Hope

Witterungs-Memory

Wir fuhren als Erstes zu Jaz’ und Sonnys Wohnung. Karl gab keine Erklärungen ab, aber ich wusste, er musste sich jetzt fragen, ob er sich von seinem ersten Besuch her richtig an Guys Witterung erinnerte; wahrscheinlich wollte er an die Stelle zurückkehren, wo wir ihn vor zwei Nächten getroffen hatten.

Die Wohnung sah genauso aus, wie wir sie zurückgelassen hatten.

Karl atmete ein. »Hier ist seither noch jemand anderes gewesen.«

»Ich glaube, Paige hat irgendwas davon gesagt, dass Lucas Tatortspezialisten zum Probennehmen hergeschickt hat – DNA, Fingerabdrücke …«

Er nickte und ging zu dem Sofa hinüber, auf dem nach wie vor die Jacke lag.

»Du hast gesagt, die hier gehört Sonny?«

Ich nickte.

Er roch an ihr, und mir wurde klar, dass dies der Grund unseres Hierseins war – dies waren die Gerüche, bei denen er sich sicher sein wollte.

»Ich hole dir irgendwas von Jaz.«

Er protestierte, sagte, er könne Jaz’ Witterung im Ausschlussverfahren herausfinden, aber ich rannte ins Schlafzimmer. Ich brannte darauf, irgendetwas zu tun, nachdem ich den ganzen Vormittag damit verbracht hatte, hinter anderen Leuten herzulaufen.

Im Schlafzimmer standen zwei Betten, und ein Plastikkorb diente als Wäschepuff. Mindestens achtzig Prozent der Schmutzwäsche waren auch tatsächlich in ihm gelandet.

Ganz oben lag das Hemd, das Jaz nach dem Überfall auf die Geburtstagsfeier getragen hatte. Als ich danach griff, sah ich ihn wieder vor mir mit den Augen, die vom Tequila funkelten, mit dem Alkohol in seinem Atem, als seine Lippen sich meinen näherten, seinen Händen, die sich gegen meine Seiten drückten, den sich schließenden Lidern, den tintenschwarzen Wimpern, die sich auf seinen Wangen bogen …

»Ist das da seins?«, fragte Karl von der Türe her.

Ich fuhr herum und hob das Hemd hoch, als wollte ich es ihm präsentieren, so dass es mein Gesicht verbarg. »Das ist seins.«

Er antwortete nicht. Als ich das Hemd sinken ließ, war er schon wieder weg. Ich nahm einen Rucksack aus dem offenen Schrank, stopfte das Hemd hinein und ging zu Karl. Er steckte die Jacke in ein anderes Fach des Rucksacks und nahm ihn mir dann wortlos aus der Hand.

 

Keiner von uns beiden sprach, als wir zum Auto gingen. Mir war unbehaglich bei dem Gedanken, dass ich ihn verletzt oder verärgert haben könnte, aber er war schon seit der Leichenhalle schweigsam gewesen. Jetzt nachzubohren würde ihm nur bestätigen, dass der Besuch in der Wohnung mir wirklich zu schaffen machte. Dass ich immer noch an die beiden dachte. An ihn.

Wir saßen im Auto, bis Karl schließlich sprach. »Sonny war auch im Lagerhaus.«

»Wahrscheinlich. Ich war noch zu neu, aber ihnen hat Guy vertraut. Er wird sie mitgenommen oder sie hingeschickt haben, damit sie irgendwas erledigen.«

»Ich meine gestern Abend. Sein Geruch war genauso stark wie der der beiden anderen Jungen.«

Mein Herz hämmerte. »Vielleicht haben sie ihn dort festgehalten.«

»Vielleicht.«

»Hast du noch irgendwas von … jemand anderem bemerkt?«

»Jasper? Nein.« Ein Zögern. »Es tut mir leid.«

 

Das Lagerhaus lag an der Strecke zu der Wohnung, in der Carlos aufgespürt worden war, und Karl wollte sich jetzt, nachdem er Proben von Sonnys Geruch hatte, noch einmal vergewissern, dass er wirklich dort gewesen war. Und er wollte nach einer Fährte suchen.

Es gab eine.

Wir rechneten damit, dass sie auf die Straße hinausführen und sich dort verlieren würde. Stattdessen führte sie in Bögen und Schlenkern durch Nebenstraßen und Durchgänge. Trotz aller Umwege war offensichtlich, dass Sonny ein bestimmtes Ziel angesteuert hatte und lediglich die belebten Straßen mied.

