Kapitel 18
»… Tja, und jetzt heißt es warten«, schloss mein Bruder seinen Bericht über den aktuellen Stand der Lage von Ilians Nest.
»Und wenn die die Polizei rufen und denen sagen, dass man sie belagert?«, fragte ich und sah durch ein Fenster zu Ilian, der draußen mit Arva telefonierte. Einen kurzen Moment dachte ich, dass er rauchen würde, doch dann wurde mir klar, dass er wirklich qualmte – vor Wut.
»Die Scharfschützen würden sofort schießen, ob Polizei daneben steht oder nicht.« Thomas musterte genau mein Gesicht und wartete auf eine Reaktion, doch was sollte ich dazu sagen?
»Da sind Kinder und Unschuldige«, erinnerte ich ihn unnötigerweise.
»Drachen«, sagte er abfällig und ich war froh, dass Ilian draußen telefonierte und das nicht mitbekommen hatte.
»Thomas, diese Drachen haben keinem etwas getan.«
»Würden sie aber, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten. Lissy, nicht alle Drachen sind so wie deine Balaurs!«
Darauf wusste ich wirklich keine Antwort, deswegen schnappte ich mir mein Frühstück, eine Scheibe Toast mit Fleischwurst, und ging hinaus.
»… Warum wohl nicht, heh?«, knurrte Ilian.
Ich setzte mich auf eine kleine Bank vor dem Campingwagen und beobachtete ihn, währen ich meinen Toast verdrückte.
»Weil Milda verdammt noch mal eine Frau ist … Ich weiß nicht mal, ob ich DIR trauen kann, geschweige denn deiner Freundin.« Ilian wurde still, offensichtlich redete Arva auf ihn ein. Die Tatsache, dass sie ihm die Sache mit Audrina verschwiegen hatte, schien ihn schwer getroffen zu haben. »In euren Augen bin ich doch ein Niemand, dem man nicht trauen kann. Ein Mann, ein Minderwertiger. Ich werde den Teufel tun und euch sagen, wo wir sind. Du magst es vielleicht für dich behalten, das kannst du ja offensichtlich ganz gut, aber Milda könnte plappern.« Autsch, da tat er Arva wirklich Unrecht. Sie hatte so viel für ihn auf sich genommen, das hatte sie nicht verdient. Ilian schienen seine Worte plötzlich leid zu tun. »Hör zu Arva«, sprach er deutlich sanfter weiter, »es tut mir leid, aber ich muss an die Sicherheit meiner Mitreisenden denken und im Moment darf ich niemandem trauen, bitte versteh doch.« Ilians Gesicht wirkte verdattert. Er nahm das Handy runter und starrte auf das Display. »Aufgelegt«, wisperte er vor sich hin und atmete dann tief durch. Ich war mittlerweile mit meinem Essen fertig und sah zu dem Chaos, das wir alle bei unserem kleinen Grillfest hinterlassen hatten. Da Ilian bereits wieder eine Nummer wählte, entschied ich mich, einen Besen und eine Mülltüte zu holen, um ein wenig Ordnung zu schaffen. Mit einem Ohr bekam ich mit, wie mein Freund mit seiner Mutter telefonierte. Ich erkannte es nur an dem Wort Madra, was – wie ich mir bereits zusammengereimt habe – Mama heißt.
Nachdem ich fertig war, war Ilian verschwunden. Duschen, wie ich vermutete, da seine Klamotten auf dem Bett im Wohnwagen lagen. Da aber auch Roran fehlte, entschied ich mich, ihn anzurufen. Den Besen in der anderen Hand, wählte ich seine Nummer und wartete auf das Tuten. Es kam … und noch etwas anderes.
»I like big butts and I cannot lie«, sang Sir Mix-a-Lot irgendwo zwischen Ilians Klamotten.
»Ne, oder?«, brabbelte ich erstaunt und fand unter Ilians T-Shirt sein Handy, welches mich mit dem Bild meiner Oberweite begrüßte, das ich ihm mal geschickt hatte.
»But that butt you got makes me so horny«, sang Ilian hinter mir. Er hatte sich umgezogen und trug nun Jeans und einen grauen Pullover. Seine braunen Augen sahen mich amüsiert an. »Putzt du noch oder fliegst du gleich weg?«, fragte er und deutete auf meinen Besen.
Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen soll. »Also erstens«, seufzte ich lachend, »ist das ein Besen. Damit putzt man nicht, du Backpflaume, damit kehrt man. Zweitens, das ist ein Foto meiner wunderschönen Brüste und du spielst ein Lied über Ärsche dazu ab? Verwechselst du da nicht was?«
»Was? Das ist nicht dein Hintern?«, zog Ilian mich lachend auf.
»Drittens – hast du mich gerade als Hexe bezeichnet, du Karussellbremser?«
»Gott, ich möchte deinen Verstand fi…«, konnte Ilian noch gerade sagen, als mein Bruder sich hinter uns räusperte. Grinsend schluckte mein Freund die letzten Buchstaben herunter und teilte sie mir über seine Augen mit.
»Ich störe euch ja nur ungern, aber ich wollte euch sagen, dass die Wärmekameras meiner Kollegen zwei fehlende Drachen im Haus angezeigt haben.«
»Das sind Arva und Milda«, sagte Ilian.
»Nein, die beiden habe ich bereits berücksichtigt.«
»Das heißt, es rennen irgendwo zwei frei herum?«, fragte ich und spürte, wie sich Unruhe in meinem Bauch breitmachte. Ilian ging es ähnlich, denn ihm war das Lachen vergangen.
