Ich versuchte, mögliche chaotische Schwingungen aufzufangen, und spürte nichts. Nichtsdestoweniger hatte ich, wenn ein riesiger halbdämonischer Fremder mich ein paar hundert Meilen von zu Hause entfernt aufspürte, wahrscheinlich Grund zur Nervosität.
»Gehen wir doch da rüber!«
Er deutete zu einem stillen Fleck unter einer Ulme. Als wir sie erreicht hatten, schauderte er und sah hinauf in das dichte Astgewirr.
»Nicht gerade der wärmste Platz hier«, bemerkte er. »Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass es der einzige ruhige Ort im ganzen Park ist. Keine Sonne.«
»Aber das könnten Sie ja ändern.«
Ich wartete auf den Widerspruch, aber stattdessen bekam ich ein Grinsen, das die Kälte der eisblauen Augen schmelzen ließ.
»Na, das ist mal eine praktische Begabung. Die könnte ich bei meinem Job auch brauchen.«
»Und der ist?«
»Troy Morgan«, sagte er gleichsam als Antwort. »Mein Boss würde gern mit Ihnen reden.«
Bei dem Namen fiel mir auch der Rest wieder ein. Benicio Cortez’ persönlicher Leibwächter.
Ich folgte Troys Blickrichtung zu einem Auto, das mit laufendem Motor in fünfzehn Meter Entfernung stand. Ein weißer Geländewagen mit dem Cadillac-Emblem auf den Radkappen. Neben dem Wagen stand ein dunkelhaariger Mann, der als Troys Zwillingsbruder hätte durchgehen können. Wenn beide Leibwächter von Benicio Cortez anwesend waren, dann bestand kein Zweifel, wer hinter den getönten Scheiben im Auto saß.
Plötzlich lag mir mein hastig hinuntergeschlungenes Frühstück wie ein Stein im Magen.
»Wenn es um das da geht« – ich schwenkte den Arm in Richtung Mordschauplatz –, »dann können Sie Mr. Cortez sagen, es handelt sich hier nicht um einen Werwolf, und somit …« Ich unterbrach mich. »Es geht gar nicht um das Werwolfgerücht, oder?«
Troy schüttelte den Kopf. Was aber hätte Benicio Cortez sonst für einen Grund haben können, von Miami her einzufliegen, um mit einem halbdämonischen Niemand zu reden? Den, dass ich ihm etwas schuldete. Jetzt wurde das Bagel in meinem Magen zu Blei.
»Okay«, sagte ich, während ich auf mein Notizbuch zeigte. »Ich bin hier gerade mitten in einer Story, aber ich könnte mich in, sagen wir, einer Stunde mit ihm treffen …« Ich sah mich nach einem Café um.
»Er muss aber jetzt mit Ihnen reden.«
Troys Stimme war ruhig, geradezu sanft, aber sie hatte einen metallischen Klang, der mir signalisierte, dass ich keine Wahl hatte. Benicio Cortez wollte mit mir reden, und es war Troys Aufgabe, ihm dies zu ermöglichen.
Ich sah zu dem Schauplatz hinüber. »Kann ich noch ein paar Minuten haben? Wenn ich noch mit einem einzigen Zeugen rede, habe ich genug für den Artikel …«
»Darum wird Mr. Cortez sich kümmern.«
Er berührte mich am Ellbogen; sein Blick hielt meinen fest, mitfühlend, aber unnachgiebig. Als ich mich immer noch sträubte, beugte er sich vor und senkte die Stimme. »Er würde gern im Auto mit Ihnen reden, aber wenn Ihnen ein öffentlicher Ort lieber wäre – das könnte ich arrangieren.«
Ich schüttelte den Kopf, schob das Notizbuch in die Tasche und gab ihm zu verstehen, er solle vorangehen.
Als ich an den Bordstein trat, pflügte ein vorbeifahrendes Auto durch eine Pfütze aus halb geschmolzenem Schnee und schleuderte eine Wolke von Matsch zur Seite. Ich machte einen Satz nach hinten, aber sie erwischte mich trotzdem noch; eisige Tropfen sprenkelten meinen Rock und die Strümpfe, rutschten mir an den Beinen hinunter und landeten in meinen Schuhen. Das war es dann wohl gewesen mit dem präsentablen Äußeren.
