Hope

Verschwunden

Als ich zum Ende gekommen war, sagte ich: »Ich weiß, wahrscheinlich blase ich das unnötig auf.«

»Tust du nicht. Benicio hat dich in eine schwierige Situation gebracht, ohne dir Leitlinien für den Fall mitzugeben, dass es Probleme gibt, wahrscheinlich weil er damit nicht gerechnet hat.«

»Es ist ein Vorwand, stimmt’s?«, fragte ich, während ich zum Fenster ging und hinaussah. »Der Auftrag meine ich. Ja, in der Gang wird gemurrt und rebelliert, aber das war nur eine Ausrede, um mich da einzuschleusen. Er will mich auf Herz und Nieren prüfen, sehen, wozu ich zu gebrauchen bin.«

»Und dir einen Vorgeschmack dessen geben, was du tun könntest.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten, kämpfte gegen das Bedürfnis an, sie auf den Mund zu drücken. Abgekaute Nägel standen Faith Edmonds nicht an. Das Nägelkauen war eine üble Angewohnheit, die ich ein halbes Jahr zuvor endlich unter Kontrolle bekommen hatte, aber ich war nie so sehr versucht gewesen, in sie zurückzufallen, wie in den letzten paar Wochen.

Schon wieder von der Cortez-Kabale zum Narren gemacht. Es ging hier nicht darum, mich zu prüfen, sondern darum, mich in Versuchung zu führen.

Ich wünschte mir sagen zu können: Das hat Benicio vielleicht vor, aber es klappt nicht. Es wäre eine Lüge gewesen. Karl hatte die Wahrheit gestern Nacht erst in meinem Gesicht gesehen. Betrunken von dem Chaos, das ich hinunterstürzte, um am Morgen danach für den Rausch zu bezahlen. Aber es war wie beim Alkohol: Wenn ich dabeiblieb, würde meine Toleranzschwelle höher werden, und die Gewissenskater würden verschwinden. Ich würde an genau dem Ort enden, dem ich mit allen Kräften fernbleiben wollte.

»Dein Rat wäre also?«, fragte ich vorsichtig.

»Ruf ihn nicht an! Wenn er sich später drüber beschwert, war es meine Entscheidung. Es wird dir nicht passen, den Eindruck zu erwecken, dass ich das entschieden habe, aber so modern Benicio in mancher Hinsicht ist – er ist auch altmodisch genug, dass es ihn nicht weiter überraschen wird, wenn du dich dem Urteil von jemandem beugst, der älter und, ja, ein Mann ist.«

Ich konnte nur schnauben. Die Spur eines Lächelns erschien in Karls Augen, aber seine Lippen erreichte es nicht.

Er sprach weiter. »Du beteiligst dich an diesem Einbruch wie geplant. Danach erzählen wir Benicio, was ihr gefunden habt. Wenn ihr allerdings nichts findet und die Gang vorhat, diesen Angestellten wirklich zu verhören, dann lass es mich unauffällig wissen, und ich sage Benicio Bescheid.«

»Ich kann dir Namen und Adresse simsen.«

Er zögerte.

»SMS«, sagte ich. »Auf dein Handy.«

»Ah. Ja. Natürlich.«

Ich versuchte nicht zu lächeln. So technologiekundig Karl auch war, die SMS-Funktion hatte er noch nie verwendet. Für ihn hatte das Telefon nur in einer Richtung zu funktionieren, etwa um Hotelzimmer zu reservieren oder einen Kontaktmann zu befragen. Und wenn er irgendwo anrief, war seine eigene Nummer immer unterdrückt.

»Wenn du Benicio anrufst«, fuhr ich fort, »solltest du Lucas auch Bescheid sagen, einfach der Vollständigkeit halber. Er hat drum gebeten, dass ich ihn auf dem Laufenden halte, für den Fall, dass irgendwas schiefgeht.«

»In Ordnung. Also …«

Mein gangeigenes Handy klingelte.

»Tut mir leid«, sagte ich, während ich es von der Anrichte nahm. »Wahrscheinlich Jaz.«

»Jaz?« Er sprach es aus, als handelte es sich um ein Fremdwort.