»Richtig«, seufzte mein Bruder, »ich habe bereits zwei weitere Jäger zur Verstärkung hierher beordert.«
Ich nickte und Ilian starrte auf Rorans Schlafplatz. Wo war der Kleine eigentlich? »Wo ist dein Sohn?«
»Bei Conny«, antwortete mein Freund geistesabwesend. Er grübelte eine Weile und sah dann zu Thomas. »Wir sollten zurückfahren.«
»Das habe ich mir auch schon überlegt, aber andererseits wissen sie nicht, dass wir hier sind.« Mein Bruder sah mich an. »Oder habt ihr es wem gesagt?«
»Nein, niemand außerhalb der Familie.«
»Die Eltern deiner Freunde«, sagte Ilian plötzlich und sah mich erschrocken an. Thomas zischte einen Fluch und verschwand eilig.
»Scheiße, Mann!« Mehr brachte ich nicht heraus. Wie hatte keiner von uns daran denken können?
»Hör zu«, sagte Ilian. »Arva und Milda sind nicht weit von hier entfernt. Vielleicht sollte ich ihnen doch sagen, wo wir sind?«
»Kann Milda sich auch schon verwandeln?«, fragte ich.
Ilian schüttelte den Kopf. »Nein, aber Arva.«
»Traust du Milda denn?«
»Nein, aber ich würde mich wohler fühlen, wenn ich einen weiteren Drachen an meiner Seite wüsste.«
»Dann sag ihnen, sie sollen kommen«, sagte ich.
»Sicher? Wird dein Bruder nicht sauer sein?« Braune Augen funkelten mich fragend und unsicher an.
»Arva wollte immer nur das Beste für dich. Milda auch, sonst hätte sie doch schon längst bei Audrina quatschen können.« Außerdem war mir Milda immer als die Sanfteste der Drachenfrauen vorgekommen.
»Okay – okay«, stammelte Ilian und schnappte sein Handy. Er sprach in ruhiger Drachensprache mit seiner besten Freundin, als Kassandra, Thomas und meine Freunde den Wohnwagen betraten. Roran war der Einzige, der lachte. Conny kam mit ihm direkt zu mir.
»Haben wir Ärger?«, wollte sie wissen.
Thomas antwortete für mich. »Das wissen wir nicht. Die zwei Drachen könnten sich auch einfach abgesetzt haben, um dem Kampf zu entgehen.«
Ich sah zu Ilian, dessen Hand, die das Handy hielt, arg am Zittern war. Die andere hatte er zur Faust geballt. Er nahm sein Handy herunter und sah in die Runde.
»Arva und Milda kommen zur Verstärkung«, teilte er allen mit und zu meinem Erstaunen nickte Thomas nur. Ich hätte zumindest einen kleinen Protest erwartet. Alle um mich herum begannen zu quatschen und ich wendete mich Conny zu.
»Sag mal, hat dir eigentlich jemand den Floh wegen des Urlaubs ins Ohr gesetzt, oder kamst du ganz von selber drauf?« Das hatte ich sie schon die ganze Zeit fragen wollen.
»Das war meine Idee, wieso?«, wollte sie wissen.
»Nichts, nichts, es schien dem Orden nur gut in den Kram zu passen.«
»Ja, so etwas sagte André auch. Ihm hatte ich davon zuerst erzählt.«
Aha, aha, ich nickte.
»Ordenswachen sind jetzt bei den Häusern eurer Eltern«, sagte Kassandra, die ihren Tablet-PC beiseitelegte. »Habt ihr alle zu Hause angerufen?«
Meine Freunde nickten.
»Gut, wollen wir hoffen, dass wir schnell genug waren.«
»Und dass meine Eltern ihre Beschützer nicht bemerken«, fügte Leon hinzu. »Meine Mutter rastet aus, wenn sie merkt, dass man sie verfolgt.«
Ich konnte nicht anders und musste lächeln. Leons Eltern waren beide ein wenig schräg. Sie hoben auch nie Geld am Automaten ab, weil sie dachten, dass man ihnen dann gleich das Konto leerräumt.
***
»Alles okay?«, fragte mich Ilian, als wir uns nachts hinlegten. Er öffnete seine Arme, damit ich mich hineinkuscheln konnte.
»Ich denke schon«, seufzte ich und dachte an Arva, die oben auf dem Dach des Wohnwagens saß und Wache hielt. Milda leistete ihr Gesellschaft und beide würden in den frühen Morgenstunden von Thomas und Kassandra abgelöst werden. André hatte keine Ruhe und war ebenfalls draußen. Er traute den Drachen keinen Schritt weit. Mir sollte es nur recht sein. Drei paar Augen sehen mehr als zwei.
»Du denkst schon?« Ilian hob seine Augenbrauen und grinste.
»Na ja, solange wir nicht wissen, wer die beiden freien Drachen sind und was sie vorhaben, kann ich wohl nicht ruhig schlafen.« Ich atmete tief seinen rauchig, würzigen Geruch ein und ließ seine Hitze mich umfangen. Erst jetzt bemerkte ich, wie müde ich war. »In deinen Armen jedoch«, setzte ich wieder an, »könnte das vielleicht doch klappen.«
Sein Griff um mich wurde stärker. »Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert«, flüsterte er und ich bekam Gänsehaut.
»Danke«, murmelte ich. »Zwischen dir und Arva alles in Ordnung?«
»Ja, es ist nur, dass ich Milda nicht hundertprozentig traue, und wenn nicht dieser Notfall eingetreten wäre, dann hätte ich ihr nur ungern verraten, wo wir sind. Arva wäre dann nämlich mit ihr sofort hierhergekommen. Zu ihrem Wächter.«
Ich sah in Ilians Augen. In der Dunkelheit wirkte seine Iris wie schwarze Onyxe.
