Während die Technikerin Karl erklärte, wie die GPS-Ortung funktionierte, nutzte ich die Gelegenheit, auf die Toilette zu gehen. Auf dem Rückweg lauerte mir Carlos auf. Er brachte keinerlei Entschuldigung dafür vor, dass er sich in den Laborräumen aufhielt – wahrscheinlich glaubte er, ich würde geschmeichelt sein, weil er mir gefolgt war.
»Ich gebe dir meine Karte«, sagte er. »Wenn du ausgehen willst, sag mir Bescheid! Ich sorge dafür, dass du dich amüsierst. Garantiert.«
Er streckte mir die Karte hin. Bevor ich sie nehmen konnte, wurde sie von einer Hand weggezogen, die um mich herum griff.
»Sie ist nicht interessiert«, sagte Karl.
»Ich glaube, das kann sie mir auch selbst sagen.«
»Braucht sie nicht. Ich habe es gerade getan. Und wenn Sie uns jetzt entschuldigen wollen …«
Karl legte mir den Arm um die Taille und führte mich weg. Als wir die Aufzüge erreicht hatten, machte ich mich aus seinem Griff los.
»Ich dachte, du willst, dass ich mit Paranormalen ausgehe. Was stimmt nicht mit diesem da? Er ist nicht viel älter als ich, reich, sieht umwerfend aus …«
»… und hat außerdem den Ruf, seine Mädchen in einer übleren Verfassung zurückzulassen als in der, in der er sie gefunden hat. Und bei deinen Kräften …«
»… hofft er, ich würde drauf anspringen. Ich habe ein paar Fetzen von Visionen aufgeschnappt, genug, um zu wissen, dass der Ruf verdient ist, und genau deshalb habe ich mir auch deine Finger-weg-von-meinem-Besitz-Nummer gefallen lassen.«
Karl brummte.
»Wenn ich die Wahl habe, einen Kabalensohn zu beleidigen oder ihn glauben zu lassen, dass ich schon anderweitig vergeben bin, dann nehme ich die zweite Möglichkeit. Aber versuch das bei irgendjemandem sonst, und du kriegst eine ganz andere Reaktion zu sehen.«
Ich sagte es leichthin, um ihn aufzuziehen, und erwartete eine entsprechende Antwort, aber er verfolgte lediglich, wie die Anzeige im Aufzug die Stockwerke herunterzählte, und verließ die Kabine, sobald die Tür sich öffnete.
»Du hast mir da oben ja keine Wahl gelassen«, sagte ich, als wir die Straße entlanggingen. »Ich habe vor Benicio nicht streiten wollen. Aber ich brauche keinen …«
»Beschützer. Ich glaube, das habe ich irgendwann schon mal gehört.«
Ich hielt meinen Tonfall neutral. »Wenn du diese Schuld beglichen haben willst, ist das okay. Geh und kümmer dich um deine Angelegenheiten! Ich bleibe hier und erledige meine, und wir sagen, du hast mich beschützt. Keiner wird’s besser wissen.«
Er bog so abrupt um eine Ecke, dass ich noch drei Schritte weiterging, bis mir klar wurde, dass er nicht mehr neben mir war, und ich zurücktraben musste.
»Ich meine damit einfach, du brauchst mich nicht zu beschützen. Ich hab es nicht nötig, und ich will es eigentlich auch nicht.«
»Und du bildest dir ein, ich will es? Glaubst du, mir machte es Spaß, wenn ich alles stehen und liegen lassen und nach Miami fliegen muss, um rauszufinden, in was für eine Klemme du diesmal gerätst? Glaubst du, ich freue mich darauf, mich die nächsten paar Tage im Schatten rumzudrücken und ein Auge auf dich zu halten?«
Ich geriet aus dem Tritt und blieb stehen, als hätte ich mich verhört.
»Du hast keine Wahl«, sagte er über die Schulter, ohne stehen zu bleiben. »Und so wie es aussieht, habe ich auch keine.«
Er überquerte die Straße – kein Blick nach rechts oder links – und stiefelte davon. Ich starrte hinter ihm her. Ich konnte nicht fassen, was ich da gerade gehört hatte. Ich hatte niemals um seinen Schutz gebeten. Er war derjenige, der ständig hinter mir her war, meinetwegen Theater machte und um mich herumhing. Ich wäre am liebsten hinter ihm hergerannt. Hätte mit den Fäusten auf seinen Rücken eingetrommelt und ihn angeschrien: Wie kannst du es wagen!
Selbstgefälliges, arrogantes Arschloch.
Was für eine Überraschung.
