Lucas

1

Manchen Leuten ist nicht mehr zu helfen. Sie haben sich selbst eine Grube gegraben, bei der kein Seil mehr lang genug ist, um sie herauszuziehen, und in solchen Fällen muss ich sagen: »Es tut mir leid. Es gibt nichts, das ich da tun könnte.«

Ich hatte die Akte des Schamanen auf dem Schreibtisch liegen, seine Telefonnummer stand darauf, ich konnte ihm also mitteilen, dass ich ihn in seiner Auseinandersetzung mit der Nast-Kabale nicht vertreten würde. Aber ich verabscheute es, nein zu sagen, und so sortierte ich stattdessen Büroklammern. Ich sortierte sie erst der Größe und dann der Farbe nach, während ich auf das Klicken von Paiges Tastatur lauschte, das von der anderen Seite der Trennwand her zu mir herüberdrang.

Warum hatten wir eigentlich so viele verschiedene Büroklammern, obwohl der größte Teil der Schreibarbeit elektronisch erledigt wurde? Lag es einfach daran, dass ein Büro ohne Büroklammern undenkbar war? Oder dienten sie einem höheren Zweck – ein Spielzeug, mit dem man sich beschäftigen konnte, wenn man eigentlich hätte arbeiten sollen?

Ich wischte die Klammern zur Seite. Die Sache hinauszuschieben würde sie nicht einfacher machen.

Als ich gerade nach dem Telefon griff, leuchtete das Lämpchen für den externen Anschluss auf. Rettung in letzter Minute – das Klingeln hallte zwei Mal durch den stillen Flur, bevor ich ein verschlafenes »Guten Morgen. Cortez-Winterbourne Investigations« zu hören bekam. Savannah, unsere achtzehnjährige Pflegetochter und zeitweise Büroassistentin.

Ich wartete darauf, dass entweder mein Apparat oder der von Paige zu klingeln begann, aber das Lämpchen blinkte weiter. Wenn es für Adam war, dann müsste Savannah mittlerweile klar sein, dass er nicht da war. Wenn wir nicht gerade etwas Aufregendes zu erledigen hatten, tauchte er nicht vor halb zehn auf.

Savannah erschien in der Tür. »Der Anruf ist für Sie, Sir«, sagte sie mit einem Knicks.

Ein tiefer Seufzer flatterte von der anderen Seite der Trennwand herüber.

»Hey, er hat gesagt, ich müsste meinen Sekretärinnenpflichten in einem ›förmlicheren‹ Stil nachkommen.«

»Er hat ›Geschäftsstil‹ gesagt«, antwortete Paiges körperlose Stimme.

»Irgend so was halt.«

Savannah kam auf mich zugestiefelt und setzte sich auf die Schreibtischkante, wobei sie sich den Rock über die Knie hochschlug. Es war ein schwieriges Unterfangen gewesen, sie aus ihren Jeans herauszubekommen, aber die Eitelkeit hatte gesiegt, als ihr aufgegangen war, dass die Bürokleidung ihr stand. Mittlerweile fühlte sie sich wohl in den Sachen und in ihrer Rolle. Zu sehr, wie wir fürchteten.

Als Savannah beschlossen hatte, sich nach der Highschool ein Jahr freizunehmen und für uns zu arbeiten, waren wir davon ausgegangen, dass sie sich begeistert fürs College entscheiden würde, sobald sie erlebt hatte, wie langweilig der Büroalltag sein konnte. Aber der Abgabetermin für die Bewerbung rückte näher, und die Formulare lagen unberührt auf ihrer Kommode.

Als ich nach dem Hörer griff, sagte sie: »Übrigens, es ist dein Dad.«

Mein Magen vollführte den vertrauten Purzelbaum. Paige spähte um die Trennwand herum, grüne Augen und ein skeptischer Mund, gerahmt von langem dunklem Haar. Sie scheuchte Savannah in den Gang hinaus, folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Beider Schritte entfernten sich den Flur entlang, bis ich mit dem Summen des Computers und dem blinkenden Lämpchen allein war.

Ich griff nach dem Wasserglas und trank einen großen Schluck. Das Wasser war von gestern – lauwarm und abgestanden. Ich nahm einen zweiten Schluck und ging dann ans Telefon. »Guten Morgen, Papá.«

»Lucas. Dies ist doch nicht zu früh, oder?«

»Ich bin schon seit acht da.«

»Gut, gut. Wie geht es Paige?«

Und in diesem Stil ging es noch fünf Minuten lang weiter. Wie ging es Paige? Wie ging es Savannah? Wie gingen die Geschäfte? Bewährte sich das neue Büro? Ich hatte keinerlei Einwände dagegen, Konversation mit meinem Vater zu machen, aber ich wusste genau, dass dies lediglich die Einleitung zu etwas weniger Erfreulichem war. Er hatte um Punkt neun Uhr pazifischer Zeit angerufen – zur frühesten vertretbaren Uhrzeit. Das konnte bedeuten, dass es wichtig war, oder lediglich, dass er bei mir diesen Eindruck erwecken wollte. Bei meinem Vater war beides gleich wahrscheinlich, und beides bot Anlass zur Besorgnis.