»Ich fühle mich nicht mehr wie ihr Wächter, Lissy«, gestand er leise und ich konnte mich dabei nicht vom Anblick seiner Lippen lösen. »Ich möchte deiner sein.«
Ich zog ihn zu mir heran und legte sanft meinen Mund auf seinen. Er erwiderte den liebevollen Druck und öffnete sanft seine Lippen. Etwas bedrückte ihn, das konnte ich genau spüren. Diese ganze Sache lag schwer auf seinen Schultern und ich wusste nicht, wie ich ihm helfen konnte, also gab ich ihm alles, was ich hatte. Mich.
Ein gellender Schrei riss uns aus dem Moment. Ilian setzte sich sofort im Bett auf.
»Arva«, zischte er und sah mich dann flehend an. »Bleib hier bei Roran, Lissy. Bitte!«
Ich nickte und rutschte herüber zu dem improvisierten Bett von Ilians Sohn, welcher ungerührt weiter schlummerte. Mein Freund verschwand durch die Tür und ich hörte ihn leise mit meinem Bruder murmeln. Kassandra kam zu mir herein und postierte sich vor dem Fenster. Irgendwie war ich kurz wie gelähmt und versuchte verzweifelt die Situation einzuschätzen, doch noch wusste ich ja nicht, was passiert war, warum Arva so geschrien hatte.
»Ich kann nichts sehen«, knurrte Kassandra leise. Ihr rotes Haar stand ihr wirr vom Kopf ab. Offensichtlich hatte sie schon etwas Schlaf gefunden gehabt.
»Was denkst du, ist passiert?«, flüsterte ich und versuchte ebenfalls einen Blick nach draußen zu erhaschen.
»Keine Ahnung, aber das Drachenweibchen wird nicht umsonst geschrien haben.«
»Ilian meinte, das wäre Arva gewesen«, sagte ich.
»Mir doch egal.«
Ich schluckte einen blöden Kommentar herunter. Nicht zuletzt, weil ich Thomas vor dem Fenster umherschleichen sah. Ein Wimmern erklang im Wohnwagen und Kassandra stieß mich zur Seite, in eine Ecke. Die Tür öffnete sich und Ilian trug Arva im Arm herein. Er kam zu uns herüber und setzte sie auf dem Bett ab. Sie wirkte verstört und panisch.
»Jemand hat Milda in den dunklen Nachthimmel gerissen«, flüsterte er. Das erklärte, warum mein Bruder so um die Bäume herumschlich.
»Das muss ein sehr guter Flieger gewesen sein. Die Baumwipfel hier stehen verdammt eng«, sagte Kassandra und sah wieder nach draußen. Ich rappelte mich auf und setzte mich neben Arva.
»Geh schon«, entließ ich Ilian. Ich sah ihm an, dass er wieder raus wollte. »Ich kümmere mich um sie.«
Er nickte und verschwand.
»Hast du nichts gesehen, Drache?«, fragte Kassandra, würdigte Arva aber keines Blickes.
»Wir hörten einen Flügelschlag, da wurde sie auch schon in die Luft gerissen.« Arva durchfuhr ein Zittern. »Ich habe nur grüne Schuppen erkennen können.«
»Wer aus eurem Nest hat grüne Schuppen?«
»Die meisten«, seufzte Arva. »Unter anderem die Brutmutter.«
Jetzt schoss Kassandras Blick für einen Moment zu uns herüber. Dann besann sie sich wieder und sah aus dem Fenster, während sie mit einer Hand eine SMS zu schreiben schien.
»Meint ihr, jemand hat die Brutmutter vor dem Angriff gewarnt?«, fragte ich. »Vielleicht konnte sie vor der Belagerung noch entkommen.«
»Ilian hat uns gewarnt«, sagte Arva, »aber ich habe es nur Milda gesagt und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es niemandem gesagt hat.«
»Auch nicht irgendwelchen Eltern oder Geschwistern?«, hakte Kassandra mit einem abfälligen Lachen nach. Arva verstummte und musterte ihre Hände. Sie konnte es also nicht mit Sicherheit sagen.
»Wären die anderen denn geblieben, wenn die Brutmutter es verlangt hätte?«, fragte ich.
»Ja«, antworteten Kassandra und Arva unisono.
»Das würden sie«, fügte Ilians beste Freundin hinzu. Ich sah in ihre dunklen Augen, aus denen unaufhörlich Tränen flossen.
»Dann vermute ich ganz ernsthaft«, begann ich, »dass da draußen die Brutmutter und Audrina sind. Oder die Brutmutter und ihr neuer Wächter.« Den alten hatte der Orden ja getötet, als wir Ilian retten wollten.
»Eher die Brutmutter und Audrina«, sagte Kassandra. »Sie würde ihre heißgeliebte Tochter nicht in den Klauen des Ordens lassen.«
»Ihr Nest schon«, knurrte Arva. »Das würde zu Elyra passen.«
»Mit Sicherheit wollte Milda ihre Familie retten, welche dann pflichtbewusst der Brudermutter Bericht erstattet hat«, grübelte ich laut.
»Das war ihr Todesurteil.« Kassandra starrte immer noch hinaus.
»Tja, dann ist klar, was sie wollen«, schlussfolgerte ich. Kassandra und Arva sahen mich an.
»Ilian. Ihren blauen Zuchtbullen.«
»Shit!«, zischte Arva und erhob sich. Ich wollte mit ihr gehen, doch sie hielt mich zurück. »Roran.« Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Ihre Augen erinnerten mich an unser Gespräch im Fitnessstudio. »Ich werde Ilian warnen.« Damit verschwand sie nach draußen und ich begann einen Knoten in meinem Magen zu fühlen.