Ich drehte mich um und ging zurück in Richtung Hauptstraße – immerhin ein eleganter Abgang für den Fall, dass er sich umdrehen und ihn bemerken sollte. Aber ich wusste, er würde es nicht tun.
Ich war noch auf der Suche nach einem Taxi, als mein Handy klingelte. Ich wühlte hastig danach, voller Erwartung selbst gegen meinen Willen. Dann ging mir auf, dass es das gangeigene Gerät war.
»Hey«, sagte Jaz, als ich mich meldete.
»Selber hey«, sagte ich mit einem wirklichen, echten Lächeln. »Ich hab dich heute Morgen anrufen wollen, aber ich hab deine Nummer nicht.«
»Müsste eigentlich auf deinem Handy mit drauf sein. Rodriguez …«
»… hat sie einprogrammiert. Okay, ich bin ein Idiot. Das hatte ich total vergessen.«
»Kein Problem. Ich hätte mich früher gemeldet, aber ich hab dich nicht wecken wollen. Hab mir gedacht, du bist vielleicht ein bisschen mitgenommen von dem Tequila.«
»Ein bisschen.«
»Jedenfalls, äh, ich hab anrufen und sagen wollen, dass es mir leidtut wegen gestern Nacht.«
»Dir? Wenn jemand sich entschuldigen sollte, dann ja wohl ich. Es ist bloß – na ja, nach dem Ärger mit meinen Leuten bin ich ein bisschen ausgerastet.«
Pause. Mein Herz begann zu hämmern. Zweifelte er an meiner Geschichte? Ich versuchte instinktiv, seine Reaktionen zu lesen, aber natürlich war das über das Telefon unmöglich.
»Ich bin sicher, es hat ein Problem mit deinen Eltern gegeben«, sagte er schließlich. »Ich weiß, wie das ist. Aber, na ja, ich könnte dir keinen Vorwurf draus machen, wenn du gestern Abend rausgegangen wärst, ein bisschen frische Luft holen, den Kopf wieder klarkriegen, und wenn dir dann aufgegangen wäre, dass das Zurückgehen nicht das war, was du wirklich wolltest.«
»Nein, das ist nicht …«
»Ich hab’s drauf angelegt. Wirklich drauf angelegt. Ich hab gemerkt, dass dir der Tequila in den Kopf gestiegen ist, und hab’s ausgenützt. Ich war high, und nicht nur von dem Alkohol. Wenn wir ein großes Ding gedreht haben, bin ich immer … aufgedreht, könnte man sagen. Und es ist ziemlich mit mir durchgegangen.«
»Da warst du nicht der Einzige. Genau genommen, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich angefangen habe. Aber ja, es war alles ein bisschen … öffentlich, als ich’s mir dann überlegt habe.«
»Schon okay, was mich angeht. Wäre ein privates Mittagessen vielleicht eher dein Stil?«
Ich lächelte. »Wäre es.«
Er gab mir eine Adresse, wo wir uns in einer Stunde treffen konnten – eben genug Zeit, mich umzuziehen, die Uhr anzulegen, die er mir geschenkt hatte, und wieder in die Haut von Faith Edmonds zu schlüpfen.
Jaz führte mich in eine elegante Tapas-Bar und versicherte mir beim Eintreten, dass er mich einladen wolle. Natürlich konnte Faith sich ein Essen in einem guten Lokal leisten, aber er schien der Ansicht zu sein, es sei nur höflich, seine Absicht zu zahlen kundzutun, nachdem er sich für eine teure Adresse entschieden hatte. Sein Grinsen, als wir das Lokal betraten, und die Bewegung, mit der er den Arm um mich legte, verrieten, dass er es genoss, mich auf eine Art auszuführen, von der er annahm, dass sie eher meinem Stil entsprach.
Hätte er nicht gerade erst seinen Anteil von Guy ausgezahlt bekommen, wäre dies ein Luxus gewesen, den er sich nicht leisten konnte. Nach den Brocken, die ich aufgeschnappt hatte, waren Jaz’ und Sonnys Eltern in irgendwelchen untergeordneten Funktionen bei der Kabale angestellt gewesen. Beide waren in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und der Armut gefährlich nahe gekommen, nachdem sie von zu Hause ausgezogen waren. Für sie war die Mitgliedschaft in der Gang gewesen, als hätten sie in der Lotterie gewonnen, und so gern ich Jaz auch gesagt hätte, er solle sein Geld behalten, ich wusste, dass die Einladung ihm wichtig war. Also hielt ich den Mund, bestellte nichts allzu Teueres und genoss das Essen.
