Das GPS-Signal führte zu einem schmalen Durchgang zwischen einer kunsthandwerklichen Galerie und einer Textilboutique. Etwa auf halber Strecke stand eine Seitentür einen Spalt- breit offen.
Paige war bereits am anderen Ende des Durchgangs, unter einer Tarnformel verborgen. Ich hätte es vorgezogen, die offene Tür mit ihr zu erörtern, aber stattdessen wich mir Griffin nicht von der Seite. Bis auf weiteres hatte ich einen Tarnzauber über ihn gesprochen, aber vollkommen war dieser nicht – was entweder an Griffins Größe lag oder daran, dass es mir bei der Hexenmagie ganz einfach an Kompetenz fehlte.
»Ich hoffe, Sie halten es nicht für einen glücklichen Zufall, dass man die Tür da aufgelassen hat«, sagte Griffin jetzt.
»Im Licht dessen, was heute passiert ist – glaubt Carlos, mein Vater würde ihm persönlich zu Hilfe kommen?«
»Vielleicht. Oder dass Sie es tun.«
Das hatte ich mir noch gar nicht überlegt.
Die Tür stand nur einen Spaltbreit offen, so, dass es durchaus auch nach einem Zufall aussehen konnte – als hätte jemand nicht gemerkt, dass er sie nicht ganz zugezogen hat. Dahinter konnte sich beinahe alles befinden, von einem einzelnen Attentäter bis zu einer kleinen Armee.
»Ich gehe da rein«, sagte Griffin.
Ich packte ihn am Arm. »Sie sind den üblichen Verletzungen gegenüber vielleicht unempfindlich, aber Sie sind nicht unsterblich.«
»Vielleicht nicht, aber es ist mein Job.«
Er versuchte sich loszumachen; ich hielt ihn fest. »Es muss ja noch einen anderen Eingang geben.«
Ich brach meinen Tarnzauber, um zu Paige hinüberzugestikulieren, als die Tür aufflog und ich ihn hastig wiederherstellte.
Eine dunkle Gestalt trat ins Freie und zog die Tür fast ganz hinter sich zu – so als sei etwas eingeklemmt, um zu verhindern, dass sie ins Schloss fiel.
Der Körperbau passte zu Carlos; das dunkle Haar tat es ebenfalls.
Mein Hirn wollte sich auf die Schlussfolgerung stürzen und protestierte, als ich die Erlaubnis dazu verweigerte. Ich durfte hier nicht einfach irgendetwas Unbewiesenes voraussetzen.
Griffin war in den Schatten zurückgewichen. Seine Augen waren schmal geworden; er tat offensichtlich das Gleiche wie ich: beobachtete zweifelnd die Gestalt und versuchte sich über sie klarzuwerden. Aus dieser Entfernung sahen wir nur, dass der Mann dunkelhaarig und glatt rasiert war wie Carlos.
Ich sah zu Paige am Ende des Durchgangs hinüber. Als der Mann in unsere Richtung sah, beugte sie sich vor und spähte um die Ecke, wobei sie ihren Tarnzauber brach. Dann kam ein überdeutliches Achselzucken – womit sie mir sagen wollte, dass auch sie die Identität des Mannes nicht bestätigen konnte.
Jetzt hob er ein Funkgerät an den Mund, schien dann zu dem Schluss zu kommen, dass eine Unterhaltung in dem stillen Durchgang möglicherweise keine gute Idee war, und drehte sich wieder zur Tür um. Bevor er sie hatte öffnen können, war Griffin den Durchgang entlanggestürzt, hatte ihn am Kragen gepackt und gegen die Wand geschleudert, wobei er ihm zugleich die Hände im Rücken festhielt.
Eine Sekunde später war mir klar, dass dies nicht Carlos war. Das wütende Fauchen meines Bruders hätte den ganzen Durchgang erfüllt. Stattdessen versuchte sich der Mann lediglich zu wehren, trat um sich und tat sein Möglichstes, um sich zu befreien. Griffin riss ihn herum, sodass ich im Näherkommen sein Gesicht sehen konnte.
Er war vielleicht halb so alt wie Carlos. »Wer sind Sie?«, fragte ich zuerst auf Englisch, dann auf Spanisch.
Er blickte mich lediglich an, sah dann zu Paige hin, als sie auf uns zukam, und schließlich zu Griffin hinauf. Griffin schüttelte den Kopf, um mir zu signalisieren, dass er ihn nicht kannte. Die Situation hatte etwas von einem Stummfilm. Niemand sagte ein Wort, jeder war sich vollkommen im Klaren darüber, dass die Person, die der junge Mann über Funk hatte anrufen wollen, möglicherweise nahe genug war, um uns zu hören.