»Rabiya Balaur ist ihr scheißegal«, sagte Kassandra und sah wieder aus dem Fenster. »Sie will nur ihren Seiryū und sich mit ihm aus dem Staub machen. Irgendwo ein neues Nest aufbauen. Die anderen wurden als Fraß für den Orden zurückgelassen.« Kassandra wirkte tatsächlich wütend. Man könnte meinen, dass ihr die Balaur-Drachen nicht egal waren. »Kollateralschaden. Vor den anderen Nestern war dann der böse Orden schuld. Niemand wird die Nase über sie rümpfen und mit Seiryū an ihrer Seite wird es ihr ein Leichtes sein, ein neues Nest aufzubauen. Sie verspricht einfach anderen Drachenfrauen blaue Babys.«
»Aber können sie denn so einfach das Nest wechseln?«
»Keine Ahnung, aber mit Sicherheit lassen sich da Mittel und Wege finden. Vielleicht im Gegenzug für eine Schwangerschaft im anderen Nest.«
Gott, das klang ja furchtbar. Mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken daran. »Aber Rabiya und der Orden würden sie doch nicht einfach in Ruhe lassen, wenn sie Ilian mitnimmt. Ich meine, die anderen des Nests sind doch nicht das erklärte Ziel des Ordens, sondern Elyra selbst.«
»Vermutlich kennt sie ein verdammt gutes Versteck«, knurrte Kassandra. »Und wenn sie überall erzählt, dass der Orden mit der Hilfe der Balaurs ihr Nest ausgelöscht hat, ist sie sich des Beistands der anderen Drachen sicher. Das könnte unschön werden.« Sie seufzte. »Sicher würden sie nicht gegen den Orden direkt vorgehen. Aber die Balaurs wären dran.«
Ich sah zu dem schlafenden Baby. »Scheiße, Roran, in was für eine Welt bist du da hineingeboren.« Im Geiste versprach ich ihm, sie besser zu machen, wenn wir das hier alle heil überstanden.
»Für ihn wäre es der Hauptgewinn, aus der Drachenkultur herausgerissen zu werden. Nie vor einer Frau katzbuckeln, sich grün und blau schlagen lassen und dabei nie mehr wert zu sein als ein Haufen Scheiße«, zischte Kassandra und ich musste schlucken. Ehe ich etwas sagen konnte, kam mein Bruder mit Ilian und Arva herein.
»Weit und breit nichts zu erkennen«, sagte Thomas und rieb sich durch das Gesicht. Ein Zeichen, dass er müde war. »André ist im anderen Wohnwagen. Sobald wir sicher sind, dass da oben nichts mehr ist, holen wir sie zu uns herüber.«
»Und Milda?«, wimmerte Arva, die sich an Ilian festgekrallt hatte.
»Ich fliege hoch«, sagte Ilian.
»NEIN!«, kam mir Arva zuvor. »Damit ich euch beide verliere? Dich wollen sie doch!«
Plötzlich gab es einen dumpfen Aufprall draußen. Kassandra, die immer noch am Fenster saß, schluckte schwer und blockte mit ihrem Körper die Sicht nach draußen.
»Niemand geht nach draußen!«, rief sie uns zu. »Keiner bewegt sich.«
»Arvaaaaaa«, erklang von draußen ein lautes, merkwürdiges Schluchzen. »Du hast mich angelogen!«
»Audrina«, flüsterte Ilian, während Arva in seinem Arm kreidebleich geworden war.
»Arva, ich dachte, du liebst mich? Aber du hast mich nur verarscht. Komm heraus und hol dir das, was von deiner Milda übriggeblieben ist.« Audrina klang verzweifelt und wütend. Hatte sie Milda umgebracht? Ich sah fragend zu Kassandra und ihre Augen bejahten. Arva gab einen erstickten Schrei von sich und wollte herauslaufen, doch Ilian hielt sich fest.
»Du gehst nirgendwo hin, klar?«, knurrte er.
»Du bist ein Mann, du hast mir nichts zu sagen«, zischte sie als Antwort. Zum Glück ließ sich Ilian von diesen verzweifelten Worten nicht beeindrucken und hielt sie weiter fest. Ihr Schluchzen zerriss die Stille in unserem Wohnwagen. Doch es sollte nicht länger ruhig bleiben, denn etwas polterte auf unserem Dach.
»Kommt heraus«, forderte Audrina, »oder meine Mutter wird euch mit ihren Krallen wie Sardinen herausschneiden.« Damit begann der Wohnwagen wie verrückt zu wackeln. Ilian und ich folgten dem gleichen Instinkt und stolperten zu Roran, der durch das Schütteln wach geworden war und schrie. Die braunen Augen meines Freundes sahen mich nur kurz an, doch ich wusste sofort, was zu tun war. Ich schnappte mir das Baby und schob ihm vielleicht etwas unsanft den Schnuller in den Mund, während Ilian versuchte Arva einzuholen, die schon fast an der Tür angekommen war. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass er sie niederringen konnte. Mein Bruder öffnete die Tür eines kleinen Einbauschrankes und riss die Klamotten heraus.
»Rein mit euch«, befahl er mir. Ich presste das Baby fest an mich und ließ mich von meinem Bruder in den Einbauschrank sperren, wo keine Sachen auf uns herunterfallen konnten.
Der Wohnwagen wurde immer noch ordentlich durchgerüttelt und schon fiel der erste Schuss. Offenbar versuchten Thomas und Kassandra durch die Decke hindurch die Brutmutter zu treffen. Der erste Knall war so furchtbar laut und überraschend, dass Roran richtig in meinem Arm zusammenzuckte. Es war so eng, dass ich ihn nicht wirklich ansehen konnte, aber ich spürte seine Tränen in meinem Nacken. Schließlich verlor er auch noch den Schnuller, welcher irgendwo hinter mich purzelte, aber es war mir unmöglich meine Arme nach hinten zu bewegen. Stattdessen begann Rorans zahnloser Mund nun meine Haut abzutasten, auf der Suche nach ein klein wenig Trost.