Mir war klar, dass ich mich beim Essen weiter nach den Auseinandersetzungen zwischen der Gang und der Kabale erkundigen musste, aber ich hatte es nicht eilig damit, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich unter falschem Vorwand hier war. Als die Unterhaltung wirklich auf die Gang kam, war es Jaz, der das Thema zur Sprache brachte. Er hatte am Vormittag mit Guy gesprochen. Es sah so aus, als sei die Polizei nicht über den Raubüberfall unterrichtet worden. Der Herald hatte eine kleine Meldung über die Spende gebracht, nachdem Guy die Zeitung informiert hatte, und Guy hatte das Geld per Kurier an die betreffende Einrichtung geschickt.
»Guy sagt’s vielleicht nicht laut, aber deine Idee mit dieser Wohltätigkeitsorganisation hat ihm richtig gut gefallen. Er hat gesagt, der Vorschlag wäre brillant gewesen.«
Ich muss sehr überrascht ausgesehen haben.
Jaz lachte. »Yeah, er hat rausgelassen, dass es deine Idee gewesen war. Aber nur mir gegenüber. Was alle anderen angeht, war’s seine eigene. Was wirklich am besten so ist. Erspart dir die Flak von den anderen, denen es vielleicht nicht passen würde, ihren Anteil mit irgendeiner Organisation zu teilen.«
»Und du, ist das in deinen Augen okay?«
»Klar. Bei Guys ursprünglichem Plan wäre der Überfall angezeigt worden. An sich nicht weiter schlimm, Guy weiß schon, was er tut, wir haben keine Bullen im Laden gehabt, seit ich dabei bin. Das Problem dabei wären die Kabalen gewesen. Sobald das in der Zeitung aufgetaucht wäre – ach, zum Teufel, sobald das auch nur über den Polizeifunk gelaufen wäre –, hätten die Cortez gewusst, dass wir das gewesen sind. Und dann hätten sie dafür gesorgt, dass wir wissen, sie decken uns.«
»Mit anderen Worten, sie hätten euch wissen lassen, dass sie euch beobachten.«
»Und auch wenn wir ihre Hilfe nicht brauchen, wir sind ihnen gegenüber …« Er kaute, während er nach dem passenden Wort suchte. »Verpflichtet. Erinnert mich an diesen Typ, mit dem ich zur Schule gegangen bin. Sein Onkel war Politiker und hat seine Nichten und Neffen immer beiseitegenommen, ihnen gesagt, wenn sie mal Ärger mit der Polizei hätten, und wenn’s nur ein Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit wäre, sollten sie einfach zu ihm kommen. Na ja, dieser Freund von mir hat zwar nie einen einzigen Strafzettel gekriegt, aber dann hat sein Onkel Hilfe bei einer Wahlkampagne gebraucht, und du kannst drauf wetten, dass er die ›Schuld‹ trotzdem eingetrieben hat. Bei den Cortez ist es so – die klagen die Schuld nicht ein, sie lassen sie einfach über unseren Köpfen hängen. Und das macht Guy rasend.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Ein Kommentar, den ich in aller Aufrichtigkeit geben konnte; ich hatte zwei Jahre lang mit einer tickenden Bombe genau dieses Typs gelebt.
»Aber deine Idee bedeutet, dass die Sache nie bei der Polizei gemeldet wird, also kann die Kabale deswegen Guy nicht im Nacken sitzen. Und dafür ist er dankbar.«
Und da war meine Gelegenheit, sosehr es mir auch zuwider war, sie zu nutzen. »Ich nehme an, im Moment ist er deswegen empfindlicher als sonst, nach den Problemen, die ihr hattet …«
»Yeah.«
Jaz nahm einen Schluck von seinem Bier. Ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, das Thema einfach fallen zu lassen und Benicio zu sagen, ich hätte nichts weiter herausfinden können. Ich rief mir ins Gedächtnis, warum ich überhaupt hier saß, und spürte ein Prickeln des Unbehagens, weil ich mich darauf besinnen musste.