»Jasper. Der …«

»Junge.«

»Er wollte sich mit mir treffen …«

»Das bezweifle ich absolut nicht.«

Ich warf ihm einen Blick zu. »Ich meine damit nicht, dass er …« Okay. Doch, natürlich war genau das der Grund, warum Jaz sich mit mir treffen wollte. Ich meldete mich.

»Hey.«

»Faith?« Es war Guy. »Ist Jaz bei dir?«

»Äh, nein. Ich hab ihn nicht mehr gesehen, seit er und Sonny zu diesem Auftrag verschwunden sind. Ist er noch nicht zurück?«

»Doch. Vor ungefähr einer Stunde. Dann sind sie zu sich nach Hause gefahren, weil sie sich für den Abend vorbereiten wollten. Ich hab anzurufen versucht, weil ich ihnen sagen wollte, sie sollten früher kommen, aber es geht keiner dran.«

»Na ja, also, Jaz’ Handy ist vorhin mal … runtergefallen.«

»Ich hab noch mit ihm telefoniert, nachdem du weg warst, und es hat tadellos funktioniert. Und Sonny geht auch nicht an seins. Ich mache mir Sorgen. Jaz kann ein bisschen dünnhäutig sein, und ich weiß, dass er nicht gerade glücklich war darüber, dass er heute Abend nicht dabei ist, aber meine Anrufe zu ignorieren …«

»Selbst wenn er’s täte, Sonny würde drangehen.«

»Ich versuch’s noch bei den anderen, und dann fahre ich vielleicht mal zu ihrer Wohnung.« Er zögerte. »Wenn ich das mache, könnte ich ein zweites Paar Augen brauchen, falls du Zeit hast.«

Etwas in meiner Brust zog sich zusammen. Wenn Guy einfach »ein zweites Paar Augen« bräuchte, könnte er ja auch einen von den anderen rekrutieren. Dass er mich fragte, bedeutete, er wollte etwas, was die anderen nicht bieten konnten: einen Chaosmelder.

Er fürchtete, dass Jaz und Sonny etwas zugestoßen war.

»Natürlich«, sagte ich, wobei ich dafür sorgte, dass meine Stimme fest blieb. »Ruf mich an, ich komme hin.«

Ich drückte auf die Austaste und ließ mich aufs Sofa fallen. Karl fragte nicht, was passiert war – er gehörte nicht zu den Leuten, die es vermeiden, Gespräche mitzuhören, oder so tun, als hätten sie nichts gehört.

»Vielleicht sind sie einfach in einer Gegend, wo sie keinen Empfang haben«, sagte ich. In Miami. Sehr wahrscheinlich. »Oder irgendwo, wo der Empfang blockiert ist, in einem Restaurant oder so. Ja, das wird es sein. Guy kann manchmal ein bisschen paranoid werden.«

»Gar kein schlechter Zug bei einem Anführer, vor allem wenn es um die Sicherheit seiner Gefolgsleute geht.«

Mein Handy klingelte wieder. Guy, der sich zurückmeldete. Er hatte bei Bianca und dann bei Rodriguez angefragt, der mit Tony und Max zusammen war. Keiner hatte Jaz oder Sonny seit dem letzten Treffen gesehen oder gesprochen. Guy gab mir eine Adresse. Ich versprach, in zwanzig Minuten dort zu sein.

 

Das Gebäude, in dem Jaz und Sonny wohnten, entsprach dem, was ich erwartet hatte: ein ordentlich instand gehaltener aufzugloser Wohnblock in einer Gegend, die sich noch an der Grenze zwischen zweifelhaft und gefährlich hielt. Sie hätten sich etwas Besseres leisten können, aber die Bleibe erfüllte ihren Zweck, und die beiden verbrachten wahrscheinlich nicht viel Zeit hier.

Leute, die finanziell schwierige Phasen durchgemacht haben, reagieren in der Regel auf eine von zwei Arten, wenn sich das Blatt wendet. Manche geben das Geld aus, so schnell sie können, und gönnen sich alles, auf das sie zuvor verzichten mussten. Die anderen sind vorsichtig und sorgen dafür, noch etwas übrig zu haben, wenn der Zustrom wieder abreißen sollte. Zunächst hätte man Jaz und Sonny der ersten Kategorie zugeordnet, aber sie waren offensichtlich nicht so sorglos, wie sie wirkten, zumindest Sonny nicht.