»Er will nicht gesehen werden«, sagte ich, als wir eine Lieferantenzufahrt entlanggingen. »Kannst du feststellen, mit wem er zusammen ist?«

»Mit niemandem.«

»Er ist allein? Dann muss er auf der Flucht sein.«

Karl wurde langsamer und sah sich über die Schulter nach mir um.

Ich spürte, dass meine Wangen heiß wurden. »Ich weiß, dass das nicht die einzige Erklärung ist, Karl. Er könnte …« Ich zwang mich dazu, das Eingeständnis auszusprechen. »Er könnte auch freiwillig in dem Lagerhaus gewesen sein. Er könnte mit demjenigen zusammenarbeiten, der hinter alldem steckt. Er könnte die Flasche selbst vorbeigebracht haben. Ich weiß das alles. Es ist einfach …«

Ich sah ihre Gesichter vor mir. Bianca, Rodriguez, Max, Tony, Guy. Vierundzwanzig Stunden, und jetzt war fast jeder, den ich in den letzten Tagen kennengelernt hatte, tot.

»Es ist einfach zu viel. Ich muss … hoffen können.«

Er drehte sich um, womit er mich zum Stehen brachte, und rieb mir die Gänsehaut von den Armen. Er beugte sich vor, und ich glaubte, er würde mich küssen, aber er kam nur näher heran und senkte die Stimme.

»Ich rufe Lucas an und sage ihm, er soll einen Wachmann mit einem Auto herschicken. Du solltest in diese Wohnung gehen, wo sie Carlos gefunden haben, und nachsehen, ob du dort irgendwas auffängst.«

»Ich komme schon zurecht, Karl.«

»Ich glaube, du solltest.«

»Es wird meine Urteilsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Ich versprech’s.«

Ein letzter Druck um meine Arme. Im Weitergehen warf er verstohlene Blicke in meine Richtung, als hielte er Ausschau nach Anzeichen dafür, dass er darauf bestehen sollte, dies ohne mich zu erledigen.

Die Fährte führte zu einem in Terrassen angelegten Garten mit einem Schild, demzufolge das Werfen von Reis und Konfetti hier verboten war. Allem Anschein nach ein beliebter Ort für Hochzeitsfotos.

Sonnys Spur führte weiter quer durch die Gartenanlage und hinaus in einen nicht sehr großen Park, der mit einem Spielplatz und Bänken ausgestattet war.

Wir blieben im Schatten eines Geräteschuppens am Rand des Gartens stehen. Ich begann mir zu wünschen, dass ich eine Jacke mitgebracht hätte. Ein kühler Wind blies aus Norden, und die Sonne verschwand immer wieder hinter Wolken. Die an besseres Wetter gewöhnten Bewohner von Miami waren aus dem Park geflüchtet, alle mit Ausnahme eines einzelnen Kindes und seiner Kinderfrau auf den Schaukeln und eines Mannes, der zusammengesunken auf einer Bank saß.

Ich sah zu dem Mann hinüber. Bemerkte seine Größe. Das dunkelblonde, vom Wind zerwühlte Haar. Mein Herzschlag wurde schneller.

»Der sieht aus wie Sonny.«

Karl schlich weiter bis zur Umzäunung des Gartens, den Kopf erhoben, um im Wind auf Gerüche zu wittern. Dann zog er sich wieder zu mir in den Schatten zurück.

»Ich glaube, du hast recht.«

Die Gestalt saß mit dem Rücken zu uns in die Ecke der Bank gelehnt, das Kinn auf der Brust. »Vielleicht schläft er ja.«

»Möglich.«

Ich wusste, es gab eine wahrscheinlichere Erklärung. Nachdem Sonny sich all die Mühe gegeben hatte, nicht gesehen zu werden, würde er jetzt kaum an einem so öffentlichen Ort schlafen.

»Ich gehe es mir mal näher ansehen«, sagte Karl. »Es ist wichtig, dass du hier bleibst, Hope.«

»Mache ich.«

Er sah mich an. »Ich mein’s ernst.«

»Ich weiß. Ich warte hier, wo ich ihn sehen kann, und wenn er sich von der Stelle bewegt, drücke ich auf den Panikknopf, dann weißt du Bescheid.«

»Gut.«

Er setzte sich in Bewegung, blieb dann noch einmal stehen und sah sich nach mir um. Seine Lippen öffneten sich, aber er schüttelte den Kopf. Bevor ich etwas sagen konnte, war er verschwunden.