Hope

Pläne

Um ein Uhr setzte ein Taxi mich vor dem Easy Rider ab. Ich wollte schon am Nebeneingang klingeln, als ich hinter mir jemanden rufen hörte.

»Warte, Faith, ich mach auf!«

Schritte donnerten den Gehweg entlang. Ich drehte mich um und sah Rodriguez auf mich zutraben; er schwenkte die Schlüssel.

Rodriguez war das jüngste Mitglied, nicht älter als zwanzig. Ein vollkommen durchschnittlich aussehender Typ, aber er hatte etwas so Reizendes an sich, dass ich ihn am liebsten mit irgendjemandes kleiner Schwester verkuppelt hätte. Vielleicht war es das scheue Lächeln oder das Haar, das ihm in die Augen fiel, oder die großen dunklen Augen selbst, deren Blick abglitt, sobald er meinen traf. Am Tag zuvor hatte er mir mein Telefon ausgehändigt und mir den Umgang damit Schritt für Schritt beschrieben und erklärt, geduldig, aber nie herablassend, und in verständlichem Englisch – ein himmelweiter Unterschied zu den meisten Techniktypen, mit denen ich zu tun gehabt hatte.

»Guy wird dir bestimmt bald eigene Schlüssel geben«, sagte er, während er aufschloss. »Bis dahin – wenn du klingelst und keiner aufmacht, ruf bei Guy auf der Büronummer an! Du hast sie im Kurzwahlverzeichnis. Mittags ist er meistens schon da.«

Er hielt mir die Tür auf, schoss dann an mir vorbei zum Tastenfeld der Alarmanlage und gab eine Zahlenfolge ein.

»Die hier ist an, auch wenn schon jemand da ist, und Guy will, dass wir sie wieder einstellen, sobald wir drin sind.«

»Okay.«

»Frag ihn nachher nach dem Code! Den müsste er dir eigentlich gleich geben, auch wenn du noch keinen Schlüssel hast.« Er drückte auf die letzte Taste und hielt einen Moment inne, bevor er die Klappe schloss. »Dabei fällt mir was ein – du hast doch ein bisschen Erfahrung mit Alarmanlagen, stimmt’s? Mal mit einem Dieb zusammen gewesen oder so was?«

Ich nickte.

»Wenn du einen Moment Zeit hast, könntest du dir was ansehen? Jaz und Sonny sind bei einem Auftrag letzte Woche an was geraten, bei dem sie total aufgeschmissen waren. Es war was, das ich noch nie gesehen habe, und ich hab nicht mal im Netz was dazu gefunden. Sie haben mir ein paar Skizzen davon mitgebracht.«

»Ich kann es mir ansehen. Wenn es neu und hightech ist, habe ich’s wahrscheinlich mal gesehen, kann es aber fast sicher nicht knacken.«

»Nein, das wäre schon okay. Erst mal bloß identifizieren.«

Wir waren drei Schritte weit gekommen, als sein Handy klingelte. Er warf einen Blick auf die Nummer, zögerte und gab mir dann zu verstehen, ich solle warten.

»Ist es da?«, fragte er ins Telefon. Eine Pause, dann verlagerte er sein Gewicht auf den anderen Fuß und schob die freie Hand in die Tasche. »Okay, ich bin so weit. Was steht drin?« Wieder eine Pause. Dann ein scharfes Auflachen. »Hast ihn nicht aufgemacht? Sag mal, willst du mich umbringen, Nina? Mach schon, mach schon!« Ein entschuldigender Blick in meine Richtung, dann wurden seine Augen weit. »Qué fuerte! Im Ernst? Okay, okay. Ich muss los. Wir reden heute Abend.«

Er grinste, als er das Gespäch beendete. »Das war meine Schwester. Meine Aufnahmebestätigung von der Uni kam verspätet, und ich war mir sicher, dass ich’s nicht geschafft habe, und …« Er errötete. »Und du hast keine Ahnung, wovon ich rede, und ich fasele daher wie ein Trottel. Tut mir leid.«

»Nein, das ist toll. Du bist angenommen, wenn ich das recht verstanden habe. Welche Universität?«

Das Grinsen leuchtete wieder auf. »California Institute of Technology.«

»Caltech? Wow. Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke. Ich muss ein paar Anrufe erledigen. Oh, und diese Alarmanlage – bist du später noch greifbar?«

»Soviel ich weiß. Wir sehen’s uns an.«

Er wies mich in die Richtung der Büros und war gerade verschwunden, als eine Seitentür sich öffnete. Bianca. Ich wartete, bis sie mich eingeholt hatte.