»Lucas?« Paige war es, die das Schweigen schließlich brach. »Kennst du ihn? Ist er bei der Kabale deines Vaters angestellt?«
Griffin warf ihr einen wütenden Blick zu, und selbst ich fragte mich, was sie da eigentlich trieb … bis ich sah, wie der Blick des jungen Mannes zu mir zurückzuckte und seine Lippen sich zu einem fast lautlosen »Oh, Scheiße« verzogen.
Die nächsten Worte, die er dann sagte, standen auf der Beliebtheitsskala der unmittelbar nach dem Erwischtwerden gemachten Aussagen gleich nach »Ich war’s nicht.«
Er sagte: »Es war nicht meine Idee.«
»Wo ist Carlos?«, fragte ich.
»Wenn ich das wüsste …« Er klappte mit einem Zähneklicken den Mund zu; sein Gesichtsausdruck wurde ebenso verschlossen. »Ich will Immunität.«
Griffins Faust traf mit einem dumpfen Geräusch sein Kinn. Paige wandte das Gesicht ab, um ihr Zusammenzucken zu verbergen.
»Mr. Cortez hat dich was gefragt«, sagte Griffin.
»Ich … ich will Immunität.«
Aus der Forderung war eine Bitte geworden; Blut tropfte ihm über das Kinn. In Anbetracht der Tatsache, dass er überhaupt noch sprechen konnte, musste der Schlag allerdings viel weniger heftig ausgefallen sein, als es ausgesehen hatte.
Ich deutete Griffin mit einer Handbewegung an, er solle sich zurückhalten – reines Theater, er hatte gar nicht vor, den Jungen noch einmal zu schlagen, wenn es zu vermeiden war. Dann nickte ich dem jungen Mann zu, er sollte weiterreden.
»Es ist alles schiefgegangen«, sagte er, während er in dem unnachgiebigen Griff etwas zusammenzusinken schien. »Er hat gesagt, es würde ganz einfach sein, aber jetzt ist das Mädchen tot, und …«
»Welches Mädchen?«, fragte Paige, bevor sie sich zurückhalten konnte. Ein entschuldigender Blick in meine Richtung. »Tut mir leid. Sie haben gesagt, das Mädchen ist tot, und …«
Er schüttelte den Kopf.
»Wo ist Carlos?«, wiederholte ich.
»Ich weiß …«
Der junge Mann verstummte und starrte mich an. Dann sackte er in Griffins Händen zusammen. Der Leibwächter zog ihn wieder auf die Beine, aber sein Kopf fiel zur Seite, und als Griffin eine Hand hob, glänzte sie nass in dem matten Licht des Durchgangs.
Etwas fuhr mir stechend in die Schulter. Dann ein zweiter Aufprall, diesmal in den Rücken, so hart, dass er mir den Atem verschlug und mich auf alle viere in den Kies schleuderte.
»Runter!«, brüllte Griffin, noch während er mir den Stoß versetzte.
»Paige!«
Ich sah ihr bleiches Gesicht, die Augen aufgerissen und verständnislos. Ich packte ihre Beine und riss sie nach unten. Die Kugel schlug einen Viertelmeter von Griffins Stiefel entfernt in den Boden und schleuderte eine Fontäne aus Dreck in die Höhe.
Ich streckte den Arm nach der Tür aus, aber Griffin hatte sie bereits aufgestoßen. Er griff nach mir, aber ich warf mich ins Innere, während ich ihm zubrüllte, er solle sich lieber um Paige kümmern. Dann rutschte ich über einen Teppichboden, spürte die Fasern unter der brennenden Wange, dann die Kollision meiner verletzten Schulter mit einem Schreibtischstuhl. Ich schleuderte ihn zur Seite und rappelte mich auf, zurück zu Paige, eben als Griffin die Tür zuschlug.
»Alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Ich habe bloß … es tut mir leid. Ich hab’s nicht gleich begriffen. Ein Scharfschütze?«
Griffin bestätigte es mit einem Grunzen, und sekundenlang blieben wir einfach dort, in dem matten Licht, in dem unser Atem das einzige Geräusch war. Wir befanden uns in einem kleinen Büro, ausgestattet mit Schreibtisch, Stuhl, Aktenschrank, Kaffeemaschine und sonst nichts.
