Hope

Engelsgesicht

Bianca klopfte an die Tür eines Büros, wartete und öffnete sie dann. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann etwa in meinem Alter, mit einem kurz geschnittenen Spitzbart und kurzen Rastazöpfen. Er tippte Zahlen in einen Taschenrechner, und sein Blick blieb auf das Ergebnis gerichtet, als wir eintraten. Sein Jackett hing hinter ihm über der Stuhllehne, die Ärmel des weißen Hemdes waren hochgekrempelt und ließen muskulöse dunkle Unterarme sehen. Guy Benoit, der Gangchef.

»Guy? Das ist Faith.«

»Die Expisco?«

»Yep.«

Er grunzte etwas, das möglicherweise ein »Gut« war, und notierte sich eine Zahl, bevor er aufsah. Eine kaltäugige Analyse, aber anders als bei Romeo hätte ich nicht sagen können, ob ich bestanden oder versagt hatte. Ein zweites Grunzen, und er wandte sich wieder seiner Buchhaltung zu. Ich warf einen Seitenblick auf Bianca. Sie hatte es sich bequem gemacht, lag zurückgelehnt auf einem Stuhl, die langen Beine an den Knöcheln gekreuzt, die blauen Augen auf Guy gerichtet.

»Ich nehme an, Bianca hat dir die Regeln erklärt?«, fragte er schließlich, während seine Finger noch immer über die Tastatur flogen.

»Ja.«

»Damit ist deine Ausbildung beendet, Faith. Wir erwarten von unseren Neuzugängen, dass sie sofort einsatzbereit sind. Deine Partner werden dir helfen, aber rechne nicht damit, dass jemand dir das Händchen hält. Wenn du dich nicht bewährst, gibt es ein Dutzend andere, die deinen Platz einnehmen können.«

»Ja, Sir.«

Ich hatte das »Sir« vollkommen instinktiv hinzugefügt und fragte mich, noch als ich das Wort aussprach, ob er es für Sarkasmus halten würde. Wäre dies ein Bewerbungsgespräch gewesen, hätte ich mir jetzt ernstlich die Frage gestellt, wie dringend ich die Stelle wirklich haben wollte.

»Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, wie wichtig es ist, dass du dich als loyales Mitglied der Crew erweist. Ich bin sicher, unser Anwerber hat dir erzählt, was mit Leuten passiert, die uns verraten, absichtlich oder durch Unvorsichtigkeit.«

»Ja.«

»Dann brauchen wir darüber nie wieder zu reden.« Er sah mir einen Sekundenbruchteil lang ins Gesicht, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmete. »Vor diesem Club steht jeden Abend eine Schlange, aber trotzdem deckt er gerade eben die Kosten. Uns geht es dabei nur um die Targets. Miami ist voll von reichen Kids, die sich amüsieren wollen.«

Bei dem Tonfall, mit dem er »reiche Kids« aussprach, fragte ich mich, ob die Identität, die Benicio für mich ausgesucht hatte, wirklich so gut gewählt war.

»Sie haben einen teuren Geschmack bei allem und jedem, von den Frauen über die Getränke bis zu den Drogen, und das wäre zwar die einfachste Methode, an ihre Treuhandfonds ranzukommen, aber es ist eine Methode für Idioten. Was wir hier betreiben ist ein legales Unternehmen. Wir halten uns an sämtliche Regeln einschließlich der Brandschutzvorschriften. Es gibt mehr als eine Methode, ein Target auszunehmen. Wenn eine junge Frau es mit dem Alkohol ein bisschen übertreibt und in unseren Räumlichkeiten einen Blackout hat, dann haben wir die Verpflichtung, uns um sie zu kümmern und dafür zu sorgen, dass es ihr wieder bessergeht. Allerdings werden wir ihre Wohnung ausräumen, während sie sich erholt. Deinem Dossier nach nehme ich an, dass du bei solchen Unternehmungen helfen kannst.«

Ich nickte. »Ich war vor einer Weile mal mit einem professionellen Dieb befreundet. Ich hab ihn bei der Arbeit begleitet. Einfach wegen dem Kick.«

Seine Lippen wurden schmal, und ich verfluchte mich insgeheim. Benicio hatte wirklich Mist gebaut. Oder zumindest die Lage falsch eingeschätzt. Vielleicht bestanden die meisten Gangs aus undisziplinierten, rebellischen Kids, die sich leichtes Geld und eine Menge Spaß erwarteten, aber Guy nahm seine Arbeit ernst und erwartete von seiner Mannschaft, dass sie es ebenfalls tat. Ein verwöhntes Societygör auf der Suche nach dem Kick würde hier nicht willkommen sein.

