Hope

Von den Besten lernen

Karl wartete, bis der Gang draußen leer war, dann schlüpften wir aus dem Zimmer. Er führte mich nach links und ging schneller, als sich hinter der Ecke am anderen Ende des Gangs Stimmen näherten.

Wir verbrachten die nächsten zehn Minuten damit, einen Spaziergang durch die Chefetage des Cortez-Hauptquartiers zu machen – deren Sicherheitsvorkehrungen wahrscheinlich nur noch von denen der wichtigsten Regierungsgebäude übertroffen wurden –, und niemand bemerkte es.

Wir fanden uns mühelos wieder in unsere angestammten Rollen. Karl als der immer geduldige, immer unterhaltsame Lehrer, der nicht durch Vorträge, sondern durch Beispiele unterrichtete. Ich als die lernbegierige Schülerin, die alles und jedes aufsog, sowohl den Unterricht als auch das Chaos, das stetige unterschwellige Summen, das mein Herz zum Hämmern brachte, die Gedanken aber klar ließ.

Ich sah zu und machte mir in Gedanken Notizen. Achtete darauf, wie er unweigerlich voraussagen konnte, wo eine Überwachungskamera angebracht sein würde. Beobachtete, wie geschickt er Leuten aus dem Weg ging – nicht etwa indem er hastig einen Bogen um sie machte, sondern indem er sich im richtigen Moment abwandte, so dass sie nur seinen Rücken zu sehen bekamen und vorbeigingen, mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt und in der selbstverständlichen Annahme, dass er hierher gehörte.

Wenn wir zwischen zwei Gruppen gerieten, die sich von beiden Seiten näherten, dann entschied er sich immer dafür, an den Anzugträgern vorbeizugehen und nicht an den Büroangestellten. Er nahm die Schultern zurück, und sein elastischer Gang wurde zu einem selbstgefälligen Stolzieren, während er etwa zu mir sagte: »Und da links stehen die Fotokopiergeräte …«

Sich der Aufmerksamkeit eines Managers statt einer Sekretärin auszusetzen kam mir zunächst vor wie die riskantere Lösung, aber bald begriff ich. Die Büroangestellten kannten die Namen und Gesichter, sie konnten mühelos eine Anfrage zu Jones in der Buchhaltung hinunterschicken und würden dann wissen, dass Karl hier nichts verloren hatte. Aber die Managertypen? Die warfen einen kurzen Blick auf einen weiteren Mann im Anzug, der einen Neuzugang herumführte, und gingen davon aus, dass alles seine Ordnung hatte.

Wir bogen um eine weitere Ecke und fanden uns in einem langen schmalen Gang voller unbeschilderter Türen wieder.

Karl beugte sich zu mir herunter und murmelte: »Das hier sieht nun nach einem Ort aus, wo sie ein paar stehlenswerte Sachen aufbewahren könnten. Aber welche Tür?«

Ich sah mir jede davon im Vorbeigehen an. »Lagerräume, aber nichts Wichtiges. Nicht vertrauliche Akten, Putzmittel, Abstellräume …«

Ich blieb vor einer Tür mit zwei Schlössern stehen. »Ah, hier ist was.«

Karl warf mir einen Seitenblick zu. »Meinst du?«

»Du nicht?«

»Ich würde drauf wetten.«

»Zwanzig Dollar.«

Ein kleines Lächeln. »Zwanzig Dollar, abgemacht.«

Er warf nicht einmal einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass niemand kam – sich nähernde Schritte hätte er schon von weitem gehört. Er knackte die beiden Schlösser, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein.

»Büromaterial?« Ich trat in den Raum. »Unmöglich. Es muss noch irgendwas anderes sein. Sie verwenden dieses Zeug zur Tarnung.«

»Ein guter Gedanke, aber wenn es hier irgendwas Wertvolleres gäbe, wären nicht nur Schlösser an der Tür. Ich glaube, mehr als das hier findest du nicht. Diebstahl von Büromaterialien ist ein ernsthaftes Problem jedes Unternehmens.«

»Typen, die eine Viertelmillion im Jahr verdienen, klauen« – ich griff in die nächststehende Schachtel – »Filzschreiber?«

»Nicht einfach irgendwelche Filzschreiber.« Er nahm ihn mir aus der Hand und wies schwungvoll auf die Beschriftung. »Offizielle Cortez-Corporation-Filzschreiber.« Er schob ihn mir in die Tasche. »Zum Andenken.«

Schachteln mit gravierten silbernen Kugelschreibern – wahrscheinlich Geschenke für Kunden – standen neben denen mit Filzschreibern, aber Karls Blick glitt über sie hinweg; er wusste, wenn er mir irgendetwas von Wert gab, würde ich ein schlechtes Gewissen haben. Ein Filzschreiber, damit konnte ich leben – und jedes Mal, wenn ich ihn verwendete, nachträglich noch einen kleinen Stoß erinnertes Chaos genießen.

