Lucas

19

Paige hatte eben gewählt, als mein Cousin Javier, VP in der Technologieabteilung, erschien und mir mitteilte, dass die Nasts ungeduldig wurden … und dass sich mittlerweile auch die St. Clouds zu ihnen gesellt hatten. Ich sah auf die Uhr. Ich hatte etwas von einer halben Stunde gesagt, und das war jetzt fast fünfunddreißig Minuten her.

Ich bekam von der Unterhaltung so viel mit, dass ich verstand, Paige erkundigte sich bei Elena nach dem Vorfall, als sie und andere Paranormale von menschlichen Wissenschaftlern entführt und studiert worden waren. Die Kabalen hatten behauptet, nichts von dem Projekt gewusst zu haben, aber die Nasts hatten Geschäftsverbindungen zu dem Geldgeber unterhalten, dem verstorbenen Softwaremagnaten Tyrone Winsloe, und keiner der Entführten war Angestellter einer Kabale gewesen. Verdächtig, im augenblicklichen Zusammenhang aber nicht relevant. Nach der von Paige bestrittenen Hälfte des Telefongesprächs zu urteilen ging es um einen Mitgefangenen Elenas, einen Mann namens Armen Haig, der schon vor ihrer Flucht ums Leben gekommen war.

Ich wäre nur zu gern noch ein paar Minuten geblieben, aber Paige und der Rat brauchten mich nicht, während die Kabale es tat. Eine seltsame Wendung der Dinge und der Prioritäten. Eine, mit der ich mich nicht wohl fühlte.

Ich unterbrach Paige kurz, um ihr zu sagen, wohin ich ging. Dann folgte ich Javier aus dem Raum und rief auf dem Weg ins Sitzungszimmer noch meine Mutter an.

Das Treffen verlief genau so, wie ich es hätte vorhersagen können. Die Nasts und die St. Clouds boten uns in dieser schwierigen Phase ihre Hilfe an. Wir bräuchten ihnen nur zu sagen, was vonnöten war. Hätten wir dies getan, hätten wir ihnen natürlich unsere Schwachstellen offengelegt, und die waren es, an denen sie vorwiegend interessiert waren. Es entwickelte sich eine halbstündige wechselseitige Beschwichtigungs- und Solidaritätsübung. Dreißig Minuten, während derer mein Handy unaufhörlich vibrierte und die Nachrichten sich weiter ansammelten.

»Es tut mir leid«, sagte ich schließlich. »Aber ich muss wirklich wieder an die Ermittlung gehen. Mein Vater hat mir die Aufgabe übertragen …«

»Die Mörder Ihrer Brüder zu finden?«, schnaubte Thomas Nast, der Hauptgeschäftsführer dieser Kabale. »Will er denn, dass die Verantwortlichen gefunden werden?«

Sean murmelte seinem Großvater etwas zu, und der winkte mit einer Grimasse ab, ließ es aber dabei bewenden. Thomas war noch nie für sein Taktgefühl berühmt gewesen, aber in diesem Fall sprach er nur aus, was alle anderen dachten.

»Es sieht ganz so aus, als würde Ihnen Ihr Vater eine ganze Menge übertragen«, sagte Thomas’ Sohn Josef. »Und die Kabalen sind besorgt darüber. Einer Person so viel Macht anzuvertrauen, die nichts lieber sähe als den Zusammenbruch der ganzen Institution …« Er zerrte an seinem Krawattenknoten und räusperte sich. »Wir müssen uns Gedanken über die geistige Verfassung Ihres Vaters machen, Lucas. Er hat einen schweren Schock erlitten. Es gibt in unserem zwischenbetrieblichen Manifest Bestimmungen für solche Fälle, etwa den, dass der Hauptgeschäftsführer arbeitsunfähig und niemand anderes in der Position sein sollte, seinen Platz einzunehmen …«

»Hübscher Versuch, Josef.«

Die Stimme meines Vaters von der Tür her. Ich stand auf, um ihm seinen Stuhl zur Verfügung zu stellen, aber er winkte ab; angesichts meines Zögerns spürte ich alle Augen auf mich gerichtet. Ich rückte mit dem Stuhl weit genug zur Seite, dass mein Vater ans Kopfende des Tisches treten konnte.

Beileidsbekundungen erfüllten die Luft. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte mein Vater sie in vollendeter Form entgegengenommen; er beherrschte dieses Spiel besser als irgendjemand sonst. Aber heute unterbrach er die Kondolierenden mitten im Satz.

»Wie Sie sehen können, bin ich nicht arbeitsunfähig. Ich habe Lucas mit der Leitung der Ermittlungsarbeiten betraut und ihm meine Angestellten und Ressourcen zur Verfügung gestellt. Ich gehe davon aus, dass Sie eine Untersuchung aller Vorgehensweisen fordern werden, sobald die Situation geklärt ist, und ich werde in vollem Umfang kooperieren. Was den Tagesbetrieb betrifft, so ist auch der bis auf weiteres Lucas unterstellt, aber alle Entscheidungen werden mir zur endgültigen Freigabe vorgelegt. Ist dies akzeptabel?«

Er sorgte dafür, dass das letzte Wort einen sarkastischen Beiklang bekam. Die jüngeren Kabalenangehörigen rutschten auf ihren Stühlen herum und beobachteten die älteren, die ihrerseits genug wussten, um unbewegte Mienen beizubehalten.

