen sollen? Du kannst auch das weiche Kissen haben.«
Ich schloss die Augen und versuchte, ruhig zu bleiben. »Fang gar nicht erst an.« Ich habe doch eine Chance, oder?
»Los, los, los«, sagte Al schnell. »Und entschuldige, dass ich so grob war. Ich hätte nicht gedacht, dass du das Zeug dazu hast.«
Ich öffnete die Augen und sah, wie er eine kleine Kraftliniengeste vollführte, bevor die Linie mich verschluckte. Warm und salzig glitt sie in mich und löste mich auf, bis ich nichts war als eine Erinnerung. Ich versuchte, eine Aura-Farbe zu fühlen oder auf die Linie zu lauschen, wie Bis es angeblich konnte, aber nichts drang durch meine Schutzblase. Al übernahm sogar den Schmutz für den Sprung, was ich seltsam fand. Desorientiert fing ich mich, als der Fluch meinen Geist berührte und ich mich aus meiner Erinnerung wieder aufbaute. Meine Jeans stanken immer noch nach Jenseits, aber meine schmerzenden Muskeln, der angeschlagene Rücken und mein wehes Knie fühlten sich wunderbar an. Die kleine Geste, die Al vollführt hatte, musste ein Heilungsfluch gewesen sein, weil der Sprung durch die Linien diesen Effekt nicht hatte. Ich hatte es versucht.
Die Wände von Trents Penthouse-Suite bildeten sich um mich herum, begleitet von leiser Musik. Anscheinend hatte Pierce den MP3-Player enträtselt. Meine staubigen Stiefel sanken im Teppich ein, und ich zitterte, als ich plötzlich wieder einen Körper hatte und die kühle Klimaanlagenluft mich traf.
Pierce stand an den Fenstern und betrachtete das Licht des unsichtbaren Sonnenaufgangs dabei, wie es die Bucht erleuchtete. Er wirkte besorgt und offensichtlich wusste er nicht, dass ich zurück war. Der Nebel hatte sich vollständig gelichtet, und Alcatraz war deutlich sichtbar. Ich atmete durch, und er drehte sich um.
»Du bist zurück.« Von seiner Stimme konnte ich nicht auf seine Laune schließen, aber sein Gesicht ... Es war alles deutlich zu sehen. In seinen blauen Augen lagen tiefe Sorge, Nervosität und Erleichterung. Er kam nicht auf mich zu, und ich wusste nicht mehr, wo wir miteinander standen. Offensichtlich war er froh, dass ich zurück war, aber nicht genug, um mich zu berühren. Er hatte nicht genügend Vertrauen in die Zukunft, um den Raum zu durchqueren und mir zu sagen, dass alles in Ordnung kommen würde, dass ich Mitternacht kommen und gehen sehen würde — und daran wachsen.
»Ich bin zurück.« Ohne ihn anzuschauen, legte ich vorsichtig den Beschwörungsspiegel ab und das Paket auf den Couchtisch hinter mir. Gott, ich stank. Ich ging nicht davon aus, dass die Hotelseife reichen würde. Ein Hundertliterfass Tomatensaft würde vielleicht helfen.
Pierce zögerte, dann ging er zu dem Stuhl am Fenster, nahm seinen langen, schweren Baumwollmantel und schlüpfte hinein. »Was hat so lange gedauert? Hat Kalamack dir Ärger gemacht?«
Warum kümmert es mich, was er denkt? »Al hat sich mit mir angelegt«, sagte ich kurz angebunden, weil ich nicht näher darauf eingehen wollte.
Pierce zögerte kurz und sah mich unter seinem Pony hervor an. »Geht es dir gut?«
Ich nickte, und er wandte sich ab, um sein Spiegelbild zu kontrollieren und seinen Ärmel zurechtzurücken. »Wo gehst du hin?«, fragte ich, da offensichtlich war, dass er weg wollte.
Er suchte über den Spiegel meinen Blick. »Mich mit Vivian unterhalten.«
Über mich? »Pierce ...«, setzte ich an und dachte an das, was Newt über die Quoten gesagt hatte. Dass eine gebannte Hexe für mich aussagte, würde mir nicht helfen.
