Lucas

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Auf dem Weg zu Ortegas Haus holten wir Paige ab, um gleich hinterher zusammen essen gehen zu können … und weil ihre Hexenformeln möglicherweise nützlich sein konnten. Troys Kollege Griffin war nach Hause gegangen; die Nacht über würde Troy wie üblich allein für die Sicherheit meines Vater verantwortlich sein. Wir nahmen außerdem zwei Leute von der Security mit.

Während der Fahrt schwatzten Paige und mein Vater miteinander – freundschaftliche Konversation, die nichts mit dem anstehenden Unternehmen zu tun hatte. Mein Vater hat mich in der Überzeugung erzogen, dass Hexen einfach eine weitere paranormale Spezies sind, eine, mit der wir selbst eine unglückselige Vorgeschichte teilen. Trotzdem beschäftigt auch die Cortez-Kabale nur eine einzige Alibihexe, und wenn Geschäftspartner meines Vaters sich über Hexen lustig machen, verteidigt er die Spezies nicht.

Paige allerdings verteidigt er. Welche Probleme ein Geschäftspartner auch immer damit haben mag, dass ein Cortez eine Hexe geheiratet hat, in Hörweite meines Vaters tut er gut daran, sie für sich zu behalten. Es geht dabei eher um Loyalität der Schwiegertochter gegenüber, aber nichtsdestoweniger bin ich ihm dankbar dafür.

Seine Zuneigung zu ihr kommt mir aufrichtig vor. Mit Sicherheit zeigt er mehr Interesse an ihr als an den Ehefrauen Hectors und Williams … auch dies eine Tatsache, die an meinen Brüdern nicht unbemerkt vorbeigegangen ist.

 

Als wir Ortegas Haus erreichten, schickte mein Vater die Wachmänner hinter das Gebäude, damit sie die Rückseite im Auge behalten konnten, während Troy mit uns zur Haustür ging und klingelte. Nach dem dritten Versuch sagte Paige: »Wir sollten wirklich einen Blick ins Innere werfen. Lucas und ich können wiederkommen, wenn es dunkel ist …«

Der Satz verklang, als mein Vater zwei kleine Umschläge aus der Tasche zog, einen öffnete und einen Schlüsselring in seine Handfläche fallen ließ.

»Du hast die Schlüssel zu allen Privatwohnungen deiner Angestellten?«, fragte Paige.

»Nur die von der Managementebene und von denjenigen, die Zugang zu sicherheitsrelevanten Informationen haben.«

»Und ich will besser nicht wissen, wie du an sie gekommen bist, oder?«

Er lächelte, während er Troy die Schlüssel aushändigte. »Auf vollkommen legalem Weg, so schockierend das auch klingen mag – wobei man vermutlich sagen könnte, dass wir uns die Schwachstellen unserer Angestellten zunutze machen, um ihre Bürgerrechte verletzen zu können.«

»Und ich habe nie zugestimmt, dass das auch nur legal ist«, murmelte ich, um dann zu erklären: »Ortegas Arbeitsvertrag beinhaltet eine Klausel, derzufolge er zustimmt, dass sein Haus mit neuen Schlössern und einer Alarmanlage ausgestattet wird. Die meisten Angestellten sind sich im Klaren darüber, dass das bedeutet, dass die Kabale einen Zweitschlüssel und den Code zum Aussetzen der Alarmanlage besitzt. Aber das wird nie« – ich warf meinem Vater einen Blick zu – »ausdrücklich gesagt.«

»Aber solange sie es wissen und keine Einwände dagegen haben …«

»Sie machen keine Einwände, weil sie Paranormale und damit auf die Kabale angewiesen sind, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihre Anstellung. Deshalb sind sie auch allzu bereit, die Verletzung ihrer …«

»Merkst du, dass wir diese Diskussion schon ein paarmal geführt haben?«, fragte mein Vater Paige. »Und wahrscheinlich sollten wir sie nicht gerade hier auf der Vortreppe führen. Troy?«

»Der Bolzen klemmt, Sir. Bloß noch einen … Da, das wär’s.«

Als Paige Troy ins Haus folgen wollte, griff mein Vater nach ihrem Arm. »Troy wird die Alarmanlage ausschalten und eine erste Durchsuchung vornehmen.«

Troys Stimme drang zu uns heraus: »Falls Ortega also sein Haus vermint hat, bin ich der Einzige, der hier kabumm geht. Für solche Fälle haben Sie eigentlich einen Ferratus-Halbdämon auf der Gehaltsliste, Sir.«

»Griffin ist bei seinen Kindern. Sie haben keine.«

»Mit anderen Worten, wenn ich kabumm gehe, wird es keinen stören.«

»Mich würde es stören. Ich hasse es, neue Leibwächter einzuarbeiten.«

Die Augen meines Vaters blinkten amüsiert, als Troy von drinnen ein paar ausgewählte Kommentare zurückgab. Ein Tempestras-Halbdämon war in der Tat eine merkwürdige Wahl für einen Leibwächter – das Wetter beeinflussen zu können ist als Verteidigungsmethode wenig nützlich, aber obwohl sich scheinbar besser qualifizierte Sicherheitsspezialisten regelmäßig um Troys Stelle bewarben, dachte mein Vater gar nicht daran, ihn auszuwechseln. Bei einem Mann, den man fast Tag für Tag und im Wachen wie im Schlafen an seiner Seite hat, gibt es wichtigere Qualifikationen als die paranormalen Fähigkeiten.