»Ich nehme an, jetzt schulde ich dir zwanzig Dollar«, sagte ich, als wir den Raum wieder verließen.

»Ich wollte ein Gentleman sein und mir das Hab’s-dir-doch-gesagt verkneifen.«

»Es gibt wohl nichts Wertvolles auf dem gesamten Stockwerk, oder?«

»Alle wirklich wichtigen Akten, die seltenen Formelbücher und Inhaberbonds liegen wahrscheinlich irgendwo in einem gepanzerten Gewölbe. Aber hier drin ist etwas von einem gewissen Wert.«

Er zeigte auf eine Tür, an der wir gerade vorbeigegangen waren. Sie war so unscheinbar wie die anderen, ihr glatter Knauf ließ annehmen, dass sie nicht einmal ein Schloss besaß.

»Ha, ha«, sagte ich.

Seine Brauen stiegen in die Höhe. »Du zweifelst an mir?«

»Nie im Leben.«

Er nahm mich an den Schultern und schob mich zur Tür. Als ich noch einen guten halben Meter von ihr entfernt war, fing ich ein verräterisches Aufblitzen auf.

»Sicherheitsformel.« Ich sah mich nach ihm um. »Woran hast du das gemerkt?«

»Das mit der Formel? Einfach so ein Gefühl. Aufmerksam gemacht hat mich eine weniger geheimnisvolle Vorrichtung. Siehst du den Metallstreifen da rund um den Türrahmen? Das ist irgendeine Version von elektronischer Schließvorrichtung, wahrscheinlich mit dem Ding da verbunden.« Er zeigte auf einen schmalen Schlitz neben der Tür. »Wir sollten allmählich zurückgehen.«

 

Wir waren gerade um die letzte Ecke vor dem Wartezimmer gebogen, als sich von der anderen Seite her zwei Männer näherten; einer schlenderte ein paar Schritte hinter dem anderen her und machte keinerlei Anstalten, sich dem schnellen Schritt des vorderen anzugleichen.

Einen Moment lang dachte ich, der erste der beiden sei Benicio. Er hatte den gleichen untersetzten Körperbau, das dunkle Haar und die runde Gesichtsform, aber als er näher kam, stellte ich fest, dass das dunkle Haar von weniger Grau durchzogen und das Gesicht weniger zerfurcht war.

Der Mann hinter ihm war etwa zehn Jahre jünger und ebenfalls lateinamerikanischer Abstammung, aber größer und gut gebaut. Ich sah Ähnlichkeiten zwischen den beiden, aber der ältere Mann hatte ein Durchschnittsgesicht, das fast nichtssagend wirkte, während der jüngere jeden verdrehten Hals gerechtfertigt hätte, wobei ich mir Mühe gab, das Halsrecken nicht zu offensichtlich zu machen.

»Suchen Sie nach uns?«, fragte Karl im Näherkommen. »Bitte entschuldigen Sie – Sie haben die Toiletten einfach zu gut versteckt.«

Die Lüge kam seelenruhig heraus, in einem Ton, der aller Welt mitteilte, dass es ihm im Grunde vollkommen egal war, ob man ihm glaubte oder nicht.

Karl streckte dem älteren Mann die Hand hin. »Karl Marsten.«

»Hector Cortez. Dies ist mein Bruder Carlos.«

Carlos ignorierte Karl und nahm stattdessen meine Hand. »Ich würde jetzt ja hoffen, dass die wunderschöne junge Dame Hope Adams ist, aber das wäre wohl zu viel erwartet.«

Ein blitzendes Lächeln, das ebenso charmant gemeint war wie die Worte, aber beide hatten etwas Öliges an sich, das mir gegen den Strich ging.