Als wir durch die matt erleuchteten Räume gingen, erkundigte sie sich, ob ich mich wohlgefühlt hatte bei der Arbeit mit Jaz und Sonny. Aus ihrem Tonfall schloss ich, dass sie selbst sich bei dem Gedanken daran absolut nicht wohlgefühlt hatte – ein ganz neu rekrutiertes Mitglied, das mit dem Zweit- und Drittneuesten losgeschickt worden war. Ich versicherte ihr, dass alles glattgegangen sei.

Wir trafen Sonny dabei an, dass er in einer fast dunklen Nische im Club einen Roman las.

»Wenn du dir die Augen ruinierst, wirst du uns heute Abend nicht viel nützen, Sonnyboy«, sagte Bianca, während sie ihm das Licht einschaltete. Dann wandte sie sich an mich. »Wenn Sonny hier ist, kann Jaz ja nicht weit sein.«

»Im Lagerraum mit Guy«, sagte Sonny.

Bianca schob die Lippen vor und setzte sich in Bewegung. Ich folgte ihr und überließ Sonny seinem Roman.

Es war unverkennbar, dass sie Guys Freundschaft mit Jaz nichts abgewinnen konnte. Glaubte sie, Jaz wäre hinter ihrem Job her? Jeder Mensch hätte sehen können, dass seine Ambitionen nicht weiter reichten als bis zu einem sicheren Platz in der Gang mit möglichst wenig Verantwortung, den er behalten würde, so lange er konnte.

Sie fragte nach unseren Plänen fürs Mittagessen. Wer den Vorschlag dazu gemacht habe. Ob ich mit Jaz und Sonny oder mit Jaz allein gehen würde. Ich begann mich zu fragen, ob Guy irgendwelche Regeln über Verabredungen zwischen Gangmitgliedern aufgestellt hatte und Bianca jetzt hoffte, Jaz in Schwierigkeiten bringen zu können.

Im Lagerraum war Jaz dabei, Kartons zu zählen, und Guy hakte sie auf einer Liste ab. Jaz erzählte von irgendeinem Erlebnis, und Guy lachte. Es kam mir alles sehr normal vor, nur dass Guys Lachen etwas an sich hatte, das zu herzlich und zu laut war, zu sehr darauf aus, sein Vergnügen an der Geschichte zu zeigen. Und etwas an der Art, wie er Jaz ansah, und der Art, wie er den Blick anderswohin richtete, als er feststellte, dass wir ihn beobachteten.

Ein Lachen und ein Blick bewiesen gar nichts, aber ich begann mich zu fragen, ob es für Biancas scheinbare Eifersucht nicht einen ganz anderen Grund gab. Und das könnte auch erklären, warum sie sich so angelegentlich danach erkundigt hatte, ob Jaz Interesse an der Neuen gezeigt hatte. Aber als Jaz mich sah, signalisierte mir sein Grinsen, dass Guys Interesse, wenn es denn existierte, sehr einseitig war.

»Ist es …?« Jaz sah auf die Uhr. »Scheiße. Tut mir leid, Faith. Ich hatte eigentlich vor, an der Tür zu sein.« Er wandte sich an Guy. »Ist es okay, wenn ich den Rest schwänze, Boss? Ich hab ein heißes Date.«

Guy murmelte etwas davon, dass die ganze Arbeit wieder an ihm hängen blieb, scheuchte uns aber gut gelaunt aus dem Raum. Vielleicht interpretierte ich in ein Lachen und einen Blick wirklich zu viel hinein.

Wir hatten das Lager gerade verlassen, als Tony an uns vorbeistürzte und Jaz scherzhaft mit dem Ellbogen gegen die Wand rammte.

»Rod hat seinen Studienplatz gekriegt«, sagte er zu Guy und Bianca. »Max und ich gehen Pizza holen.« Er sah zu uns herüber. »Für euch beide auch?«

Jaz zögerte, und ich sah ihm den Zwiespalt an. Ich rief mir ins Gedächtnis, weshalb ich hier war. Ich konnte mir die Gelegenheit, in Gesellschaft der Gang herumzuhängen und die Rede auf die Kabalen zu bringen, nicht entgehen lassen.

»Äh, klar.« Ich sah zu Jaz hinüber. »Wenn das okay ist.«

»Wir sind dabei«, sagte er und senkte dann in meine Richtung die Stimme. »Holen wir’s morgen nach?«

Ich lächelte. »Ganz entschieden.«

 

Wir aßen in der Bar. Max und Tony hatten noch einen zusätzlichen kleinen Tisch herangezerrt, sodass wir alle in der Nische Platz hatten. Die beiden hatten auch die Pizza besorgt, und Guy stiftete ein Twelvepack Bier, das er aus dem Lagerraum holte und sorgfältig in den Büchern eintrug. Jaz verriet mir, dass das Bier von einer ortsansässigen Kleinbrauerei stammte, und zog Guy damit auf, dass der »zur Abwechslung mal das gute Zeug« rausrückte.