Ich versuchte Boden gutzumachen. »Ich komme mit Dietrichen, Drehmomentschlüsseln, Sperrpistolen und Ausgleichsscheiben zurecht. Mit dem richtigen Arbeitsgerät kann ich Schlüssel kopieren, aber da bin ich noch am Lernen. Ich kann mit einem Slimjim umgehen und ein Auto kurzschließen. Ich weiß grundsätzlich, wie man einen Safe aufbohrt, aber ich habe noch nie selbst einen geöffnet. Ich habe einfache Alarmanlagen ausgeschaltet. Aber am meisten Erfahrung habe ich bei den gewöhnlichen Heimlichkeitstechniken. Leises Vorwärtskommen, Überwachungskameras vermeiden, Hunde irreführen, solche Sachen.«

Ein widerwilliges Nicken.

Ein Klopfen an der Tür. Auch dieses Mal antwortete Guy nicht, aber nach ein paar Sekunden wurde die Tür geöffnet. Herein kam ein untersetzter junger Mann, der aussah, als wäre er nicht über zwanzig.

»Rodriguez, das ist Faith, unser Neuzugang. Sie braucht ein Handy und einen Pager, aber deswegen habe ich dich nicht gerufen. Ich will über den nächsten Job reden.«

Bianca stand auf und bedeutete mir, ihr zu folgen. Sie war zwei Schritte weit gekommen, als Guy sagte: »Bee? Dich brauche ich hier.« Er brüllte etwas, das sich anhörte wie »Jack«, und der Typ, der mich eingelassen hatte, erschien. »Du und Sonny, nehmt Faith mit zum Abendessen! Sorgt dafür, dass sie sich willkommen fühlt. Meinst du, ihr schafft das?«

Der junge Mann grinste. »Ich glaube, ich komme damit zurecht.«

»Aber kau ihr nicht gleich das Ohr ab. Ich will euch beide um neun wieder hier sehen. Ihr habt heute Abend Clubdienst. Ja richtig, Vorstellung: Faith, Jasper. Jasper, Faith.«

Der junge Mann zeigte Guy den Mittelfinger. Guy lächelte nur und scheuchte uns aus dem Raum.

»Jaz, bitte«, sagte der junge Mann, sobald wir draußen waren. »Niemand nennt mich Jasper. Nicht mal meine Mutter. Sobald sie sich von ihrem Anfall von Unzurechnungsfähigkeit erholt hatte, hieß ich Jaz außer auf den offiziellen Dokumenten, und ich habe vor, die auch ändern zu lassen, sobald ich mich aufraffen kann, den Papierkram zu erledigen. Jetzt müssen wir also Sonny auftreiben, wo der sich auch wieder versteckt …«

»Direkt hinter dir«, sagte eine tiefe Stimme.

Hinter uns stand ein anderer junger Mann, etwa so groß wie Jaz, aber mit glattem, schulterlangem dunkelblondem Haar, tief gebräunter Haut und einem kantigen Gesicht, das nicht hässlich war, es aber mit Sicherheit nie auf ein Werbeplakat schaffen würde.

Jaz schlug ihm auf den Rücken. »Hey, Bro! Guy hat uns gerade wieder so einen Höllenauftrag gegeben. Wir müssen Faith hier zum Essen ausführen und bequatschen. Faith, das ist Sonny. Kenn ihn seit der Vorschule. Unser erstes gemeinsames Unternehmen war, Würmer im Sandkasten auszusetzen, und seither sind wir zusammen.« Ein Zwinkern in meine Richtung. »Nur die Streiche sind heutzutage ein bisschen anspruchsvoller.«

Es folgte ein fast ununterbrochener Strom von Geschnatter, während wir den Club verließen und die Straße entlanggingen. Er fragte mich nach meinem Test und erzählte mir dann von seinem eigenen und dem Sonnys. Jaz gehörte seit etwa einem Jahr zu Guys Mannschaft, und Sonny war ihm gefolgt, als das nächste Mal eine Stelle frei wurde – sie hatten nicht gegeneinander antreten wollen. Jaz unterbrach sich bei alldem nur eben lang genug, um mich zu fragen, was ich für Vorlieben beim Essen hätte.

