Ich zog meine Karte durch das Lesegerät am Lieferanteneingang und parkte das Motorrad im Hausflur. Dies war nicht die richtige Gegend, um eine 1929er Indian Scout draußen im Durchgang abzustellen. Auch Motorradwetter herrschte eigentlich noch nicht, aber Paige brauchte das Auto, und so hatte ich das Motorrad herausgeholt. Ich kann nicht behaupten, die Ausrede nicht mit Vergnügen genutzt zu haben.
Ich ließ den Helm auf dem Sitz liegen und schob die Brille zurecht. Aus Gründen der Bequemlichkeit gelten Kontaktlinsen als die bevorzugte Sehhilfe unter dem Helm, aber es war mir zu mühsam, sie für die kurze Fahrt einzusetzen und wieder herauszunehmen. Savannah belehrt mich gern, dass ich das Problem ganz einfach lösen könnte, indem ich die Brille dauerhaft gegen Kontaktlinsen eintausche. Daraufhin belehre ich sie, dass Kontaktlinsen meine Hornhaut reizen. Was gelogen ist. Die Brille vermittelt ein bestimmtes Image, eines, mit dem ich sehr gut leben kann. Gelegentlich erfordert das Ermitteln in paranormalen Verbrechensfällen mehr als die Anwendung einiger Defensivformeln, und ich habe mehr Zweikämpfe gewonnen, als ich naturgemäß hätte gewinnen sollen, einfach deshalb, weil mein Gegner nach einem einzigen Blick auf mich zu dem Schluss kam, dass der erste Schlag nicht von mir kommen würde.
Ein zweites Kartenlesegerät gestattete mir den Zugang zum Treppenhaus. Dann hinauf zu unserem Büro im ersten Stock, wo die Karte ein drittes Mal vonnöten ist. Ich bin mit vergleichbaren Sicherheitsvorkehrungen in kabaleneigenen Büros aufgewachsen, aber ich hatte Savannah und Adam schon des Öfteren fluchen hören, wenn sie nach ihren Karten suchten. Beschwert allerdings hatte sich noch niemand. Was das Gebäude anging, so befanden wir uns alle noch in den Flitterwochen.
Die Firma Cortez-Winterbourne Investigations hatte ihren Sitz früher in einem engen Gästezimmer, das eine Formalität wie die eines Firmennamens in unseren Augen kaum gerechtfertigt hätte. Es war dies eins der Themen gewesen, über die wir uns spätabends im Bett unterhielten: wie Paige eines Tages in der Lage sein würde, ihr Webdesign an den Nagel zu hängen, ich aufhören würde, gegen Honorar juristische Kleinaufträge anzunehmen, und wir stattdessen eine Kanzlei-cum-Detektei führen würden, die Paranormale unterstützte – in Vollzeit und von einem wirklichen Büro aus. Jetzt gab es Tage, an denen ich um das Gebäude herum zur Haustür ging, nur um einen Blick auf das Firmenschild dort zu werfen und mich zu vergewissern, dass all dies Realität war.
Vor fünf Jahren war ich ein frisch zugelassener Anwalt gewesen, stellungslos, ohne festen Wohnsitz, immer auf der Jagd nach Fällen von Ungerechtigkeit – in der Regel mit dem Erfolg, dass mir die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Niemand hatte sie nachdrücklicher zugeschlagen als eine vollkommen enervierende, sturköpfige und absolut bezaubernde junge Frau, die wild entschlossen war, ihre Ziehtochter ohne die Hilfe eines Magiers vor den Kabalen zu schützen. Nichtsdestoweniger, letzten Endes hatte ich den Fall bekommen. Ebenso die junge Frau.
Als ich die Tür im ersten Stock öffnete, stieg mir Kaffeeduft in die Nase. Ich blieb stehen, den Türknauf noch in der Hand. Es hätte niemand hier sein sollen. Paige war zu einem Termin gefahren. Savannah und Adam waren in Seattle und erledigten die Vorarbeiten für einen Fall.