Ich rieb mir die Arme und redete mir ein, dass die Gänsehaut auf die Dusche zurückging und nicht auf die Furcht vor einer Begegnung mit Benicio Cortez. Ich war in Gesellschaftskreisen aufgewachsen – einen Hauptgeschäftsführer kennenzulernen hätte mich nicht weiter nervös machen sollen. Aber die Cortez Corporation ist nicht einfach irgendein Name aus der Fortune-500-Liste.
Eine »Kabale« sieht nach außen hin aus wie jedes andere multinationale Unternehmen, aber ihre Eigentümer und leitenden Angestellten sind Paranormale, und die spezifischen Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter geben ihr einen Vorteil der Konkurrenz gegenüber. Diesen Vorteil nutzt die Kabale zu den verschiedensten Zwecken – von legitimen (dem Schutz ihrer Tresorräume mittels Magierformeln) über ethisch zweifelhafte (schamanische Astralprojektion zum Zweck der Industriespionage) bis zu verabscheuungswürdigen (etwa der Ermordung eines Konkurrenten durch einen teleportierenden Halbdämon).
Ich hatte zwei Jahre lang für die Cortez-Kabale gearbeitet. Unwissentlich. Angeheuert hatte mich Tristan Robard, den ich für einen Repräsentanten des paranormalen Rates gehalten hatte, und er hatte mich auch bei True News untergebracht. Meine Aufgabe dort war es, ein Auge auf paranormale Geschichten zu haben, die echten davon herunterzuspielen oder ganz aus der Presse zu halten und alles Beunruhigende dem Rat zu melden. Bald half ich dem Rat auch dabei, Paranormale aufzuspüren, die sich nicht an die Regeln hielten.
Es war eine perfekte Methode gewesen, meinen Hunger nach Chaos zu befriedigen, ohne dass ich ein schlechtes Gewissen zu haben brauchte. Es könnte einem dabei der Ausdruck »zu gut, um wahr zu sein« einfallen, aber ich war damals in einer sehr üblen Verfassung gewesen: depressiv, wütend, ratlos. Wenn man so weit unten ist und jemand einem die Hand hinstreckt, um einem wieder nach oben zu helfen, dann greift man danach und stellt keine Fragen.
Dann hatte ich meinen bis dahin schwierigsten Auftrag bekommen. Ich sollte bei einer Museumsgala einen werwölfischen Juwelendieb erwischen. Ich war unglaublich stolz auf mich gewesen … bis der Werwolf, Karl Marsten, mir die rosa Brille von der Nase geschlagen und mir gezeigt hatte, dass ich in Wirklichkeit die ganze Zeit für die Cortez-Kabale gearbeitet hatte. Als wir dem Schlamassel mit Mühe und Not entkommen waren, hatte sich eine sehr unerwartete Partei der Aufräumarbeiten angenommen: Benicio. Es stellte sich heraus, dass meine Tätigkeit eine eigenmächtige und geheime Maßnahme vonseiten Tristans gewesen war und sein Vorgehen gegen Karl ein rein persönlicher Akt. Zur Wiedergutmachung hatte Benicio die Leichen verschwinden lassen und Karl die nötige ärztliche Versorgung verschafft.
Dafür standen wir jetzt in seiner Schuld. Bisher hatte ich mir deshalb nie Gedanken gemacht, denn schließlich war ich ja nicht die alleinige Schuldnerin. Karl war professioneller Dieb und eigentlich in der Lage, mich bei jedem Halbweltauftrag anzuleiten, den Benicio uns übertragen würde.
Aber jetzt war Benicio da, um die Schuld einzutreiben, und Karl war nicht in Reichweite, um mich zu schützen.
Mein Rock machte ein obszönes Quietschgeräusch, als ich mich auf das Lederpolster des Geländewagens schob. Wenn der Mann im Inneren es gehört hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken – er streckte lediglich eine Hand aus, um mir zu helfen.
Als die Tür geschlossen wurde, verstummte das Dröhnen des morgendlichen Berufsverkehrs. Nur murmelnder Calypso-Jazz war noch zu hören, so leise, dass ich mir Mühe geben musste, die Musik auch nur wahrzunehmen. Auch der Geruch nach Auspuffgas war wie ausgelöscht; stattdessen roch ich kalten Rauch.