Die Sicherheitsvorkehrungen entsprachen dem Gebäude: ordentlich, aber nicht spektakulär. Guy knackte mühelos die Wohnungstür. Als wir eintraten, wappnete ich mich für das Schlimmste. Ich hatte mir zwar eingeredet, die beiden seien einfach telefonisch nicht zu erreichen, aber ich dachte ständig an ihre Begegnung mit den Kabalenschlägern. Diese Typen hatten sich Jaz und Sonny nicht grundlos ausgesucht. Die beiden waren nicht nur die jüngsten Neuzugänge der Gang, sondern auch diejenigen Mitglieder, deren paranormale Kräfte am schwächsten waren. Und um realistisch zu sein – ein einziger Blick auf die beiden, und es war unverkennbar, dass sie ihre Meinungsverschiedenheiten lieber bei einem Bier als mit Hilfe eingeschlagener Schädel beilegten.

Also rechnete ich mit dem Anblick einer verwüsteten Wohnung, trat ins Wohnzimmer und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Ich hätte den Raum nicht gerade als aufgeräumt beschrieben, aber es gab keine Anzeichen für einen Einbruch oder einen Kampf. Ein Korb mit Schmutzwäsche wartete darauf, in die Münzwäscherei getragen zu werden. Sonny hatte seine Jacke aufs Sofa geworfen. Diverse Teile der Miami Sun lagen dort herum, wo sie gelesen und dann liegen gelassen worden waren. Im Spülbecken türmte sich Frühstücksgeschirr. Es sah aus wie bei mir zu Hause, wenn ich zu arbeiten hatte und nicht mit Besuchern rechnete.

Ich zog die Schuhe aus – eine Lektion von meiner Mutter, die mir zur zweiten Natur geworden war – und ging zu der winzigen Kochnische hinüber. Dort fand ich lediglich heraus, dass jemand Cheerios mochte und jemand anderes Froot Loops bevorzugte, und ich konnte vermutlich sogar erraten, wer welcher der beiden war. Ich lächelte und ging weiter in Richtung Schlafzimmer. Als ich in den Flur kam, trat ich in einen nassen Fleck im Teppich.

Ich wandte mich der offenen Badezimmertür zu. Das Licht war an, und ein Handtuch lag auf dem Boden. Auch mir ist es schon passiert, dass ich Handtücher auf den Boden werfe und liegen lasse – bei den Lektionen meiner Mutter war es weniger um Haushaltsführung als um Etikette gegangen. Aber es war auch Wasser auf dem Fußboden, und Spuren führten in den Flur, was nahelegte, dass jemand aus der Dusche gestiegen war und sich nicht abgetrocknet hatte.

Ich hörte das gleichmäßige Tröpfeln von Wasser – die Dusche tropfte. Kleidungsstücke lagen auf dem Deckel der Toilette – Jaz’ Sachen von vorhin. Ich hob das Handtuch auf. Trocken und flüchtig zusammengefaltet. Unbenutzt. Jemand war hastig aus der Dusche gestiegen, hatte tropfnass das Badezimmer verlassen und …

Und was?

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Keine aufblitzenden Visionen. Als ich die Augen wieder öffnete, waren sie auf den Waschtisch gerichtet, und dort sah ich Jaz’ Brieftasche, den Schlüsselbund, das Handy und ein paar Münzen. Er hatte seine Taschen ausgeräumt, bevor er die Hosen auszog.

Ich öffnete die Brieftasche. Führerschein, ein paar Kundenkarten, drei Zwanzigdollarscheine, ein Zehn- und zwei Fünfdollarscheine.

Wohin konnte Jaz so hastig gegangen sein, dass er sein Telefon, die Schlüssel und die Brieftasche zurückgelassen hatte?

Ich kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Es war doch Jaz, der impulsive Jaz. Sonny konnte angerufen haben, und er hatte einen Satz aus der Dusche gemacht, mit ihm geredet, sich gesagt »trocken genug«, irgendwas angezogen und war dann ausgegangen, um etwas zu essen, im Vertrauen darauf, dass Sonny ja ein Handy und Geld haben würde.