Eine auf der Heizplatte vergessene Kanne hätte verbrannten Kaffee nach sich gezogen, aber dieser roch frisch. War Paige unerwartet früh zurückgekommen? Ich lächelte, als ich die Jacke auszog. Dann fiel mir der leere Parkplatz ein. Wenn das Auto nicht hier war, war Paige es ebenso wenig.
Ich bewegte mich vorsichtig auf die Teeküche zu. Ein Mann stand an der Kaffeemaschine, den Rücken zur Tür gewandt. Seine Rolex reflektierte das Licht, als er mit den Fingern gegen den Wassertank trommelte und darauf wartete, dass das Gerät seine Aufgabe zu Ende brachte. Er hätte in keinem Bankenviertel fehl am Platze gewirkt: maßgeschneidertes Hemd, gebügelte Hosen, glänzende Lederloafers. Makellos gepflegt, nicht eine Strähne dunkles Haar aus der Fasson geraten, nirgends ein Rasierschnitt oder eine rauhe Hautstelle. Ein Mann, den man mühelos für einen verweichlichten Büromenschen hätte halten können. Ebenso wie man mühelos hätte annehmen können, dass ich ihn überrascht hatte.
Ich wartete. Er nahm zwei auf der Kante stehende Kaffeebecher vom Bord und drehte sie um.
»Kaffeesahne?«, fragte er, ohne sich umzusehen. »Zucker?«
»Schwarz.«
»Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich mich selbst bedient habe.«
»Nicht im Geringsten. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich meine Auslagen für die von dir entworfene Schließanlage unseres Büros zurückverlange.«
Karl drehte sich um und schenkte mir ein kurzes Lächeln, das bei aller Klischeehaftigkeit mit dem Wort wölfisch am besten beschrieben war. »Was für ein Dieb wäre ich eigentlich, wenn ich ein System nicht knacken könnte, das ich selbst gestaltet habe? Aber wenn jemand anderes das schaffen sollte, hast du Anspruch auf Rückerstattung deines Geldes.« Er füllte beide Becher. »Oder hättest ihn, wenn du mich für meine Dienstleistungen bezahlt hättest.«
»Ich habe versucht zu zahlen. Du hast darauf bestanden, die Arbeit unentgeltlich zu tun. Im Austausch gegen ein noch ausstehendes Entgegenkommen, wie man annehmen muss. Wenn du willst, kann ich dir gleich jetzt einen Scheck ausstellen.«
»Nein, vielen Dank.«
Ich hätte wirklich lieber gezahlt. Karl Marsten war jemand, dem gegenüber ich mich nicht gern verpflichtet fühlte. Clayton hat irgendwann zu mir gesagt: »Karls oberste Priorität ist Karl. Seine zweitoberste auch. Und seine drittoberste ebenfalls. Dass er jetzt zum Rudel gehört, wird daran nichts ändern.« Womit er hatte sagen wollen, dass Karl durchaus ein loyaler Neuzugang des Werwolfrudels war, dass seine Loyalität aber nicht weiter reichte, als es in seinem eigenen Interesse lag. Ich ging davon aus, dass das Gleiche für sein Verhältnis zu mir galt. Solange ich ein nützlicher Verbündeter war, konnte ich ihm vertrauen … nicht allerdings, wenn es darum ging, die Türklingel zu bedienen.
»Ich nehme an, dieser Besuch hat etwas mit dem Auftrag zu tun, den mein Vater Hope gegeben hat?«
Er ließ den Löffel gegen die Wand seines Bechers klirren und händigte mir den zweiten Becher aus, bevor wir in mein Büro hinübergingen. Beim Geruch des Kaffees drehte sich mir fast der Magen um. Dass Hopes Name gefallen war, half nicht. Ich hatte die letzten beiden Tage damit verbracht, mich zu fragen, ob ich das Richtige getan hatte.