»Zigarre«, erklärte der Mann, als er mein unwillkürliches Naserümpfen bemerkte. »Kubanisch, wobei der Preis den Geruch nicht angenehmer macht. Ich habe einen Nichtraucherwagen angefordert, aber bei den besseren Leihwagen bilden die Leute sich ein, wenn sie nur genug zahlen, können sie tun, was sie wollen.«
Benicio Cortez. Er hatte wenig Ähnlichkeit mit dem einzigen anderen Cortez, den ich kannte: seinem jüngsten Sohn Lucas. Benicio war über sechzig, wahrscheinlich nicht über einen Meter fünfundsiebzig groß, untersetzt und mit einem breiten Gesicht. Nur die Augen erinnerten mich an seinen Sohn – es waren schöne Augen, groß und dunkel. Der Typ Mann, den man ohne weiteres bitten würde, einem kurz die Handtasche zu halten oder den kleinen Sohn zum Herrenklo zu begleiten. Ich möchte wetten, dieser Eindruck konnte sehr nützlich sein, wenn er einem erklärte, wie gut er verstehen könne, dass man den seit drei Generationen in der Familie befindlichen Betrieb nicht verkaufen wolle … während er zugleich einem Feuerdämon die Nachricht schickte, er möge den Laden bitte abfackeln, bevor die Besitzer von dem Geschäftsessen zurückkamen.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir fahren?«, fragte er. »Wenn wir noch lang hier stehen bleiben, werde ich versuchen müssen, mich um einen saftigen Strafzettel herumzureden.«
Ich war mir sicher, dass Benicio Cortez mehr als genug Bargeld dabei hatte, um den Strafzettel zu bezahlen. Nun könnte man anführen, dass kein Paranormaler gern mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als unbedingt nötig, aber ich hatte den Verdacht, dass er meine Nerven testen wollte … oder vielleicht auch meine Naivität – herausfinden, ob ich mich von ihm auf eine Fahrt mit unbekanntem Ziel mitnehmen lassen würde.
Ich sagte: »Wenn Sie an der Ampel links abbiegen, stoßen Sie auf eine Baustelle, dort können Sie in aller Gemächlichkeit um den Block fahren.«
»Wunderbar. Danke.«
Ein Knopfdruck, und die Trennscheibe glitt summend nach unten. Als Benicio dem Fahrer Bescheid sagte, öffnete sich die Beifahrertür, und Troy stieg ein. Der zweite Leibwächter blieb zurück, wie um den Halteplatz seines Arbeitgebers zu bewachen.
Benicio fuhr die Scheibe wieder hoch, griff zwischen die Sitze und holte eine Thermosflasche heraus.
»Noch ein Nachteil der Leihwagen«, sagte er. »Keine Getränke im Auto. Ich fürchte, ich bin verwöhnt. Ich habe dies im Jet brauen lassen und kann Ihnen versichern, er ist ausgezeichnet, auch wenn der Behälter vielleicht wenig einladend aussieht.« Ein etwas schiefes Lächeln, als er die zerbeulte militärgrüne Thermosflasche hob. »Hässlich, aber sie erfüllt ihren Zweck besser als jede andere, die ich gesehen habe.«
Der Vakuumverschluss knackte; duftender Dampf breitete sich im Auto aus.
»Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Sie bei der Arbeit unterbrochen habe.« Er reichte mir einen weißen Porzellanbecher. »Es war kein Ratsprojekt, oder? Meine Schwiegertochter wäre gar nicht begeistert.« Lucas war mit Paige Winterbourne verheiratet, der Hexendelegierten des paranormalen Rates.
»Ich war nicht für den Rat dort«, antwortete ich. »Aber der Rat wird einen Bericht haben wollen, und mein Herausgeber will einen Artikel; ich muss also wieder hin, bevor meine Quellen sich davongemacht haben.«
Er füllte meinen Becher und goss sich selbst Kaffee nach.
»Ich fühle mich immer noch verantwortlich für die Schwierigkeiten, die Sie und Karl mit Tristan hatten«, sagte er schließlich. »Ich hätte über seine Aktivitäten Bescheid wissen sollen. Als Entschädigung möchte ich Ihnen und Karl eine Tätigkeit anbieten – eine vorübergehende selbstverständlich –, die Ihren Talenten in ungewöhnlichem Maß entgegenkommt. Natürlich würde diese Tätigkeit honoriert werden, und ich glaube, sie würde Ihnen zugleich sehr wertvolle Kenntnisse vermitteln, die Sie bei Ihrer Arbeit für den Rat brauchen können. Ich hatte gehofft, zuerst mit Karl zu sprechen, aber ich weiß nicht, wie ich ihn kontaktieren kann.«
Sein Blick richtete sich auf mich.