Unter normalen Umständen hätte mich das unaufhörliche Geschnatter gestört, aber bei Jaz kam es mir nicht vor wie Nervosität oder Selbstbestätigung. Es wirkte wie … Energie. Unbegrenzte Energie, die ein Ventil brauchte, und ich konnte sie spüren, als würde unterschwelliges Chaos in Wellen von ihm ausgehen.

Beim Essen versuchte Jaz, auch mich zu Wort kommen zu lassen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass meine Lebensgeschichte erfunden war, war ich es ganz zufrieden, weiter zuzuhören.

Er erzählte mir das eine oder andere über sich selbst und Sonny. Nichts allzu Persönliches, einfach genug, um ein freundschaftliches Verhältnis herzustellen. Als Erstes kam der paranormale Typ. Ich hatte bei keinem von beiden etwas in dieser Art aufgefangen, und jetzt war mir auch klar, warum. Sie gehörten derselben geringeren Spezies an, beide waren Zauberer – eine schwächere Variante des Magiers.

Dass sie sich schon in der Vorschule kennengelernt hatten, war kein Zufall. Ihre Eltern hatten in einer Filiale der St.-Cloud-Kabale in Minneapolis gearbeitet, und die Jungen hatten eine von der Kabale ausgesuchte Schule besucht. Eine ansonsten ganz normale Schule. Das Risiko dabei war vernachlässigbar: Paranormale Kinder entwickeln ihre Kräfte erst im Teenageralter. Man hatte sie ermutigt, sich mit denjenigen Mitschülern anzufreunden, deren Eltern Kollegen der eigenen Eltern waren, Kindern, die sie auch bei Weihnachtsfeiern und Grillfesten und im Little-League-Team der Firma wieder trafen. Wenn sie älter wurden, hatten sie dann bereits Freunde, mit denen sie die Erfahrungen eines paranormalen Erwachsenwerdens teilen und mit denen sie reden und mitfühlen konnten. Als ich Jaz und Sonny beobachtete und die entspannte Vertrautheit zwischen ihnen, die ich bei meinen menschlichen Freunden verloren hatte, spürte ich einen scharfen Stich des Neides, so schmerzhaft, dass mir das Weiteressen schwerfiel.

Sie waren jünger als ich, beide dreiundzwanzig. Sie hatten ihre Familien als Teenager verlassen und sich danach treiben lassen. Überraschend war das nicht. Ich wusste, wie es sich anfühlte, plötzlich anders zu sein, Geheimnisse bewahren und neu entwickelte Kräfte verstehen zu müssen, nach einem Halt, einer Identität, einem Platz in dieser unbekannten Welt zu suchen.

Jaz und Sonny schienen in der Gang einen Anker gefunden zu haben. Keiner von ihnen hatte etwas an der Situation auszusetzen, und diese Einstellung schien mir echt zu sein, keine Fassade, die sie eigens für die Neue aufsetzten. Jaz lieferte mir eine Liste der übrigen Mitglieder – ihre Spezies, ihre Position und ihre Persönlichkeit. Fraglos machte er mir die Aufgabe des Informationensammelns gleich sehr viel leichter.

Als das Abendessen sich über eine Stunde hingezogen hatte, war ich schließlich entspannt genug, um einen zweiten und kritischeren Blick auf Jaz zu werfen. Wenn ich bei Männern einen bestimmten Typ bevorzugte, dann war es jedenfalls nicht Jaz. Das bis zum Kinn reichende Lockengewirr war länger, als ich es mochte. Seine Augen waren zu groß und zu weich. Der Mund zu breit und sinnlich. Er war schlank gebaut, beinahe anmutig. Der Gesamteindruck war … ich sage wirklich nicht gern feminin, denn er hatte nichts Mädchenhaftes an sich, aber er hatte fraglos ein paar Prettyboy-Züge, die ihn sehr gründlich von …

Ich brach den Gedankengang ab. Auch Karl war nicht mein Typ gewesen – zu weltmännisch, zu geschliffen, zu alt.

Was aber das Rätsel anging, das Jaz darstellte – das löste ich beim Dessert. Er drehte sich auf seinem Stuhl zur Seite, und der Winkel war genau richtig, um eine Erinnerung aus meiner Kindheit wachzurufen, und jetzt wusste ich, wem er ähnelte: dem Erzengel Gabriel in der Kirche meiner Großmutter.