Was Rodriguez’ Erfolgsgeschichte anging, so hatte Guy über seine Collegehoffnungen Bescheid gewusst, und er wirkte jetzt aufrichtig erfreut für ihn. Er machte lediglich ein paar Scherze darüber, dass Rodriguez ihm gefälligst einen Sonderpreis für technische Beratung machen sollte, wenn er erst an der Universität war.

»Und wann fangen wir mit dem Wetten an, wie schnell du wieder hier bist?«, fragte Tony, während er ein Pizzadreieck aus der Schachtel nahm. »College war schon cool, aber als ich mir dann einen Monat lang den Arsch in einer Bürokabine plattgesessen hatte, war ich dermaßen schnell wieder draußen – in so einem Anzugjob gibt’s keine Pizza-und-Bier-Partys mehr.«

»Wenn Rod mal weg ist, ist er ganz weg«, sagte Jaz. »Wenn die Uni das nicht schafft, schaffen’s die kalifornischen Mädchen.« Er zwinkerte Rodriguez zu und trank einen Schluck Bier. Seine funkelnden Augen fingen meinen Blick auf. »Obwohl ich es persönlich ja eher mit den Ostküstenmädchen habe.« Er lehnte sich zurück. »Aber in der Frage, warum einer das hier aufgeben sollte, um zu studieren – da bin ich komplett außen vor.«

»Du sprichst mir aus der Seele«, sagte Tony, während er seine Flasche hob. »Auf das gute Leben! Keine Sorge, Guy, ich gehe so schnell nirgendwohin.«

Auch Jaz und Sonny hoben ihre Flaschen und schlossen sich an.

»Na toll«, murmelte Guy. »Im Herbst sitzen Bee und ich dann mit den ganzen Abhängern da.«

Ich wandte mich an Max. »Gehst du denn auch?«

Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich mache ich wie Rod nach Cali. Habe ich jedenfalls vor. Nicht ans College allerdings. Ich habe da was zu erledigen.«

»Five foot two, eyes of blue«, sang Tony. »Seine Freundin ist letztes Jahr nach L.A. gezogen.«

»Ex-Freundin.«

»Yeah, so ex, dass du ihr immer noch jeden Tag zehn Textnachrichten schickst.«

Max wurde rot unter der Sonnenbräune. »Wir sind befreundet, okay? Ja sicher, Jess arbeitet in L.A. …«

»Bei der Nast-Kabale«, warf Tony ein, unter dem Zischen und den Buhrufen von Jaz und Sonny.

»Nur bis sie ihren MBA-Abschluss hat«, sagte Max.

»Wie wenn man seine Ausbildung beim Militär macht. Du kannst drauf wetten, die lassen sie nicht einfach so gehen, wenn sie fertig ist.«

Max zuckte die Achseln. »Das weiß sie. Sie wird ihre Schulden bezahlen.«

»Und zahlen und zahlen und zahlen«, sagte Jaz.

Tony nickte. »Schluck es einfach, Kumpel. Sie ist drin, sie kommt nicht wieder raus.«

Max’ Augen blitzten, aber Guy schnitt ihm das Wort ab.

»Es reicht. Max weiß, wie ich drüber denke.« Er warf ihm einen Seitenblick zu. »Wenn Jess das schafft, alle Achtung, aber Kabalen verschenken keine Studiengänge. Solange sie das weiß und vorsichtig ist …« Er hob die Schultern. »Vielleicht wird’s ja was.«

Er reichte die Pizzaschachtel herum, während Jaz und Tony sich jeweils ein zweites Bier nahmen, und mir war klar, dass die Unterhaltung sich auf ein anderes Thema verlagern würde.

»Wenn man für eine Kabale arbeitet, zahlen die einem also das College?«, fragte ich.

»Uh-oh!« Guy drohte Max mit dem Finger. »Siehst du, was du angerichtet hast?«

»Hey, ich hab doch nicht davon …«

»Ja«, sagte Guy, während er sich zu mir umdrehte. »Eine Kabale zahlt für deine Universitätsausbildung und verpflichtet dich im Gegenzug dazu, jahrelang Sklavenarbeit in ihren Büros abzuleisten. Wenn du zu dem Schluss kommst, dass du dir die Ausbildung lieber doch nicht von Mommy und Daddy bezahlen lassen willst, Faith, dann können wir drüber reden, deinen Aufenthalt hier zu verlängern. Du wärst besser dran, wenn du dir die Ausbildung hier verdienst, als wenn du dich einer Kabale verpflichtest. Für mich zu arbeiten ist sehr viel ungefährlicher.«

»Und macht außerdem mehr Spaß«, sagte Jaz.