»Es sieht so aus, als ob Sie die aktuelle Situation unter Kontrolle hätten«, sagte Thomas Nast.

Die Hand meines Vaters schloss sich fester um meine Schulter.

»Allerdings«, fuhr Thomas fort, »ist es auch eher die langfristige Entwicklung, über die wir uns Sorgen machen.«

»Ich bestatte morgen zwei meiner Söhne …«

»Und ich habe vor vier Jahren einen von meinen bestattet. Meinen Erben. Ohne dass es im Tagesbetrieb zu irgendwelchen Verwerfungen gekommen wäre.«

»Haben Sie etwas von Verwerfungen bemerkt, Thomas? Wenn das der Fall sein sollte, dann wüsste ich wirklich gern Bescheid.«

»Wir wollen wissen, wie Ihre Pläne aussehen, Benicio. Im Hinblick auf die Ernennung Ihres wirklichen Nachfolgers.«

»Zeigen Sie mir Ihren, und ich zeige Ihnen meinen.« Die Stimme meines Vaters hatte den trügerisch unbekümmerten Ton angenommen, der in den Ohren jedes Menschen, der ihn kannte, wie das Warngerassel einer Klapperschlange klang. »Wen haben Sie an Kristofs Stelle zum Erben ernannt?«

»Ich habe meine Entscheidung getroffen …«

»Sie haben Sie nur keiner Menschenseele mitgeteilt, denn die Wahrheit ist ganz einfach, dass Sie keine Entscheidung getroffen haben.« Mein Vater begann eine Runde um den Tisch zu machen, vorbei am Rücken jedes Anwesenden. »Es sollte Josef sein, der nach Kristofs Tod an dessen Stelle getreten ist und dessen Rolle in bewundernswerter Weise ausfüllt … wenn auch nicht ganz vollständig. Aber Sie wollen es nicht offiziell machen, weil Sie immer noch auf den jungen Sean hoffen – der in jeder Hinsicht so vielversprechend wirkt wie sein Vater, wenn da nur nicht der kleine Makel der Desillusioniertheit wäre, den der Junge erkennen lässt. Er ist sich nicht vollkommen sicher, dass er wirklich dort ist, wo er gern wäre. Nicht vollkommen sicher, dass er nach wie vor wirklich an die Kabale glaubt.« Mein Vater legte beide Hände auf Thomas’ Schultern, beugte sich vor und flüsterte so laut, dass jeder im Raum es verstand: »Ich weiß, wie das ist.«

Er richtete sich wieder auf, die Hände immer noch auf den Schultern des alten Mannes; die Finger gruben sich ins Jackett.

»Nun hat mir die Erörterung unserer wechselseitigen Bedenken über die Nachfolgefrage zwar durchaus Spaß gemacht, aber ich muss mich doch fragen, warum das Thema überhaupt zur Sprache gebracht wurde. Ich habe meinen Erben benannt. Ich habe das schon vor Jahren getan, wie Sie alle sehr gut wissen.«

Ich hielt den Blick auf das Kinn meines Vaters geheftet und verzog keine Miene.

»Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst«, sagte Thomas.

Mein Vater lächelte. »Es war mir schon immer ernst. Lucas, ich glaube, Paige hat im Zusammenhang mit dem Fall irgendetwas herausgefunden, das du wissen solltest.«

Als ich Anstalten machte aufzustehen, wollten meine Knie mir nicht mehr gehorchen, und ich musste die Tischkante packen, um mich hochzustemmen. Ich folgte meinem Vater steifbeinig aus dem Zimmer.

»Es tut mir leid«, sagte er, als die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war.

»Keine Ursache. Es war ein notwendiges Manöver. Sie wären hinter dir her gewesen, bis du ihnen eine Antwort gibst, und nun hast du die Frist, die du brauchst, um dich für eine andere Vorgehensweise zu entscheiden.«

Schweigen. Ich sah ihn nicht an. Konnte es nicht.

»Paige will wirklich mit dir reden«, sagte er nach einer Minute. »Aber sie ist im Moment im Labor. Wenn wir nach unten gehen, würde ich unterwegs gern bei ein paar Abteilungen vorbeigehen. Die Runde machen, die Leute sehen lassen, dass wir hier sind. Ihnen etwas Sicherheit vermitteln.«

Ich konnte mir die Verzögerung kaum leisten, aber ich wusste, dass dies notwendig war. Also ließ ich ihn vorangehen.