»Nicht über dich«, sagte er, als er seinen Hut vom Ständer neben der Tür nahm und auf den Kopf setzte. »Ich möchte hören, welche Chance sie dem Versuch einräumt, meinen Platz im Hexenzirkel zurückzuverlangen, bevor sie ihn wieder besetzen. Das würde dir eine weitere Stimme verschaffen.«
»Aber du warst tot!«, sagte ich, und er drehte sich mit einem Lächeln in den Augen zu mir um.
»Das war ich«, sagte er und senkte den Kopf, so dass sein Gesicht fast hinter seinem Hut verschwand. »Das ist ein schwieriges Wort: ›war‹. Einmal Mitglied des Hexenzirkels, bleibt man es ein Leben lang, und ich bin wieder lebendig.« Er lächelte jetzt richtig, und sein Blick wurde leer. »Würde das nicht alles in der Schöpfung schlagen? Ein Mitglied des Hexenzirkels, das gleichzeitig der Vertraute eines Dämons ist? Das ließe dich im Vergleich recht ... harmlos aussehen.« Sein Blick wurde wieder klar und er ging zur Tür, blieb aber noch einmal stehen. »Hast du dein Handy? Ruf mich an, wenn es Probleme gibt.«
Ich nickte. Wenn er seinen Platz im Hexenzirkel zurückgewann, würde das die Quoten im Jenseits verändern, sollte jemand davon erfahren.
»Gut, dann«, sagte Pierce und lehnte sich vor, um mir einen schnellen, fast nicht spürbaren Kuss zu geben. Auf den Mund. Ich stand nur schockiert da und tat gar nichts, und er war verschwunden, bevor ich auch nur den Geruch von Rotholz in meiner Seele finden konnte.
»Wünsch mir das Glück der Toten«, sagte er, halb im Flur und halb in meinem Leben.
»Viel Glück«, flüsterte ich, und die Tür fiel zu. Er hat mich geküsst?
Er hatte mich geküsst, und wie ein Idiot hatte ich gar nichts getan. Es war nicht so, als hätte er mich noch nie geküsst, aber offensichtlich hatte etwas zwischen meinem Sprung mit Trent nach Seattle und jetzt seine Meinung geändert. Als ich gegangen war, war er abweisend und grüblerisch gewesen — wütend, weil ich seinen Versuch vereitelt hatte, Al zu töten, und das mit Recht. Ich hatte mich nicht entschuldigt, und er wusste, dass ich es jederzeit wieder tun würde. Und doch hatte er mich geküsst und war gegangen, um seine alte Position zurückzuverlangen, und das, um mir zu helfen?
Ich wollte der Sache misstrauen. Ich wollte glauben, dass es eine Falle war, um sein eigenes Ansehen zu steigern und vielleicht einen Ausweg aus seiner Knechtschaft bei Al zu finden. Denn mit Misstrauen kam Distanz, und mein Herz wäre in Sicherheit. Aber ein kleiner, weiserer Teil von mir wusste, dass bei all seiner dunklen Macht, bei all dem Dreck, den er schon in mein Leben gebracht hatte, Pierce treu zu seinen Überzeugungen stand und so tief nicht sinken würde. Wenn er versuchte, mir zu helfen, dann meinte er es auch ernst. Er hatte seine eigenen Wünsche beiseitegeschoben, um meine zu unterstützen, und das zu wissen machte mir Angst. Sein Opfer machte es mir viel zu leicht, ihn als meinen Helden zu sehen und so die Augen vor der dunkleren Seite seines Geistes zu verschließen, nur damit ich mich wieder verlieben konnte.
Dieses Mal nicht, schwor ich mir und ballte die Hände zu Fäusten. Dann wischte ich mir den Rotholzgeschmack von den Lippen. Er war eine schwarze Hexe, die jederzeit verbotene Magie einsetzen würde, um diejenigen zu töten, die sein Leben bedrohten oder das Leben derjenigen, die ihm etwas bedeuteten.
Ich auch, aber das hieß noch lange nicht, dass ich ihn deswegen lieben musste.