Plötzlich ruckelte es so fest, dass ich immer wieder mit meinem Gewicht gegen die Tür des Einbauschranks geschmissen wurde, doch sie hielt zum Glück. Thomas musste sie fest verschlossen haben. Weitere Schüsse fielen, als Thomas und Kassandra wohl für einen Moment Balance gefunden hatten und ich hörte das Krächzen der Brutmutter. Das Ruckeln hörte kurz auf, doch dann wurde der ganze Wohnwagen zur Seite geschmissen. Ich schaffte es gerade noch, Rorans Kopf an meine Brust zu drücken, bevor mein Kopf auf seinen geschlagen wäre. Ich hörte die lauten Schreie meiner Freunde.
»Ilian!«, kreischte Arva. »Nein, was machst du da?«
Wieder ertönte ein Krächzen. Doch dieses Mal war es dunkler, grollender, wie ein wütendes Gewitter, das über das Land fegt. Mir war sofort klar, dass dies nur von einem Drachenbullen kommen konnte, und davon hatten wir nur einen vor Ort.
»Nein, nein, nein«, hörte ich Arva flehen, doch schon erklang das schwere Flattern von Ilians Flügeln. Ich presste Roran fester an mich heran. Meine Lage war mehr als unbequem und ich fragte mich, ob man uns hier je wieder herausbekommen würde.
Platzangst begann sich in mir breitzumachen, presste mir die Luft aus den Lungen. In meinen Ohren begann es zu rauschen. So laut, dass alles um mich herum ausgeblendet wurde, sogar Rorans Protestgebrüll. Die Luft wurde stickig und dick, alles um mich herum begann sich zu drehen, als ich plötzlich mit Roran im Arm zu Boden fiel. Ich kam hart auf der Schulter auf und biss mir vor Schmerzen in die Zunge.
Flackerndes Licht des total demolierten Wohnwagens flimmerte in meinen Augen. Das Gesicht meines Bruders schob sich in meine Sichtweite. Er rief mir irgendetwas zu, doch ich konnte ihn einfach nicht verstehen. Das Fiepen in meinen Ohren war zu hoch und zu präsent. Alles andere ging unter. Thomas zog mich auf die Beine und deutete auf den anderen Wohnwagen, in dem André mit Conny, Mischa und Leon verharrte. Er gab mir einen kräftigen Schubs und ich lief los.
Unser Wohnwagen war auseinandergerissen, und so musste ich mir mit Roran im Arm einen Weg durch die Trümmer bahnen. Erst als ich versuchte, über das, was mal die Küchenzeile gewesen war, drüberzusteigen, bemerkte ich Kassandra hinter mir. Sie half mir und redete unentwegt auf mich ein, aber ich verstand kein Wort. Ich wollte ihr irgendwie klarmachen, dass offenbar ein Schuss oder die Angst mir mein Hörvermögen genommen hatte. Doch etwas im Hintergrund lenkte meine Aufmerksamkeit von ihr weg. Ein blauer Drache kämpfte mit einem dunkelgrünen. Arva schien sich ebenfalls verwandelt zu haben – oder der andere grüne war Audrina. Jedenfalls schien der andere Drache auf etwas herumzukauen. Ich konnte es einfach nicht sagen.
Kassandra packte mich an meiner schmerzenden Schulter und schob mich voran. Mir schossen Tränen vor Schmerzen in die Augen. Ich muss einen lauten, klagenden Laut von mir gegeben haben, denn sie ließ mich augenblicklich los, stieß mich aber weiter in Richtung des anderen Wohnwagens. Bevor ich mich umdrehte, sah ich noch, wie sie ein paar Schüsse hinter sich abfeuerte.
André öffnete mir die Tür und wechselte sich erleichtert mit Kassandra ab. Er rannte hinaus zu dem Kampf und die Freundin meines Bruders trat mit mir ein. Conny kam auf mich zugelaufen und zog mich in ihre Arme. Nachdem sie mich gedrückt hatte, nahm sie Roran aus meinen zittrigen Händen. Mischa übernahm das Baby und Conny manövrierte mich auf ein Bett, wo sie mich hinsetzte und ich langsam wieder zu Verstand kam. Das furchtbare Fiepen in meinem Ohr verschwand und wurde durch das Kampfgebrüll der Drachen und die Stimmen meiner Freunde ersetzt.
»Scheiße, das wird verdammt viel Schweigegeld kosten«, hörte ich Kassandras Stimme. »Die Wohnwagen hier sind alle voll besetzt zu dieser Jahreszeit.«
»Zum Glück ist es eher ein kleiner Campingplatz und die vielen Bäume verhindern die Sicht«, versuchte Conny die Situation abzuschwächen. »Und es ist dunkel!«
»Schätzchen«, lachte Kassandra müde. »Mach dir nichts vor.«
Ein elektronisches Knistern erklang und das Walkie-Talkie an Kassandras Gürtel ging an. Ich hörte einen Mann sagen, dass Verstärkung eingetroffen sei. Wer das gewesen war, konnte ich aber auf Grund der miesen Qualität nicht sagen. Es könnte Thomas' Stimme gewesen sein.
»Daraus wird wieder so eine bekloppte Alien-Geschichte, die dann für einige Wochen durch einschlägige Foren geistert«, sprach Kassandra amüsiert weiter. Die Nachricht, dass der Orden angerückt war, erheiterte sie offensichtlich. Ich konnte aber nur an Ilian denken und fragte mich, ob er eine Chance gegen seine Brutmutter hatte? Musste er doch … als Drachenbulle, oder? Dafür ließen die Weibchen doch die Männchen überhaupt in ihre Nähe. Weil sie körperlich stärker waren und sie und ihre Brut beschützen konnten.