Paige flüsterte etwas, und ich näherte mich ihr, um sie besser zu verstehen. Dann stellte ich fest, dass sie eine Formel wirkte.
»Keiner hier«, sagte sie, fast ohne die Stimme zu heben. »Ist er …? Dieser Junge. Ist er tot?«
»Glaube schon«, sagte Griffin.
»Können wir ihn reinholen? Um sicherzugehen?«
Griffin sah mich an.
»Bitte«, sagte ich.
Er winkte uns von der Tür fort, spähte durch einen Spalt, riss sie dann auf, packte die Beine des Jungen und zerrte ihn ins Innere. Er trat den Holzkeil beiseite, der die Tür offen gehalten hatte, schlug sie zu und schob mit einem Klonk-Geräusch den Riegel vor.
Paige wirkte, und eine feurige Lichtkugel erschien über ihrer Hand.
Eine kurze Drehbewegung des Handgelenks, und die Kugel blieb über dem Jungen hängen, während sie ihn untersuchte. Der Schuss war durch die Brust gegangen.
Ich stellte mir vor, wie wir zu viert in dem Durchgang gestanden hatten. Hätte Paige sich in diesem Moment bewegt, wäre sie es gewesen, die diese Kugel abbekommen hätte. Und hätte ich sie nicht eine Sekunde später auf den Boden gerissen … Ich versuchte nicht daran zu denken.
Der junge Mann war tot. Während Paige ihm die Augen schloss, rief Griffin im Hauptquartier an und bestellte ein Sondereinsatzkommando zu unserem Standort, nicht ohne hinzuzufügen, dass sich in dem südlich angrenzenden Gebäude ein Scharfschütze befand.
Dann sah er auf den toten Jungen hinunter. »Wie geraten unsere Kids eigentlich in so einen Dreck rein? Wo sind ihre Eltern?«
Ich wusste, Griffin dachte dabei an seinen eigenen Sohn Jacob, der jetzt etwa im gleichen Alter gewesen wäre wie dieser junge Mann. Jacob hatte sich keiner Gang angeschlossen. Sein einziger Fehler war gewesen, sich eines Abends unter der Woche aus dem Haus zu schleichen, zu einer Zeit, als ein Mörder es auf die Kinder von Kabalenangestellten abgesehen hatte. Man hätte erwarten können, eine solche Tragödie hätte einen Vater veranlasst, sich eine andere Stelle zu suchen. Aber Griffin war geblieben, und seine Loyalität war unerschüttert.
Paige war sehr still geworden, und ich wusste, dass auch sie an Jacob dachte. Sie war es gewesen, die seine Leiche gefunden hatte, und sie hatte es nie vergessen. Dann straffte sie den Rücken, und ihr Blick schwenkte zu mir.
»Deine Schulter«, sagte sie. »Lass mich das sehen!«
In dem Durcheinander hatte ich das Stechen fast vergessen, das ich draußen in dem Durchgang gespürt hatte, bevor Griffin mich zu Boden schleuderte. Ich hob die Hand zur Schulter. Das Hemd war aufgerissen, und Blutfäden rannen mir über die Brust.
»Nur gestreift«, sagte ich. »Alles in Ordnung.«
»Natürlich. Bis du den Arm einsetzen musst und er dir mitten im Schlag wegbricht.«
»Wir haben keine Zeit. Wir müssen …«
»Ich wirke jetzt eine Heilformel, Cortez, und wenn ich Griffin bitten muss, dich so lange festzuhalten.«
Ich ließ sie wirken, während ich mich umsah und zu erraten versuchte, was der junge Mann hier getrieben hatte. Der Aktenschrank war abgeschlossen – ein Dieb hätte ihn offen gelassen. Der Papierkorb war leer. Das Büro war eine Spur unordentlich, sah aber nicht aus, als sei es durchwühlt worden.
Paige ging zu der Tür in der Innenwand hinüber. Ich schluckte ein »sei vorsichtig« hinunter.
Als sie nach der Klinke griff, warf sie einen Blick über die Schulter und flüsterte: »Keine Sorge, ich werde vorsichtig sein.«
Ich brachte ein schiefes Lächeln zustande.
Sie reckte den Hals, um einen Blick in den Nebenraum werfen zu können, und schloss die Tür dann wieder. »Das ist die Galerie.«
Wie ein Kunstdieb hatte der junge Mann nicht ausgesehen. Wie gut standen die Chancen, dass wir vollkommen unabhängig von den anderen Ereignissen dieser Nacht auf Paranormale stießen, die gerade einen Einbruch durchführten? An genau der Stelle, von der aus Carlos telefoniert hatte?