Sonny vergrub das Gesicht in den Händen und stöhnte.

»Du siehst, wenigstens ein Mitglied dieser Gang verlässt mich nicht, um aufs College zu gehen.« Guy stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und beugte sich vor. »Im Ernst, Faith, das Leben in der Kabale ist nicht das, was du anstreben solltest. Max’ Freundin ist Schamanin. Schamanen gibt es an jeder Straßenecke. Wenn sie vorsichtig ist, kann sie nach ein paar Jahren wahrscheinlich wirklich kündigen – ohne böses Blut und ohne dass die ein Kopfgeld aussetzen. Aber eine Expisco-Halbdämonin?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn die dich in die Finger kriegen, lassen sie dich nie wieder weg. Angestellt auf Lebenszeit.«

»Aber wenn ich so wertvoll bin, werden sie mich auch entsprechend bezahlen, oder?«

»Hast du eine Preisvorstellung? Die angemessene Entschädigung für deine Freiheit? Deinen freien Willen? Das ist es nämlich, was sie dir abverlangen werden. Ja, sie werden bezahlen – sie werden für dich nicht als menschliches Wesen bezahlen, sondern als Ware, weil das alles ist, was du für sie …«

»O Gott, bitte nicht!« Tony ließ den Kopf auf die Tischplatte fallen und drehte ihn, um mich anzusehen. »Musstest du ihn unbedingt auf das Thema bringen?«

Guy warf ihm einen Kronkorken an den Kopf. »Okay, okay. Es ist Rodriguez’ Feier. Keine Kabalendiskussion mehr. Das ist ein Befehl. Ihr habt noch exakt zehn Minuten zum Rumalbern, und dann gehen wir zum Dienstlichen über und reden über heute Abend.« Zu mir gewandt fügte er hinzu: »Wenn du diese Unterhaltung weiterführen willst, für heute können wir es vergessen, aber sprich mich morgen drauf an! Denk über eine Stelle bei einer Kabale nicht nach, bevor du nicht mit mir geredet hast, okay?«

»In Ordnung.«

 

Nach genau zehn Minuten Essen, Trinken und wechselseitigem Aufziehen ging Guy zu unseren Plänen für den Abend über. Ich hatte mit einer umfangreicheren Version dessen gerechnet, was wir am Vorabend getan hatten: vielleicht einen Spirituosenladen ausräumen oder einen Transport überfallen – beides Benicio zufolge ganz gebräuchliche Gangaktivitäten. Angesichts dessen, was Guy stattdessen vor uns ausbreitete, wurde mir klar, warum diese Gang Benicio trotz ihrer geringen Größe so viel Kopfzerbrechen verursachte.

Der Plan war verwegen. Es gab kein anderes Wort dafür. Raffiniert, aufwendig und atemberaubend in seiner Unverfrorenheit.

Bianca verteilte vorbereitende Aufgaben an uns. Ich wurde auch dieses Mal Jaz und Sonny zugeteilt; wir sollten die Ausrüstung bereitstellen. Während alle anderen gingen, rief Guy mich zurück.

»Diese Targets heute Abend«, sagte er, als die anderen fort waren. »Das ist deine Sorte Leute, oder?«

Oberschichtangehörige, das war es, was er damit meinte. Ich erwog, mich gleich an Ort und Stelle von ihnen zu distanzieren: Ja, natürlich, aus diesen Kreisen stammte ich, aber es waren nicht meine Leute, schon längst nicht mehr. Es wäre jedoch zu einfach gewesen, diese Lüge zu durchschauen. Also nickte ich und sagte einfach: »Das stimmt.«

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Irgendwelche Tipps, die du mir geben könntest? Mögliche Probleme, die ich übersehen habe?«

Nachdem ich die Pläne studiert und seine Vorgehensweise rekapituliert hatte, erwähnte ich eine Idee, die ihm dabei helfen konnte, mit der Sache durchzukommen.

»Kluges Mädchen. Darauf wäre ich nicht gekommen.«

»Die anderen sind vielleicht nicht so begeistert. Es reduziert den Gewinn.«

Er lächelte. »Dann stört es dich vielleicht gar nicht, wenn ich den Einfall für mich reklamiere?«

»Absolut nicht.«