»Die halten die Drachen für Aliens?«, hakte Leon erstaunt nach.
»Kommt ihnen jedenfalls logischer vor als Drachen«, antwortete Kassandra und grinste. »Und uns hält man dann für die Men in Black.«
Leon lachte etwas unbeholfen, weil ihn die Kampfgeräusche von draußen zu irritierten schienen. Als dann auch noch plötzlich ein Hagel von Schüssen durch die Nacht donnerte, hielten wir uns alle die Ohren zu. Mischa hielt den kleinen Roran an sich gepresst. Nachdem das Knallen vorbei war, nahm ich ihn ihr wieder ab. Sein zahnloser Mund schrie fast so laut wie die Waffen des Ordens.
»Die wei sind irgendwo in der Luft und in der Dunkelheit dieses Hinterwäldlerkaffs treffen die alles, nur nicht die Drachen«, knurrte Kassandra.
»Was?«, fragte ich erstaunt. »Die treffen noch Ilian!«
»Nein, was denkst du, warum sie nicht die ganze Zeit ballern? Sie warten auf einen günstigen Moment.« Kassandra sah mich mitleidig an. »Keine Sorgen, Lissy. Wir lernen so etwas.«
Wieso beruhigt mich das nicht? Ein weiterer Schuss fiel, dann gab es einen lauten Knall. Es klang, als wäre etwas auf das zertrümmerte Wohnmobil gefallen. Jubelgeschrei erklang und das Schwingen von großen Flügeln.
»Sie haben sie«, sagte Kassandra, die dem Stimmgewirr auf ihrem Walkie-Talkie folgte. Offensichtlich sprachen die Jäger in mehreren verschiedenen Sprachen miteinander. Der Orden hatte also ordentlich Nachschub geschickt. Ich fragte mich, wie viele Jäger es wohl gab, als mir bewusst wurde, dass ich jetzt wohl endlich zu Ilian durfte.
»Wartet hier«, bat uns Kassandra. »Ich schaue erst nach, ob es sicher ist.« Damit öffnete sie die Tür und ging hinaus. Meine Freunde und ich sahen uns an.
»Wo ist Audrina?«, fragte Mischa.
»Ich weiß es nicht«, gab ich ehrlich zu und drehte mich von der Tür weg. Erst jetzt bemerkte ich meinen Adrenalinpegel. Die Taubheit, in die mich meine Angst versetzt hatte, war nun nicht mehr nur aus meinen Ohren, sondern auch aus meinen Gliedern verschwunden. »Ich will zu Ilian.«
»Stets zu Diensten«, hörte ich die geliebte Stimme hinter mir. Ich drehte mich hastig um und entdeckte ihn nackt in der Tür. Conny pfiff und lachte dann dreckig. Ich hingegen stürzte mich mit Roran in seine Arme. Er packte mich an meinen Haaren und im Rücken und presste uns beide an sich heran. Mein Scheitel bekam einen langsamen und sanften Kuss.
»Danke, dass du auf den Kleinen aufgepasst hast«, sagte er schließlich.
»Ehrensache«, murmelte ich. Roran hörte auf zu schreien. Der Geruch seines Vaters schien nicht nur mich zu beruhigen.
»Was ist passiert?«, fragte Leon. »Ist die Brutmutter tot?«
»Ja«, krächzte Ilian und ich roch Rauch. »Ich konnte sie so stark verletzten, dass sie in den Sinkflug gehen musste, wo die Jäger sie bereits erwarteten. Als die Schüsse fielen, schoss sie wieder hoch, wo ich sie empfing und wieder nach unten zwang. Sie hatte kaum die Baumwipfel passiert, da hatte ihr jemand einen gezielten Kopfschuss versetzt.
»Und Audrina?«, wollte Mischa wissen.
»Teile von ihr liegen in der Hecke«, sagte Arva plötzlich. Nackt und zitternd stand sie in der Tür. Sie musste der andere grüne Drache gewesen sein. »Ich schaffte es nicht durch die Baumwipfel abzuheben. Es ging einfach nicht. Da habe ich Audrina gesehen und sie gefressen.«
Mein Hirn brauchte einen Moment um zu kapieren, was sie da getan hatte und warum Audrina teilweise in der Hecke lag. Mit großen Augen sah ich sie an. Erbrochenes klebte an ihren Beinen. Ebenfalls Teile von Audrina.
»Mir ist schlecht«, raunte ich leise.
***
Das Licht des Morgens lag wie Blei auf meinem Körper. Es fühlte sich an, als wären all meine Knochen tonnenschwer und meine Schulter schmerzte immer noch. Ilians Wunden waren über Nacht alle verheilt, nur hier und da war noch eine blasse Ahnung eines Blutergusses. Ein paar der Jäger hatten Kratzer abbekommen, da aber Ilian den größten Teil des Kampfes ausgetragen hatte, waren wir anderen verschont geblieben. Kassandra hatte sich durch das Schütteln im Wohnwagen den Kopf angestoßen und war somit diejenige im Orden, die am meisten abbekommen hatte. Wir saßen alle draußen in den Gartenstühlen, nachdem wir ein wenig das Chaos beseitigt hatten. Nur Thomas rannte nervös herum.