»Ist es darum gegangen«, fragte ich nach, »bei den Zwischenfällen? Darum, dass die Gang der Kabale für ihren Schutz irgendwas schuldet?«
»Teilweise. Wie ich gesagt habe, normalerweise lässt die Kabale uns einfach wissen, dass sie uns im Auge hat, gibt uns vielleicht mal einen Klaps auf die Finger, wenn wir zu viel Aufmerksamkeit erregen. Aber das letzte große Ding, das wir gedreht haben?« Er schüttelte den Kopf. »Die Sopranos sind nichts gegen das, was sie da abgezogen haben.«
»Was ist denn passiert?«
Er zögerte, als sollte er eigentlich nicht weitersprechen, aber das Redebedürfnis siegte. »Es war am Nachmittag danach. Sonny und ich hatten uns unseren Teil abgeholt und waren auf dem Weg nach Hause. Wir haben rumgealbert, wir waren ziemlich high wegen dem Geld. Ja sicher, wir haben nicht aufgepasst, aber Scheiße, es war mitten am hellen Tag, und South Beach ist ja nicht die Sorte Gegend, wo man mit so was rechnen muss! Jedenfalls, in irgendeiner Nebenstraße kriegen wir es plötzlich mit vier Typen zu tun. Zwei vor uns, zwei hinten, wir konnten also nicht weg. Zaubererkräfte sind in einer Schlägerei ziemlich nutzlos. Und ich geb’s ja zu, ich bin auch nicht toll dabei, mich zu prügeln. Sonny genauso wenig. Ist einfach nicht unser Ding. Also, wir haben diese vier Typen gesehen, die uns einkreisten, und haben uns nicht weiter gewehrt. Sie müssen ziemlich enttäuscht gewesen sein, denn einer von ihnen hat mich gegen die Wand gedroschen. Als Sonny mir helfen wollte, hatte er plötzlich eine Pistole am Kopf.«
»Scheiße.«
»Und die sagen, wir wären die Schläger. Du hättest die Typen sehen sollen. Golfhemden und Hosen, als wollten sie den Tag mit einem gepflegten Spielchen verbringen. Ich wette, wenn die einen Golfschläger verwenden, dann höchstens, um jemandem den Schädel einzuschlagen. Jedenfalls, Sonny und ich waren am Boden, kaum noch bei Bewusstsein, und ich sehe mir diese Typen an mit ihren schönen Hemden und Hosen und feinen Schuhen, wahrscheinlich waren sie zehn Jahre älter als ich, und ich versteh’s einfach nicht, weißt du. Ich hab immer noch gedacht, das ist bloß so ein Straßenraub, oder vielleicht verwechseln die uns auch mit jemandem.
Aber dann hat der Anführer angefangen, wegen der Gang rumzumeckern, dass wir uns allmählich zu breit machen, die ganze Hand nehmen, bloß weil man uns mal einen Finger anbietet, und was ihm sonst noch an Klischees eingefallen ist. Es hat eine Weile gedauert, weil ich immer noch nicht ganz da war, aber irgendwann hat es dann geklickt: Scheiße, die Typen sind von der Cortez-Kabale.«
»Haben sie das gesagt?«
Er nickte. »Sie haben’s davon gehabt, dass wir Mr. Cortez auf die Nerven gehen und dass wir lieber im Gedächtnis behalten sollen, wo unser Platz ist, sonst würde er ihn uns zeigen. Dann haben sie unser Geld genommen und sind abgehauen.«
»Die haben euch beraubt?«
»Kannst du dir das vorstellen? Scheiße, und die verdienen wahrscheinlich jede Woche so viel, wie wir dabei hatten. Ich hab eigentlich gedacht, es wären eben einfach Arschlöcher gewesen, aber Guy sagt, sie haben das Geld genommen, um uns zu zeigen, dass wir alles, was wir verdienen, ihnen verdanken. Er sagt, das klingt ganz nach Benicio.«
Die Botschaft, ja. Aber die Art der Mitteilung? Nein.
Ich hatte von solchen Aktionen gehört, die von anderen Kabalen ausgegangen waren. Die Cortez waren nicht weniger bedenkenlos, aber solche Schlägermethoden entsprachen nicht Benicios üblichem Stil. Vielleicht hatte er geglaubt, das sei die einzige Sprache, die die Gang verstehen würde. Aber nach dem, was Benicio über Guy gesagt hatte, wusste er genau, dass Guy kein brutaler Dummkopf war. Schon um ein gewisses Maß an wechselseitigem Respekt aufrechtzuerhalten, würde Benicio auf zivilisiertere Weise mit ihm umgehen. Dies hörte sich eher nach irgendwelchen unberechenbaren Elementen innerhalb der Kabale an.
Ich überlegte, ob ich diese Möglichkeit erwähnen sollte, aber meine Position war noch nicht sicher genug, um anzufangen, Benicio Cortez zu verteidigen. Einen Frieden auszuhandeln war etwas, das ich lieber den Profis überlassen sollte. Bis auf weiteres hatte ich zusätzliche Informationen bekommen und konnte jetzt meine Pflichten vergessen, mich entspannen und das Mittagessen mit Jaz genießen.