»Der Grund für den Anruf …«, begann er schließlich.

»Ja, Papá?«

»Es geht um Hope Adams. Ich habe ihr einen einwöchigen Arbeitsauftrag angeboten – sie soll sich eine ortsansässige Gang ansehen – und sie hat angenommen.«

Er sprach weiter, erklärte die genauen Umstände in sehr viel mehr Details, als notwendig waren, sorgte dafür, dass die eigentliche Botschaft ankam: Er wolle nichts vor mir verbergen, was höchstwahrscheinlich bedeutete, dass er es tat.

»Hat dies etwas mit dem Gefallen zu tun, den Hope und Karl dir schulden?«, erkundigte ich mich.

»Sie schulden mir absolut nichts, Lucas. Ich habe das schon einmal gesagt. Dies ist ein eigenständiges Projekt.«

»Und Hope fühlt sich in keiner Weise verpflichtet oder unter Druck gesetzt?«

»Nicht im Geringsten. Sie sitzt mit mir hier im Flugzeug. Wenn du möchtest, kannst du gern mit ihr reden.«

Ich schnippte eine vereinzelte Büroklammer auf den Haufen zurück. »Das Ganze klingt sehr plötzlich. Ich habe gar nichts von Rebellionsversuchen unabhängiger Gangs gehört.«

»Es ist bisher eine kleine Organisation, aber sie sind da, und dies ist ein Problem, das man am besten im Keim erstickt.«

»Vor allem dann, wenn dieses Im-Keim-Ersticken zugleich eine Gelegenheit darstellt, eine junge Expisco-Halbdämonin unter die Lupe zu nehmen, ihre Kräfte kennenzulernen und ihr die Vorteile einer Kabalenanstellung nahezubringen?«

Er lachte. »Ich werde jetzt nicht behaupten, dass ich Hope nicht liebend gern einstellen würde. Aber ich werde mich hüten, sie dem Rat abspenstig machen zu wollen.«

»Vielleicht solltest du dann besser mit Paige reden. Sie ist die Delegierte, also ist sie auch diejenige, die in diesem Fall informiert werden …«

»Das ist genau das, was du hoffentlich tun wirst.«

Es gab keinen Grund, dies über mich zu erledigen – sein Verhältnis zu Paige war sogar sehr gut. Was wollte er also wirklich?

»Machst du dir Sorgen wegen diesem Job, Lucas?«, fragte er nach einer kurzen Pause.

»Ehrlich gesagt, ja. Hope ist eine fähige junge Frau, aber dies könnte sich zu einer gefährlichen Situation auswachsen, vor allem wenn sie ohne Karls Rückhalt arbeitet.«

»Karl dabeizuhaben wäre natürlich ideal gewesen, aber er ist nicht greifbar, also …« Er machte eine Pause. »Ich weiß. Warum kommt ihr nicht einfach nach Miami, Paige und du? Erledigt das, was ihr heute zu erledigen habt, und ich schicke euch heute Abend den Jet. Dann könnt ihr Hope unterstützen und direkt ein Auge auf die Dinge haben.«

Ich rieb mir den Nasenrücken und schob zugleich die Brille nach oben. Ich war geradewegs hineingelaufen.

Mein Vater hatte derlei schon bei früheren Gelegenheiten getan – angerufen und mir einen Fall präsentiert, dem meine Beteiligung hätte »zugutekommen« können. Und wenn ich mich darauf einließ, würde er mich während meines Aufenthalts in Miami pausenlos drängen, an Vorstandssitzungen teilzunehmen, ihn zu Abendessen mit Geschäftspartnern zu begleiten, meine Meinung über die neuesten Änderungen in der Organisationsstruktur abzugeben … alles, um mich in das Kabalendasein zu integrieren.

»Das wird nicht nötig sein«, sagte ich. »Du wirst ihr ja sicherlich einen direkten Zugang zur Sicherheitsabteilung der Kabale geben. Ich kann ihre Arbeit auch von hier aus verfolgen.«

»Für den Fall, dass du es dir noch anders überlegst …«

»Sage ich dir Bescheid. Und wenn du mir einen Moment geben könntest, damit ich Paige dazuholen kann – wir würden wirklich gern mit Hope reden.«