Hector und Carlos Cortez also, zwei von Lucas’ drei Halbbrüdern. Ich hatte mich gefragt, ob Benicio uns selbst abholen oder jemand anderen schicken würde. Wenn es um die Beziehungen der Kabalen zu Werwölfen oder Vampiren ging, würde jede Nuance von der ganzen Firma vermerkt und analysiert werden.

Es war noch keine zehn Jahre her, seit die Werwölfe sich der größeren paranormalen Welt wieder angeschlossen hatten. Nach der Art, wie Karl behandelt worden war, betrachtete man sie mancherorts immer noch mit einer Mischung aus Neugier und Nervosität. Nicht jeder war glücklich darüber, dass Benicio Kontakt zu Jeremy Danvers, dem werwölfischen Alpha, aufgenommen hatte. Dass Benicio seine Söhne schickte, um uns abzuholen, war ein kleiner Schritt rückwärts, aber politisch vielleicht die klügste Vorgehensweise.

»Karl. Hope.«

Schritte kamen hinter uns näher, und als wir uns umdrehten, sahen wir Benicio vom anderen Ende des Gangs her auf uns zukommen, Troy im Schlepptau.

»Diese Besprechungen enden doch nie pünktlich, stimmt’s? Kommen Sie, wir unterhalten uns in meinem Büro.«

Als wir Benicio folgten, konnte ich mir das Lächeln nicht verkneifen. Es war ein geschickter Schachzug gewesen. Wenn Benicio Karl persönlich in Empfang nahm, konnte ihm niemand den Vorwurf machen, er habe es dem werwölfischen Botschafter gegenüber an Respekt fehlen lassen. Aber diejenigen, die es nicht gern sahen, dass Benicio den Alpha – auf dem Umweg über dessen Stellvertreter – als Gleichgestellten behandelte, konnten jetzt sagen, dass Benicio schließlich seine Söhne geschickt hatte. Nach der zufälligen Begegnung im Gang war es einfach eine Frage der Höflichkeit gewesen, sich ab sofort selbst um uns zu kümmern. Wieder so eine Lektion, die ich mir merken musste.

 

Benicio führte uns durch einen kleinen Empfangsbereich und schickte Troy dann in ein Nebenzimmer.

Wir dagegen betraten etwas, bei dem es sich nach den Fotos auf dem Schreibtisch zu urteilen unverkennbar um Benicios privates Büro handelte, obwohl es nicht viel größer war als unser Wartezimmer von vorhin. Nichtsdestoweniger war es fraglos der beste Raum des ganzen Gebäudes, mit einem atemberaubenden raumhohen Fenster, das den Blick über die Biscayne Bay rahmte.

»Sie sind bestimmt hier, um über mein Arrangement mit Hope zu reden«, sagte Benicio, während er uns Sessel anbot. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob es so klug war, sie mit herzubringen, wenn sie gerade verdeckt arbeiten soll.«

»Nein?« Karl machte es sich in seinem Sessel bequem. »Dann werden Sie ihre Mission wahrscheinlich abbrechen müssen.«

Meine Knie wurden starr, bevor ich mich setzen konnte. Ich warf einen Blick zu Karl hinüber in der Gewissheit, dass er mich nur hatte mitkommen lassen, weil er wusste, dass dies das Ende meines Auftrags bedeuten konnte.

»Haben Sie sie auf dem Weg zu mir jemandem vorgestellt?«, fragte Benicio.

»Natürlich nicht. Ich habe lediglich mich als Repräsentanten des Rudels vorgestellt – außer Ihren Söhnen gegenüber, die von selbst darauf gekommen sind, wer Hope ist. Ich gehe davon aus, dass sie diskret sein werden.«

Ich entspannte mich. Karl mochte vielleicht wirklich gehofft haben, auf diese Weise meinem Job ein Ende machen zu können, aber er hatte nichts getan, das mich in Gefahr hätte bringen können.

»Ich nehme an, Sie wollen sich Hope bei der Begleichung dieser Schuld anschließen?«, erkundigte sich Benicio.

»Ich erwäge es.«

Und das war alles. Keine Beschuldigungen im Zusammenhang mit nachträglich abgeänderten Abmachungen. Es war, als hätten beide Männer anerkannt, was passiert war, und sich stillschweigend darüber verständigt, das Stadium unproduktiver Schuldzuweisungen und Vorwürfe zu überspringen und zum Geschäftlichen zu kommen.