Ich bin mir sicher, es hat etwas Ungehöriges an sich, für einen Engel zu schwärmen, aber ich war damals ja auch erst sechs oder sieben gewesen. Gran war eine Dame der Gesellschaft, die ihren Sohn darauf vorbereitet hatte, eine Debütantin zu heiraten. Ich glaube, als er in den Ferien mit einer Inderin nach Hause kam, die er am College kennengelernt hatte, war sie weder enttäuscht noch ärgerlich gewesen, sondern lediglich eine Spur verwirrt. Wie bei den meisten Frauen ihrer Schicht und Generation war ihr diese Möglichkeit ganz einfach nicht in den Sinn gekommen. Aber er war unverkennbar verliebt, und das Mädchen war so intelligent und so hübsch wie jede Debütantin. Gran hatte ihnen ihren Segen gegeben.

Sie liebte uns ebenso sehr wie all ihre anderen Enkel. Nicht einmal nach der Scheidung hatte sich daran etwas geändert. Wenn es überhaupt ein Problem mit Gran gab, dann war es ihr Bedürfnis, uns zu verstehen zu geben, dass wir dazugehörten. Und hier kam der Engel Gabriel ins Spiel.

Wenn wir bei ihr zu Besuch waren, ging ich immer mit zur Kirche, weil ich wusste, dass es sie freute und meine Mutter ebenfalls. Über der Kanzel befand sich ein riesiges Gemälde voll goldblonder, weißhäutiger Engel, und aus irgendeinem Grund hatte der Maler Gabriel hervorgehoben, indem er ihn dunkelhaarig und braunhäutig darstellte.

In den Augen meiner Großmutter war Gabriel der Beweis dafür, dass ich in Gottes Haus so willkommen war wie jeder andere, und so versäumte sie nie, Gabriels Schönheit zu bewundern und anzumerken, dass es ihn zu etwas Besonderem machte, anders auszusehen als die anderen. Es war eine nicht gerade subtile Lektion, aber sie meinte es gut. Und ich verbrachte viele Stunden damit, in der Kirche zu sitzen und zu Gabriel mit seinen seelenvollen Augen und dunklen Locken hinaufzustarren.

Damit war das Rätsel um Jaz’ Attraktivität also gelöst. Aber das bedeutete nicht, dass mein Herz weniger gepocht hätte, als seine seelenvollen Augen sich auf mich richteten. Das Gesicht eines Engels und dahinter ein Geist, der mehr für Teufeleien ausgelegt zu sein schien. Unter den gegebenen Umständen war es vielleicht genau das, was ich brauchte.

 

Als wir das Restaurant verließen, fragte Jaz: »Du bist also eine Exustio? Oder war’s Aspicio?«

»Expisco«, sagte ich.

»Exustio ist Feuer«, bemerkte Sonny. »Aspicio Sehkraft.«

»Zum Teufel mit den halbdämonischen Bezeichnungen. Hören sich in meinen Ohren alle wie Latein an.«

»Könnte das daran liegen, dass sie lateinisch sind?«

»Klugscheißer! Nicht mal Guy hat gewusst, was ein Exp…, Expisco ist. Hat es von Bianca recherchieren lassen, und sie hatte eine Heidenarbeit damit.«

»Es ist ein ziemlich seltener Subtyp«, sagte ich.

»Und ein abgedrehter.« Er sah zu mir herüber. »Nichts für ungut, ich meine damit nur, die meisten von euch haben irgendeine Elementarkraft oder gesteigerte Sinneskräfte. Ärger spüren können, das ist – na ja, es scheint einfach nicht recht dazuzupassen.«

»Reinblütige Dämonen haben meistens die spezifischen Kräfte und den Chaossensor. Die meisten Halbdämonen kriegen die Kräfte ohne die Sensoren. Ich kriege nur die Sensoren.«

»Hm.« Er sagte mindestens zehn Schritte lang nichts, was mir verriet, dass ihm etwas zu schaffen machte. Bevor ich fragen konnte, sagte er: »Der Grund, warum ich das zur Sprache bringe – na ja, Guy ist … nicht überzeugt.«

»Dass ich das bin, von dem ich sage, dass ich’s bin?«

Er nickte. »Ich wollte dich bloß vorwarnen. Er wird dich prüfen wollen, und zwar bald.«