»Faith?«

Guy kam ins Bad, ein Handy und einen Schlüsselbund in der Hand. »Das hier hab ich unter Sonnys Jacke gefunden.«

Ich starrte auf die Schlüssel hinunter. »Aber die Wohnungstür war doch abgeschlossen, oder?«

»War sie auch.«

Wir gingen zusammen zur Balkontür hinüber. Sie hatte ausgesehen, als sei sie geschlossen, aber jetzt stellten wir fest, dass sie nicht weit genug zugezogen worden war, um ins Schloss zu fallen – als habe jemand sie hastig hinter sich zugemacht.

Ich sah hinaus. Die Sonne war vor über einer Stunde untergegangen. Riskant, wenn man über den Balkon einbrechen wollte, aber nicht unmöglich.

Ich warf einen Blick auf Guy. »Das Geld. Ihr Anteil von gestern …«

»Nach der Sache letztes Mal haben sie das meiste davon bei mir im Safe gelassen. Jeder von ihnen hat zweihundert Dollar genommen.«

In Jaz’ zurückgelassener Brieftasche hatte ich achtzig Dollar gesehen, was – nach dem Mittagessen und den Taxifahrten – bedeutete, dass nichts fehlte. War jemand auf der Suche nach mehr Geld eingebrochen? Aber wer hatte denn wissen können, dass wir den Raubüberfall durchgezogen hatten? Benicio hatte ich nicht davon erzählt. Ein Spion innerhalb der Gang … außer mir? Nicht ganz unmöglich. Aber warum dann nicht abwarten, bis die beiden zu dem für heute Nacht geplanten Einbruch verschwunden waren? Es sei denn, der Diebstahl wäre weniger wichtig als die Botschaft, die er vermittelte.

Und diese Botschaft wäre?

Ich sah mich in der leeren Wohnung um und versuchte mein hämmerndes Herz unter Kontrolle zu bekommen. Keine Visionen plus keine Chaosschwingungen gleich kein Chaos. Ich versuchte mich mit diesem Mantra zu beruhigen und machte mich daran, Guy bei seiner Nachforschung zu helfen.

Trotz des ersten Eindrucks – die Wohnung war durchsucht worden. Die Eindringlinge hatten die Sachen sorgfältig wieder in die Schränke gestopft und alle Schubladen geschlossen, aber man brauchte nur einen Blick ins Innere zu werfen, um zu wissen, dass jemand nach etwas gesucht hatte. Nach dem Geld? Vielleicht.

Als wir fertig waren, versuchte ich es mit einer gründlicheren Chaossuche. Ich fing tatsächlich ein paar Visionsfetzen auf, aber als sie klarer wurden, stellte ich fest, dass es alte Bilder waren und frühere Mieter zeigten: ein verprügeltes Kind, eine Verabredung, die mit einer Vergewaltigung endete. Bilder, die sich später wieder aus meinem Unterbewusstsein hervorschlängeln würden, um mich zu foltern, die chaosbedingte Erregung vor dem Hintergrund blanken Entsetzens, die richtige Mischung für schlaflose Nächte voller Selbstquälereien.

Im Augenblick musste ich mich auf Sonny und Jaz konzentrieren, und in keiner der Visionen tauchten sie auf.

»Vielleicht ist es nicht chaotisch genug, dass ich’s aufschnappen könnte«, sagte ich. »Vielleicht gibt es eine … logische Erklärung.«

Wir verfielen in Schweigen; wir wussten beide, wie unwahrscheinlich das war.

»Der Einbruch heute ist natürlich verschoben«, sagte Guy schließlich. »Du hast also den Abend frei. Ich gehe zurück in den Club für den Fall, dass sie noch auftauchen.«

»Kann ich helfen?«

»Geh nach Hause und ruh dich aus! Mit etwas Glück ruft Jaz dich an. Wenn nicht, kommen wir morgen noch mal her, vielleicht kannst du ja doch irgendwelche Spuren finden, wenn du ein bisschen Abstand gewonnen hast.«