»Ich habe seine Nummer auch nicht«, log ich und fügte dann etwas hinzu, das der Wahrheit entsprach. »Aber er ist sowieso in Europa. Auf unbestimmte Zeit.«
»Unbestimmt?«
»Hat er jedenfalls gesagt.«
»Wie lästig.« Er trank einen langen Schluck Kaffee. »Haben Sie Erfahrung damit, in Straßengangs zu ermitteln, Hope?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Aber Sie verstehen sicherlich das Prinzip – Gruppen von jungen Leuten in einem Alter, in dem sie das Bedürfnis nach Zugehörigkeit haben und ihre Macht erproben wollen. Als junge Paranormale haben Sie vermutlich ein gewisses Verständnis dafür, wie das ist.«
Ich sagte nichts und wartete stattdessen darauf, dass er zur Sache kam.
»Wir erziehen unsere Kinder dazu, ihre Kräfte zu verbergen und sich in die menschliche Gesellschaft einzufügen, was ihnen nicht immer leicht fällt. Manche schließen sich zu kriminellen Banden zusammen – meist sind es Jungen und junge Männer, vom Teenageralter bis etwa Mitte zwanzig, dem Alter, in dem ihre Kräfte sich voll entwickelt haben. Sie sind besser organisiert als menschliche Gangs – zielgerichteter und weniger auf beiläufige Gewalttätigkeit aus, obwohl sie Gewalt durchaus einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen.«
Es hörte sich an wie die Jugendorganisation einer Kabale.
»Diese Gangs tauchen vor allem in Kabalenstädten auf, weil die Konzentration von Paranormalen dort höher ist und weil sie wissen, dass wir ihre Aktivitäten ein Stück weit decken, um uns selbst zu schützen. Wir könnten diese Gruppen auflösen, aber wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es vernünftiger ist, sie unter Aufsicht gewähren zu lassen. Sie können ihre rebellische Phase ausleben, und wenn sie sich später dann nach einer Stelle umsehen …«
»Sind die Kabalen in Reichweite.«
Er nickte. »Das Problem dabei ist, gelegentlich geht ihnen die Geduld mit uns aus. Eine bestimmte Gang – eine außergewöhnlich gut organisierte Gruppe in Miami – hat in letzter Zeit für Unruhe gesorgt. Ich muss herausfinden, was sie vorhaben.«
»Und deshalb wollen Sie sie infiltrieren lassen. Sie brauchen einen jungen Paranormalen mit Erfahrung in der verdeckten Arbeit und zugleich ein in unserer Gemeinschaft noch unbekanntes Gesicht. Und dafür käme ich in Frage.«
Noch während ich sprach, spürte ich, wie mein Herzschlag schneller wurde bei dem Gedanken daran, wie man es anstellen könnte, wie viel ich lernen würde, wie viel Spaß ich haben würde. Und diese letzte Überlegung veranlasste mich, instinktiv auf die Bremse zu treten. Ich stellte mir hier gerade vor, wie es sein würde, all das kriminelle Chaos zu genießen, auf vollkommen untadelige Art, denn hey, ich führte schließlich nur einen Auftrag aus, beglich meine Schulden, half vielleicht sogar dabei, eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen der Gang und der Kabale zu verhindern …
Wenn ich jedoch schuldfreies Chaos wollte, würde ich bei meiner Arbeit für den Rat bleiben müssen. Dort wusste ich, dass ich für die richtige Seite arbeitete.