Ein paar Minuten später tauchte Troy mit dem Bescheid »alles in Ordnung« wieder auf, und wir gingen hinein.

Ortega war nicht anwesend. Das Haus war aufgeräumt, die Koffer fehlten, und die Schränke enthielten weniger Kleidung, als man bei einem Mann seines Einkommens und seiner Position zu finden erwartet hätte. Am Unheilvollsten: sein Safe war geleert worden; die Tür stand offen. Es sah ganz so aus, als sei er sowohl rasch als auch freiwillig verschwunden.

Wir durchsuchten das Haus, aber Ortega war nicht so dumm gewesen, uns Hinweise zu hinterlassen. Die Festplatte des Computers war ausgebaut worden, der Aktenschrank war ebenso leer wie der Schreibtisch, nicht einmal an der Kühlschranktür hingen noch Zettel.

Ich studierte einen leeren Haken an der Küchenwand, an dem vermutlich ein Kalender gehangen hatte, und sagte zu meinem Vater: »Es sieht wirklich so aus, als hätte er …« Gerade da rief Paige aus dem Wohnzimmer: »Ich hab was!«

Wir fanden sie auf den Knien vor dem offenen Kamin.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich das außer in einem Spielfilm mal zu sehen kriege, aber er hat ein paar Papiere verbrannt«, sagte sie. »Und er hat es so eilig gehabt damit, dass noch ein paar Stückchen übrig sind.«

Schwarze Asche und graue Papierfetzen lagen in dem ansonsten makellos sauberen Kamin. In Miami gehören Kamine zu den Dingen, die ihrer emotionalen Suggestivwirkung wegen in Häuser eingebaut werden – der potenzielle Käufer sieht den Kamin und stellt sich sofort romantische Abende im Flammenschein vor oder einen treuen Hund, der vor dem Feuer schläft. Erst später geht ihm auf, wie realitätsfern diese Träume sind, wenn die Außentemperatur kaum je unter fünfzehn Grad Celsius sinkt.

Ich besorgte eine Pinzette aus dem Bad, zog die größten der versengten Fetzen aus dem Kamin und legte sie auf ein leeres Blatt Papier. Die Kanten waren verkohlt, aber in der Mitte waren jeweils ein paar Worte zu erkennen.

»Das ist doch die Adresse vom Easy Rider, oder?«, fragte Paige.

Ich nickte. Ein Teil der Adresse war noch lesbar, und darunter stand: 11:00 Invent.

»Das sagte ihm, wann er damit rechnen konnte, dass Bianca da ist und Inventur macht«, sagte Paige. »Es muss ein fester Zeitpunkt sein – vielleicht kam eine Lieferung.«

Der Rest bestand überwiegend aus Satzfetzen: muss abgeschlossen sein … absolut niemand … benachrichtigen, dass wir …

Ich sammelte die brüchigen Fetzen behutsam ein und steckte sie in eine Tüte, um sie später im Labor untersuchen zu lassen.

»Wir sollten mit den Nachbarn reden«, sagte Paige. »Ortega hat allein gelebt, oder?«

Mein Vater nickte. »Er ist seit etwa zehn Jahren geschieden und hat keine Kinder.«

»Und allem Anschein nach auch keine feste Freundin«, erwiderte Paige, »was es natürlich einfacher macht, spurlos zu verschwinden. Aber immerhin habe ich damit einen Vorwand, bei den Nachbarn nachzufragen.«

Sie tat es – klingelte an den Türen und stellte sich als Ortegas neue Freundin vor, die sich Sorgen machte, weil sie seit zwei Tagen nichts von ihm gehört hatte und er nicht ans Telefon ging. Die Paare in den Häusern rechter Hand und gegenüber konnten nicht helfen. Ortega hatte zwar seit seiner Scheidung hier gelebt, aber sie wussten sehr wenig über ihn. Das war nicht weiter ungewöhnlich – unnötigen Kontakt mit den Nachbarn zu vermeiden ist eine weitere Methode, wie Paranormale ihre Identität verbergen können.

Aber die Frau in dem linken Nachbarhaus war eine geschiedene Mittvierzigerin, die wahrscheinlich ein Auge auf Ortega geworfen hatte. Nach einem einzigen Blick auf Paige konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ihr die schlechte Nachricht zu erzählen: Ortega sei durchaus zu Hause gewesen und wahrscheinlich absichtlich nicht ans Telefon gegangen. Sie hatte ihn um halb zehn Uhr an diesem Vormittag zum letzten Mal gesehen. Es war ihr aufgefallen, weil es ungewöhnlich war, dass er so spät zur Arbeit ging. Als sie dann gesehen hatte, dass er Gepäck in den Kofferraum legte, war sie davon ausgegangen, dass er Urlaub mache. Er sei allein weggefahren.