Griffin verschwand in die Galerie, um sie zu durchsuchen. Er war noch keine Minute fort, als wir ein Krachen hörten.
Paige spähte durch die Tür, aber der Verursacher war nicht Griffin gewesen – er stand in der Mitte des Raums und sah zur Decke hinauf. Das Geräusch war aus dem Stockwerk über uns gekommen.
Ich schob mich an Paige vorbei. Die Galerie bestand aus einem einzigen Raum mit zwei Ausgängen: dem Haupteingang und der Tür zum Büro. Eine dritte Tür, taktvoll hinter einer Stellwand verborgen, stand halb offen und führte zu einem winzigen Waschraum.
Paige sah nach oben. »Ein Lagerraum vielleicht? Aber wenn ja, wie kommen sie dran? Ich sehe keine Bodenluke, und ich habe in dem Durchgang keine zweite Tür gesehen. Gibt es überhaupt einen ersten Stock? Oder nur einen Dachboden?«
Ich rief mir den Weg ins Gedächtnis, auf dem wir gekommen waren.
»Es ist ein vollständiges Stockwerk mit Gittern vor den Fenstern. Ich glaube, neben der Eingangstür zur Galerie war noch eine Haustür. Wohnungen, nehme ich an.«
Wir sahen nach oben. Wenn über uns Wohnungen lagen, dann war mit Geräuschen zu rechnen.
»Die Frage bleibt trotzdem«, murmelte ich. »Warum ist er hier hereingekommen?«
Mein Blick glitt zu der offenen Waschraumtür hinüber.
Griffin sah mich an. »Zum Pinkeln? Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber …«
»Im höchsten Maß unwahrscheinlich, ich weiß.«
Der Waschraum war winzig und ungeschickt angelegt: Toilette und Becken waren einander gegenüber angebracht, und dazwischen blieb kaum Platz für die Knie. Unzweckmäßig, aber notwendig – denn dem Eingang unmittelbar gegenüber befand sich eine zweite Tür. Eine Schranktür mit einem Riegel daran.
Ich schob den Riegel zurück und öffnete die Tür – zu einem schmalen Gang mit einer Treppe am Ende.
Wir löschten die Lichtkugel. Ohne sie war es auf der Treppe stockfinster. Wir mussten uns die Stufen hinauftasten. Paige murmelte Ortungsformeln vor sich hin. Als wir das obere Ende erreichten und ihre Formeln niemanden fanden, der dort auf der Lauer lag, zündete sie die Leuchtkugel wieder an.
Wir standen auf einem von Türen flankierten Treppenabsatz. Als ich nach dem Knauf der Tür rechts griff, schob Griffin mich mit der Schulter aus dem Weg. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass dies in der Tat seine Aufgabe war – wenn ich verletzt wurde, würde man ihm die Schuld geben.
Griffin holte seine Waffe heraus, öffnete die Tür einen Spaltbreit und hielt inne, um zu horchen. Paige teilte ihm mit einer Handbewegung mit, dass sie eine Ortungsformel wirken konnte, wenn er sie nur etwas näher heranließe, aber er tat so, als hätte er sie nicht verstanden, stieß die Tür auf und trat vor, die Waffe erhoben.
Nachdem er sich in dem Raum umgesehen hatte, gestikulierte er zu uns nach hinten – wir sollten bleiben, wo wir waren. Als er sich wieder abwandte, warf ich einen Blick ins Innere und trat rasch zurück. Neben mir verspannte sich Paige, die Formel bereits auf den Lippen, aber ich schüttelte den Kopf. Was ich gesehen hatte, stellte keine Gefahr dar, es war lediglich etwas, dessen Anblick ich ihr gern erspart hätte. Aber selbstverständlich würde sie es sehen, das war nicht zu vermeiden, und so stieß ich die Tür weiter auf und hob eine Hand, um sie zu warnen.
Sie spähte über meine Schulter. Ich hörte ihren Atem stocken.
Die Tür gab den Blick in ein Schlafzimmer frei. Auf dem Bett lag eine junge Frau, nackt, Arme und Beine ausgestreckt und an die Bettpfosten gebunden, einen Gürtel um den Hals. Selbst von der Tür aus war unverkennbar, dass es keinerlei Sinn hatte, hineinzustürzen und es mit Erster Hilfe zu versuchen.