»Ich habe noch nie wirklich undercover gearbeitet«, sagte ich. »Wahrscheinlich könnte ich eine Kandidatin für eine Gang nicht mal spielen. Mein persönlicher Hintergrund …«
»Ich kenne Ihren persönlichen Hintergrund, Hope, und wir würden ihn natürlich berücksichtigen. Sie würden eine Variante Ihrer selbst spielen. Mit Karls Unterstützung könnten Sie dies ohne weiteres durchziehen.«
»Ich verstehe noch nicht so ganz, welche Rolle Karl bei alldem spielen würde. Er geht mit Sicherheit nicht mehr als Collegestudent durch.«
»Nein, aber er könnte Sie schützen.«
»Ich kann chaotische Gedanken lesen. Ich habe vielleicht keine Werwolfkräfte, aber wenn jemand vorhat, gleich eine Schusswaffe auf mich zu richten, dann merke ich es.«
»Sie würden vielleicht einmal in ein Büro oder eine Wohnung einbrechen müssen …«
»Die Grundlagen hat Karl mir beigebracht.«
Benicio lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Vielleicht würden Sie ihn dann also gar nicht brauchen. Das würde die Sache mit Sicherheit einfacher machen. Ich verliere ungern die Zeit, die nötig wäre, ihn zu finden und zurückzuholen.«
»Nein, ich … ich habe damit nicht gemeint, dass ich es machen will.«
Benicio zog beide Augenbrauen hoch, als wollte er fragen: Was haben Sie denn dann gemeint? Die Ausflüchte lagen mir bereits auf der Zunge, aber der Dämon in meinem Blut flüsterte: »Warum nicht? Du schuldest ihm was. Bring’s hinter dich.«
Ich stellte das Gefäß in den Becherhalter. »Nein. Es tut mir leid. Ich bin sehr geschmeichelt, dass Sie mich dafür in Betracht ziehen, aber es sieht so aus, als bräuchten Sie Ihre Agentin gleich jetzt und hier, aber ich habe nächste Woche eine Weiterbildung anstehen …«
»Bis dahin wären Sie wieder zu Hause. Wir fliegen jetzt gleich nach Miami, Sie machen die Initiationsprüfung heute Nachmittag und sind heute Abend Mitglied der Gang.«
Heute Abend Mitglied … Ich leckte mir über die trockenen Lippen; dann schluckte ich und brachte ein Auflachen zustande. »Heute? Damit ist die Sache leider entschieden. Ich kann heute unmöglich weg. Heute Abend soll ich wieder in Philly sein mit meiner Story …«
Mein Blick fiel auf einen Laster, der uns überholte. Wir waren auf einer vierspurigen Hauptstraße.
»Wo sind wir? Ich habe gesagt, einmal um den Block …«
»Mein Fahrer nimmt eine längere Route, damit wir etwas mehr Zeit zum Reden haben.«
Ich zögerte, aber schließlich hatte er seinen zweiten Leibwächter beim Park zurückgelassen, was wahrscheinlich bedeutete, dass er mich in diesem Moment nicht gerade kidnappte.
»Was Ihren Artikel angeht«, sagte Benicio, »so habe ich bereits meine Leute drangesetzt. Sie werden Ihnen alles liefern, was Sie brauchen, um ihn zu schreiben. Danach können Sie bei True News anrufen und ihnen sagen, dass Sie im gleichen Zusammenhang einer größeren Story auf der Spur sind – für die ich Ihnen ebenfalls das Material liefern kann.«
Ich zupfte an meinem durchweichten Rocksaum herum und sagte nichts.
»Und was Karl betrifft«, fuhr er fort, »steht es Ihnen frei, diesen Auftrag ohne ihn zu erledigen. Aber ich bestehe darauf, Lucas und Paige zu benachrichtigen, sodass Sie mit ihnen reden und alle Bedenken zur Sprache bringen können, die Sie möglicherweise haben. Ich arrangiere dies nicht hinter dem Rücken meines Sohns. Wenn er nach Miami kommen und das Projekt selbst beaufsichtigen will, wäre er mir sehr willkommen.«
Mir gingen die Ausflüchte aus. Ich hätte ganz einfach sagen sollen: Tut mir leid, aber ich will den Auftrag nicht. Aber ich brachte die Lüge nicht über die Lippen.
Ganz gleich wie Benicio es formulierte, ich schuldete ihm etwas – und auch wenn er selbst niemals von einer Schuld sprechen würde, es lieferte ihm eine Entschuldigung, mir weiterhin »Angebote« zu machen. Dies würde mir die ideale Gelegenheit bieten, die Verpflichtung loszuwerden, die wie eine schwarze Wolke über mir hing. Eine Woche oder weniger, ab sofort; für alle Eventualitäten war vorgesorgt, und Lucas und Paige waren dabei, was mir die Gewissheit gab, dass die Sache rechtens war. Und ich würde auf diese Art nicht nur meine Verbindung zu Benicio loswerden, sondern auch das Letzte, was mich mit Karl verband – die gemeinsame Verpflichtung Benicio gegenüber.
Zudem würde es mir die Gelegenheit liefern, die ich brauchte, um mich selbst auf die Probe zu stellen. Vor einem Jahr hatte ich eine Erfahrung gemacht, die mir immer noch Alpträume verursachte. Ich war in eine Situation geraten, in der das Chaos nur so brandete; ich hatte eine Freundin in Gefahr gesehen, und eine Sekunde lang hatte ich das Bedürfnis verspürt, mich einfach herauszuhalten und die Situation zu genießen. Ich musste meine Grenzen kennenlernen und sie erweitern, lernen, wie ich mit ihnen umgehen konnte.
Ich wandte mich Benicio zu. »Ich mach’s.«