»Wir müssen jetzt mit den verbliebenen Drachen und den Balaurs sprechen«, sagte ein Jäger, den ich nicht kannte. Sein fast kahl geschorener Kopf war mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt, auf dem sich die Sonne spiegelte. »Akzeptieren sie die neue Brutmutter, ist alles in Ordnung. Weigern sie sich, müssen wir sie töten.«
»Nein!«, protestierte ich. »Kann man sie nicht einfach ziehen lassen?«
»Einfach ziehen lassen?«, wiederholte er. »Kind, weißt du, was uns dieser Einsatz gekostet hat? Alleine an Schweigegeld? Ich bin nicht bereit, noch mehr finanzielle Mittel in diese Angelegenheit zu stecken. Entweder sie gehorchen oder sie müssen sterben. Ende.«
»Der Orden muss sich ja nicht einmischen, wenn es schief geht, sie ziehen zu lassen.«
»Wir sollen dann also nur zusehen, wenn diese Drachen dann versuchen deinen … Freund zu töten?« Der Mann zog die Augenbrauen hoch und ich wich seinem Blick aus, da ich nichts Intelligentes als Antwort wusste. Stattdessen sah ich mir Arva an, die immer noch blass und zittrig wirkte. Sie hatte ihre große Liebe verloren. Ich vermochte mir nicht mal vorzustellen, wie sie sich fühlen musste. Ilian saß neben ihr und hielt ihre Hand. Mit seinem Daumen streichelte er sanft über ihren Handrücken.
»Spricht man schon mit dem Nest?«, wollte mein Bruder wissen. Er wirkte ein wenig erschöpft, aber seine Augen waren hellwach.
»Ja«, antwortete der Glatzkopf. »Man versucht gerade unter weißer Fahne zu ihnen hineinzugelangen. Bisher haben sie nur ein Fenster gekippt, was in der Öffentlichkeit nicht wirklich eine Möglichkeit zur Unterhaltung ist.«
Ich wollte nach Hause.
»Meine Mutter sollte mit ihnen sprechen«, schlug Ilian vor. »Auf eine Drachenfrau werden sie hören, zumal meine Mutter sehr geschätzt wird, weil sie so viele Kinder ihr eigen nennt.«
»Ob sie auch noch geschätzt wird, wenn die anderen hören, dass ihr in den Mord an der alten Brutmutter verstrickt wart?«, fragte mein Bruder und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ilian presste die Lippen aufeinander und wich Thomas' Blick aus. Das hieß dann wohl Nein.
»Elyra war nie sonderlich beliebt«, ergriff Arva leise das Wort. »Rabiya und ihre Kinder hingegen schon.« Eine Träne rollte über ihre Wange. »Vielleicht – vielleicht wird es gar nicht so schlimm?«
»Wir werden sehen«, sagte der Jäger ohne Haare. »Wir sollten hier weiter unsere Spuren verwischen und uns zurück auf den Weg nach Köln machen.«
»Nein«, sagte Ilian und sah zu Thomas. »Lissy und ich bleiben noch eine Nacht länger hier.«
»Ach echt?«, sagte ich laut. »Ilian, ich will eigentlich nach Hause.«
»Ich dachte, du wärst gerne mal ein paar Stunden ungestört.«
Hmm, das hatte was. »Hmmh«, grübelte ich laut. »Nein, aber es ist lieb von dir, Ilian. Wir sollten trotzdem nach Hause und sehen, was wir für die anderen Drachen tun können.« Ich warf dem fremden Jäger einen misstrauischen Blick zu. Ilian verstand und nickte. Ich rechnete ihm hoch an, dass er mir die Debatte mit den anderen Drachen ersparen wollte. Damit stellte er mein Wohl über das seiner Familie. Ein Liebesbeweis, der mich nicht nur ins Herz, sondern auch in den Verstand drang. Ilian liebte mich. Aufrichtig. Und mit seiner ganzen Seele. Ich war die reichste Frau der Welt.
»Dann packen wir – schon wieder«, seufzte Conny und ich musste lächeln, weil sie der Gedanke daran so griesgrämig werden ließ. Sie hasste Kofferpacken. Mich ließ eher der Gedanke an das Chaos hier erschauern. Wir hatten zwar schon einiges beiseitegeschafft, aber es war immer noch gut was zu tun. Und ich konnte ja nicht immer Roran vorschieben. Oder doch?
»Ich spiele mit Roran, bis ihr fertig seid«, sagte ich und sah zu dem schlafenden Baby. Mist. »Toll, der Penner lässt mich hängen.«
Ilians Lachen öffnete mir mein Herz und ließ mich kurz vergessen, dass hier diese Nacht zwei Kommunikationsverweigerer und Milda gestorben waren. Wieso nur? Hätte man das alles nicht friedlich klären können? Offensichtlich nicht. Ich gebe zu, ich mochte Audrina nicht, aber dass sie jetzt tot war, war eigenartig. Mendel und Audrina gab es nach den Ferien nicht mehr in der Schule. Dafür aber noch Ilian und Lissy – und die beiden waren mir persönlich lieber, doch sie hätten zu gerne Milda an ihrer Seite gehabt.
***
Trulli rastete im Käfig total aus wegen Arva und Ilian. Egon schlief zum Glück, aber seine bessere Hälfte veranstaltete einen Lärm, dass ich fast schon Angst um ihre Gesundheit bekam. Ilian hingegen war ganz ruhig und hielt die weinende Arva im Arm. Gemeinsam saßen sie auf meinem Bett und ich versuchte mich mit Auspacken zu beschäftigen. Irgendwie kam ich mir störend vor, aber beide hatten drauf bestanden, dass ich bleiben konnte. Zu gütig – in meinem Zimmer. Nachdem ich fertig war, verließ ich sie aber doch und ging nach unten. Rabiya war mit Kassandra zum Versteck ihres Nests gefahren, um zu verhandeln. In der Küche saßen nur mein Bruder und mein Papa.
»Froh, dass es vorbei ist?«, fragte Thomas, als ich hereinkam. Ich zuckte mit den Schultern und starrte in den Kühlschrank.