»Aber zunächst«, fuhr Karl fort, »möchte ich wissen, was Sie Hope gegenüber verschweigen.«

Benicio ging zu einem Tisch, auf dem Gläser und ein Krug mit Eistee standen. Zeitschinderei? Oder ein Manöver, das Karl behutsam an Manieren erinnern sollte?

Ich nahm den Tee an, Karl tat es nicht.

Benicio reichte mir mein Glas und setzte sich mit seinem eigenen wieder hin. »Wenn Sie sich damit auf die Probleme beziehen, die Hope Troy gegenüber erwähnt hat, dann sind wir noch mit dem Nachverfolgen beschäftigt.« Er sah zu mir herüber. »Haben Sie inzwischen Details erfahren können?«

»Ich habe es gestern versucht, bei den Leuten, die mir ursprünglich davon erzählt haben. Sie versicherten mir, es wäre alles unter Kontrolle und ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen. Ich werde es noch mal versuchen, sobald es geht.«

»Gibt es da noch etwas?«, fragte Karl Benicio.

»In dieser Sache haben wir nichts verschwiegen, und insofern – nein, es gibt nicht noch etwas. Ich versichere Ihnen, dieser Auftrag ist genau der, den ich Hope gegenüber beschrieben habe.«

Ihre Blicke hielten einander fest. Ich versuchte die Schwingungen aufzufangen, entdeckte aber nichts, das den Eindruck hätte erwecken können, dass Benicio log. Aber natürlich – wenn er sich über meine Kräfte im Klaren war, würde er nicht so dumm sein, verräterische Gedanken auch nur Gestalt annehmen zu lassen.

Nach einer kurzen Pause sagte Benicio: »Wenn meine Versicherung Ihnen nicht reicht, Karl, dann bedenken Sie doch bitte, dass die Cortez-Kabale mit dem Werwolfrudel auf besserem Fuß steht als jemals zuvor und ganz sicher auf besserem Fuß als alle anderen Kabalen. Das ist ein Vorteil, den ich mir erhalten möchte. Ich würde nichts gewinnen, wenn ich ihn aufs Spiel setzte, und genau das täte ich, wenn ich absichtlich einen Angehörigen des Rudels täuschte.«

Ein Moment des Überlegens, dann sagte Karl: »In diesem Fall will ich mit rein. In Anbetracht all dieser Behauptungen seitens der Gang und ihrer offensichtlichen Feindseligkeit der Kabale gegenüber werden Sie mir wahrscheinlich zustimmen, dass Hopes Aufgabe gefährlicher werden könnte, als Sie erwartet hatten.«

»Vielleicht.«

»Ich nehme an, Sie haben ihr einen Peilsender mitgegeben? Wahrscheinlich irgendwo in den Ausweisen, die Sie ihr beschafft haben?«

Ich sah scharf auf und zu den beiden hinüber. Benicio nickte.

»Gut«, sagte Karl. »Ich möchte, dass dieser Sender mit GPS zu orten ist. Ich will außerdem, dass Hope einen Panikknopf bekommt, dessen Signal an mich geht. Tarnen Sie das Ding als irgendwas, das eine junge Frau ständig mit sich herumtragen könnte: eine Münze, einen Spiegel, Lippenstift, irgendwas, das nicht verdächtig wirkt.«

»Einverstanden.«

»Und ich möchte Ihre Zusage, dass sie, sollte ich zu irgendeinem Zeitpunkt das Gefühl haben« – ein Blick zu mir herüber – »sollten Hope und ich zu irgendeinem Zeitpunkt das Gefühl haben, dass sie unmittelbar in Gefahr ist, diesen Auftrag abgeben kann, und die Schuld als beglichen gilt.«

Ich rechnete damit, dass Benicio jetzt Einwände machen würde, denn schließlich konnte uns nichts davon abhalten, jederzeit zu behaupten, dass ich mir gefährdet vorkam. Aber er wiederholte einfach nur: »Einverstanden.« Vielleicht vertraute er mir. Oder vielleicht hatte Karl recht, und Benicio wusste, dass ich aus dieser Mission mehr herausholte als nur die Befriedigung, eine Schuld beglichen zu haben.

Benicio und Karl erörterten die Details. Dann telefonierte Benicio mit der technischen Abteilung, um uns mit den von Karl verlangten Geräten ausstatten zu lassen.