Ich bezweifelte nicht, dass es Anzeichen für bevorstehende Schwierigkeiten mit den Gangs gab, aber ich wusste, dass mein Vater noch etwas anderes bezweckte. Ich kam einfach nicht darauf, was es sein könnte und, wichtiger noch, ob es Hope in Gefahr bringen würde.
Sollte sein eigentliches Bestreben dabei gewesen sein, dass ich nach Miami kam, um sie zu beschützen – wie sorgsam hätte er dann die mögliche Gefahr abgeschätzt, bevor er ihr den Auftrag gab? War sie schon jetzt überfordert, während er abwartete, auf den panischen Anruf von ihr wartete, der mich nach Miami bringen würde? Etwas teilte mir mit, dass sie diesen Anruf nie tätigen würde, ganz gleich, wie übel die Dinge sich entwickelten.
Oder ging es bei alldem um Hope? War dies seine Methode, sie für die Kabale zu begeistern? Wenn das der Fall war, sollte ich etwas unternehmen? Hatte ich das Recht, etwas zu unternehmen?
Mein Vater hatte ein Händchen dafür, mich in unmögliche Situationen hineinzumanövrieren. Ob ich handelte oder nicht, ich konnte nur verlieren. Nur fürchtete ich, dieses Mal würde Hope diejenige sein, die verlor.
»Hope ist also wirklich in Miami«, sagte Karl, als wir uns setzten. »Ich war in Europa. Ich bin zurückgekommen, hatte in Philly geschäftlich zu tun und dachte mir, ich treffe mich mit Hope zum Mittagessen. Ihre Mutter hat mir erzählt, sie wäre in Fort Lauderdale und recherchierte irgendeine eilige Story. Als ich ›Florida‹ gehört habe, ist mir als Allererstes dein Vater eingefallen. Ich habe gehofft, mich zu irren.«
»Dann bist du nach Portland gekommen, um das zu überprüfen? Ich bin mir sicher, ein Anruf hätte es auch getan.«
»Ich hatte hier sowieso etwas zu erledigen.«
Fraglos etwas ganz Ähnliches wie das nicht existente geschäftliche Anliegen, dessentwegen er nach Philadelphia gefahren war. Aber Karls Privatleben ging mich nichts an, und ich war es höchst zufrieden, es dabei zu belassen.
Ich nahm einen Schluck von dem Kaffee. Stärker, als mir lieb war, und auf der Oberfläche trieben Kaffeekrümel. So verfuhr jemand, der nicht daran gewöhnt war, sich den Kaffee selbst zu machen.
»Dein Vater und ich hatten eine Abmachung«, sagte Karl. »Er wollte Hope nicht ansprechen, ohne mir vorher Bescheid zu sagen, und was wir ihm auch schuldeten, wir sollten es gemeinsam zurückzahlen.«
»Hat Hope davon gewusst?«
Er schüttelte den Kopf und stellte den Becher ab, ohne seinen Kaffee angerührt zu haben.
»Ich glaube nicht, dass mein Vater Hope einer wirklichen Gefahr aussetzen würde. Er weiß, dass sie unter dem Schutz des Rats steht, und er hat mich selbst auf dieses Arrangement aufmerksam gemacht, was nahelegt, dass er nichts zu verbergen hat. Ich habe den Auftrag mit ihnen beiden besprochen, und ich bin überzeugt, dass er ihren Gaben entspricht.«
»Was tut sie also?«
Sein Gesicht verfinsterte sich, während ich es ihm erzählte. Als ich fertig war, stieß er einen Fluch aus und saß dann einfach da, ohne dass sich ein Gesichtszug regte. Seine Kiefermuskeln waren so angespannt, dass ich, hätte ich ein werwölfisches Gehör besessen, vermutlich seine Zähne hätte knirschen hören.
»Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zu den Aktivitäten, die Hope für den Rat unternimmt«, sagte ich. »Außer vielleicht in der Größenordnung. Gegen ihre Arbeit für den Rat hast du keine Einwände – du warst derjenige, der sie dem Rat vorgestellt hat.«
»Das ist nicht das Gleiche.«
»Wenn du damit meinst, dass sie mit dieser Gang zusammen kriminelle Handlungen begeht, dann kann man sie dafür nicht verantwortlich machen …«
»Genau das meine ich.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nein, das kannst du auch nicht, aber ich bin mir nicht sicher, ob das auch für deinen Vater gilt. Wenn er Hope diesen Job verschafft hat in dem Wissen, was …« Er stand auf. »Ich gehe nach Miami. Mache der Sache ein Ende, bevor noch mehr passiert. Wo ist Hope?«
»Sag mir zuerst, was du vorhast, damit wir deinen Spielraum im Hinblick auf meinen Vater diskutieren können.« Bevor er widersprechen konnte, fuhr ich fort: »Als Mitglied des Rudels vertrittst du das Rudel. Alles, was du gegen meinen Vater unternimmst, wird als ein Unternehmen des Rudels gegen die Kabale interpretiert werden. Ist das der Eindruck, den du erwecken willst?«
Seine Lippen kräuselten sich, und er öffnete den Mund. Ich wusste, was er sagen wollte – dass er den Eindruck erwecken würde, der ihm gerade passte. Aber er beherrschte sich noch rechtzeitig, vielleicht weil ihm aufging, dass diese Einstellung nicht in seinem Interesse liegen konnte.
»Ich hole Hope da raus«, sagte er. »Das ist alles, was mich an der Sache interessiert. Wenn dein Vater und seine Leute sich nicht einmischen, braucht es dabei keinerlei Schwierigkeiten zu geben. Ich werde mich später mit ihm befassen – ein zivilisiertes Gespräch über zivilisierte Möglichkeiten, Hope diese Schuld abtragen zu lassen.«
»Wenn ich recht verstehe, geht es hier nicht nur um etwas, das sie meinem Vater schuldet. Sie tut dies aus freien Stücken, und du wirst möglicherweise feststellen, dass sie sich nicht so ohne weiteres davon abhalten lässt.«
»Oh, ich werde sie davon abhalten – und wenn ich sie nehmen und aus Miami raustragen muss.«
»Ah.«
»Und jetzt – wo kann ich sie also finden?«
Ich zögerte. Einerseits widerstrebte es mir, dass Karl auf meine Auskunft hin augenblicklich nach Miami reisen würde und ich nicht einmal wusste, warum er Hope unbedingt aus der Sache herausholen wollte. Aber mir war klar, eine Antwort würde ich nicht bekommen. Wenn ich ihm jedoch die Auskunft verweigerte, würde er trotzdem nach Miami fliegen und die Sache schlimmer machen, indem er auf eigene Faust nachforschte.
»Die Adresse der Wohnung habe ich nicht, aber die Gang arbeitet von einem Club namens Easy Rider aus.«
Er nickte, und in diesem Augenblick entdeckte ich Paige in der offenen Tür, noch im Mantel, die Hand erhoben, um an den Türrahmen zu klopfen. Sie begrüßte Karl, der ein paar ungeduldige Höflichkeitsfloskeln mit ihr austauschte, bevor er sich an ihr vorbeischob.
»Habe ich ihn gerade sagen hören, dass er Hope aus Miami wegholt, ob sie nun gehen will oder nicht?«
»Es hat ganz den Anschein, aber er war unverkennbar nicht in der Stimmung, es zu erörtern, und ich wollte nicht, dass er auf der Suche nach ihr ganz Miami abgrast.«
»Sollen wir sie anrufen? Sie warnen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das würde die Sache nur schlimmer machen. So ärgerlich er auch ist, ich verlasse mich darauf, dass er es wenigstens diskret macht.« Ich zögerte. »Aber wahrscheinlich sollten wir trotzdem unsere Terminkalender frei halten – nur für alle Fälle.«