»Lissy«, ermahnte mich mein Vater nach gefühlten zwei Sekunden. »Das kostet Strom!«
Ich nahm mir nichts heraus und schloss stattdessen die Tür. Seufzend setzte ich mich an den Tisch zu meiner Familie. »Irgendwie bin ich erleichtert, aber froh – ich weiß nicht. Zwei Menschen, die ich kannte, sind gestorben.«
»Drachen«, erinnerte mich mein Bruder.
»Arschlöcher«, korrigierte ich. »Aber dennoch war der Tod sinnlos. Wieso konnten sie Ilian und mich nicht einfach in Ruhe lassen? Wieso durften die Balaurs nicht einfach anders sein?«
»Andersartigkeit macht vielen Angst«, mischte sich Papa ein. »Das war schon immer so.«
»Ich freue mich erst, wenn die anderen Drachen Rabiya akzeptieren und endlich in dem Nest Ruhe herrscht. Wenn niemand Weiteres sterben oder sein Nest verlassen muss. Sie brauchen einander, um in unserer Menschenwelt zu überleben.« So viel hatte ich schon verstanden. »Und es fällt mir schwer fröhlich zu sein, wenn sich oben die beste Freundin meines Freundes die Augen aus dem Kopf heult, weil ihre große Liebe das Leben verloren hat.«
»Sie hätte ihr Maul halten sollen«, brummte Thomas gedankenverloren. Ich wusste, dass er es nicht so hart meinte, wie es geklungen hatte.
»Tja.« Mehr fiel mir dazu nicht ein. Papa erhob sich und starrte in die Kochtöpfe. Carmen hatte schon ein paar Sachen aufgesetzt, aber nachdem wir in Drachenbegleitung eingetrudelt waren, war sie noch mal losgerannt, um Fleisch zu besorgen.
»Wir werden alle sterben«, meinte mein Papa beim Anblick des Essens. »Ob sie mir glaubt, dass ich ein Drache bin?«
Thomas und ich lachten. »Eher nicht«, gluckste ich.
»Alter Verwalter, wenn die Drachen ausziehen, gibt es hier wieder nur ausgerupfte Wiese zu essen.«
»Ich kann dir ja was aus der Kantine mitbringen«, schlug ich zwinkernd vor.
Papa grinste. »Bei der Kohle, die das da kostet, kann man das auch verlangen!«
»Hey«, sagte Ilian und kam zur Tür herein. »Arva ist eingeschlafen.« Er ging herüber zu meinem Vater und sah in die Töpfe. Seine Mundwinkel gingen nach unten.
»Sie holt gerade Fleisch«, sagte mein Papa und Ilian lächelte.
»Ich hatte schon kurz Angst.«
»Die habe ich immer noch«, murmelte Papa und sah ängstlich in die Töpfe. Wollte ich wissen, was darin brutzelte? Ich glaube nicht.
»Meinst du, die anderen sind sauer auf euch wegen Milda, Audrina oder Elyra?«, fragte ich, als Ilians Blick den meinen traf.
»Mildas Eltern werden Elyra die Schuld geben, denn sie hat ihnen befohlen dazubleiben und so konnten sie ihre Tochter nicht verteidigen. Elyra hatte nur Audrina. Ich weiß nicht, ob jemand ihrer Führung nachtrauert, nachdem sie ihnen befohlen hat, Köder für die Jäger zu sein.«
»Ist es wirklich so abgelaufen?«, fragte ich und Thomas nickte brummend.
»Scheiße, die Alte hatte doch den Arsch offen«, staunte ich.
»Natürlich ist das alles auf Grund der Auseinandersetzung mit unserer Familie passiert«, lenkte Ilian ein, »aber ich weiß nicht, inwieweit sie uns da die Schuld für geben werden.«
Thomas' Telefon klingelte und wir sahen ihn alle gespannt an, als er dranging. »Ja?« Er schwieg eine ganze Weile, doch sein Gesicht wirkte erleichtert. »Das klingt gut, Schatz. Kommt ihr jetzt zurück? Okay, richte ich aus.« Er legte auf und sah zu Ilian. »Herzlichen Glückwunsch, du bist jetzt der Sohn der Brutmutter und musst dir keine Sorgen mehr machen, für irgendwen der Deckhengst zu sein.«
Ich weiß nicht, was in diesem Moment geschah, aber es war, als würde mir ein riesiger Stein vom Herzen fallen. Wie vom Blitz getroffen sprang ich auf und fiel Ilian in die Arme. Ich küsste jeden Zentimeter seines Gesichts, während er immer wieder lachend meinen Namen sagte und mich fest an sich presste.
»Jetzt warte doch mal«, gluckste mein Bruder. »Ich habe noch nicht zu Ende erzählt.«
Ich drehte mich in Ilians Umarmung und sah zu meinem Bruder.
»Sie haben Rabiya akzeptiert, allerdings möchte sie einiges anders machen. Sie will den Schutz des Nestes bieten, aber ohne die Vorschriften. Jede Familie für sich, aber doch alle gemeinsam. Jeder soll leben, wie er oder sie es möchte. Rabiya will ihnen keine Vorschriften mehr machen. Weder den Männchen, noch den Weibchen. Das ist ein absolutes Novum für die Drachen und die meisten haben das begeistert aufgenommen. Nur wenige knirschten mit den Zähnen. Der Orden wird dieses Projekt unterstützen, womit euch die Ruhe vor den anderen Nestern gesichert sein sollte. Zumindest hoffen wir das. Schön wäre es, wenn das ein oder andere Nest nachziehen würde, aber das ist Zukunftsmusik.« Thomas atmete tief durch. »Wisst ihr, eigentlich hatte ich hier Urlaub machen wollen.« Mein Bruder grinste und ich ging zu ihm herüber, um ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange zu geben.
»Danke dir, Thomas«, sagte ich.
»Von ganzem Herzen«, fügte Ilian hinzu.