 

Es dauerte fast eine Stunde, bis wir die »Runde« gemacht hatten … und das, obwohl mein Vater so bestimmt und so höflich wie möglich darauf bestand, sich nirgends aufzuhalten. Wir endeten in der Kantine, wo er unbedingt wollte, dass wir ein Mittagessen besorgten, das ich Paige mitbringen konnte. Dies dauerte weitere zehn Minuten, die wir im Wesentlichen damit verbrachten, weitere Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Aber irgendwann hatte er alle Hände geschüttelt, und wir gingen die Treppe hinauf in das Speisezimmer der leitenden Angestellten. Es war leer. Nicht weiter überraschend; mein Vater ließ keinen Zweifel daran, dass er es gern sah, wenn die Manager mit den Angestellten zusammen aßen, und nur sehr wenige wagten es, sich anders zu verhalten.

»Ich sollte wirklich …«, begann ich.

»Gehen. Ich weiß.« Er blieb an einem Fenster stehen, von dem aus man die Kantine überblicken konnte. »Wie viele Leute sind in der Firmenzentrale beschäftigt, Lucas?«

»Zweihundertfünfundvierzig dem letzten Quartalsbericht zufolge.«

»Und in der ganzen Firma, die mit Menschen besetzten Bereiche nicht gerechnet?«

»Ungefähr vierhundertfünfzig.«

»Du hast diese Zahlen parat, ohne auch nur überlegen zu müssen, richtig?«

»Ich sorge dafür, dass ich auf dem Laufenden bleibe.«

Ein langsames Nicken. »Vierhundertfünfzig geknechtete Seelen, die der Rettung harren.«

Ich biss die Zähne zusammen. »Sind wir hier, damit du dich über mich lustig machen kannst, Vater? In diesem Fall habe ich …«

»Wichtigeres zu tun.«

Ich zwang mich dazu, ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich sehe keine vierhundertfünfzig geknechteten Seelen, die der Rettung harren, aber das weißt du selbst. Ich sehe vierhundertfünfzig Paranormale, Angestellte einer Organisation, die nicht immer an ihrem Wohl interessiert ist.«

»Ganz im Gegensatz zu von Menschen geleiteten Konzernen«, murmelte er.

»Von Menschen geleitete Konzerne spüren ehemalige Angestellte nicht auf, um sie hinzurichten. Sie foltern diejenigen, die sie der Industriespionage verdächtigen. Oder bedrohen ihre Familien. Oder setzen Erpressung zur Rekrutierung ein. Oder …«

Er hob die Hand. »Botschaft angekommen.«

»War es wirklich nötig, dass ich sie ausspreche?«

Einen Moment lang sah er durch das Fenster hinunter in die Kantine, wo seine Angestellten aßen und sich unterhielten.

»Unter allen Kabalen – wie stehen die Cortez’ da? Im Hinblick auf ›Menschenrechtsverletzungen‹?«

»Darauf werde ich nicht antworten, weil du die Antwort genau kennst. Deinen Platz auf dieser Skala zu rühmen wäre so, als lobte man einen Mann dafür, dass er seine Frau nur sonntags schlägt.«

»Wenn diese Kabale zusammenbräche, was meinst du, wohin all die Leute gehen würden? Das sind Käfigvögel, Lucas. Man kann nicht einfach die Tür öffnen und sie freilassen. Das wäre grausamer als alles, was du uns vorwirfst. Wenn die Cortez-Kabale verschwindet, werden sie sich in die nächste Organisation flüchten, die ihnen Schutz bietet, zu einer anderen Kabale, in eine üblere …«

»Nicht.« Die Kante des Tabletts grub sich in meinen Daumenansatz, und mir wurde klar, dass ich es immer noch hielt – mit beiden Händen umklammerte. Ich stellte es ab. »Dies ist nicht der Zeitpunkt …«

»Nein, das ist er nicht. Aber es wird bald so weit sein …«

»Carlos ist am Leben – und wahrscheinlich unschuldig. Dann sind da noch meine Cousins …« Ich hörte die Verzweiflung in meiner Stimme und räusperte mich. »Du wirst noch auf Jahre hinaus keine endgültigen Entscheidungen zu treffen brauchen.«

»Nein? Wenn die letzten Tage irgendetwas bewiesen haben, dann das, dass ich diese Zeit nicht habe. Wir werden uns darüber unterhalten müssen.«

Ich wandte mich ihm zu. »Bitte, Papá. Nicht jetzt.«

»Wann also, Lucas? Sag mir, wann werde ich dir dies antun müssen? Deine Lebensträume zerstören? Dich zwingen, jemand zu werden, der du niemals sein wolltest? Zu dir sagen, dass es deine Pflicht ist?« Seine Stimme stockte. »Wann werde ich es also machen? Meinen Erben bestimmen, meinen Sohn verlieren?«

»Nicht jetzt. Bitte. Ich muss …« Meine Kehle war plötzlich wie verschlossen, und ich musste die Worte herauszwingen. »Ich muss wirklich gehen.«