Kapitel 2

»Was schreibt er?«, klang es aufgeregt aus meinem Handy.

»Ich traue mich nicht«, wimmerte ich. »Was ist, wenn er was Gemeines schreibt?«

»Glaubst du nicht, Ilian hätte die Eier, dir so etwas persönlich zu sagen?«

»Ich weiß nicht, ich kenne seine Eier nicht!« Wir lachten zusammen und ich klickte auf die Nachricht. Ich schloss meine Augen und atmete tief durch. »Na toll!«

»Was?«

»Da steht nur: Danke fürs Annehmen

»Mehr nicht?«, quietschte Conny eine Tonlage höher. »Mit Idiotenapostroph oder ohne?«

»Nein, mehr nicht … und ohne!« Erklärt ihr mich für bekloppt, weil ich echt überlegte, mir diese Zeile irgendwo abzuspeichern? Vielleicht als Screenshot? Es war immerhin von ihm. Er saß gerade irgendwo ebenfalls am Computer … mein Herz machte Purzelbäume.

»Schreibst du was zurück?«

»Was denn? Kein Ding!? Oder: War echt anstrengend, habe mir eine Sehnenscheidenentzündung beim Klicken zugezogen!«

»Beides«, gluckste meine Freundin.

»Okay«, raunte ich, schaltete das Handy auf Lautsprecher und sprach nach, was ich schrieb. »Hallo Ilian, kein Ding. War aber echt anstrengend. Habe mir beim Anklicken eine Sehnenscheidenentzündung mit dreifachem Fingerbruch zugezogen. Liebe Grüße und hau rein, Lissy.« Ja … gut. »Wie findest du es? Zu oberflächlich?«

»Göttlich!«, trällerte meine beste Freundin. »Schick ab!«

»Schon erledigt.« Ich seufzte. »Hilfe Conny, ich bin so verknallt.«

»Weiß Leo das?«

»Nein, natürlich nicht. Wieso?«

»Na, ich dachte zwischen euch bandelt sich was an nach seinem Geburtstag und dem Alkoholunfall.«

Oh nee … nee, nee. »Er ist ja ganz süß, aber nicht mein Ding.« Ich hörte, wie sich unten die Tür öffnete. Da mein Vater mich nicht rief, hatte er seine Worte also wahrgemacht und mir nichts gekauft. Na dankeschön! »Hast du den Eindruck, Leo will etwas von mir?«

»Außer Sex? Eigentlich nicht …«

»Das ist echt schlimm!«, stimmte ich ihr zu. »Wenn du mal einen rangelassen hast, wirst du den nicht mehr los. Die Kerle rennen dir hinterher wie Hirnlose!«

»Da haben wir die Lösung … du musst nur Ilian vögeln.«

»Bin dabei!«, gluckste ich und wir lachten.

»Der Typ, mit dem du dein erstes Mal hattest, meldet sich auch immer noch regelmäßig, oder?«

Ich war fünfzehn gewesen und er ein Freund eines Cousins zweiten Grades. Zu der Zeit hatte ich gerade eine ganz üble »Ich-hasse-die-Welt-und-sie-mich«-Phase. Meine Mutter war an Krebs erkrankt und obwohl ich gedacht hatte, dass sie mir nichts bedeutete, ging es mir schlecht. Er war da und … na ja … danach ging es mir auch nicht besser. Neben ihm hatte es nur noch Leo in meinem Bett gegeben… und das war definitiv ein Alkoholunfall gewesen.

»Oh ja, mindestens eine SMS pro Woche!« Noch eine rote Eins! »Nachricht!«, hechelte ich.

»Lies vor!«

»Ja, ja!« Meine Augen flogen bereits über die Zeilen und ich wusste auf einmal nicht mehr, wie man redet.

»Nun mach schon!«, drängte Conny.

Hallo Elisabeth,

darf ich Elisabeth schreiben?

Ich finde das um so vieles schöner als Lissy.

Es tut mir leid, dass du dich – durch mein Zutun – so schwer verletzt hast.

Ich hoffe, deiner Hand geht es bald besser.

Grüße

Der reumütige Ilian

»Lissy? Lebst du noch?«

»Nein … ich bin tot.«

***

»Oh mein Gott, was ist das? Wiese?«, fragte ich, als ich auf die grüne Pampe schaute, die Carmen für uns zum Abendbrot mitgebracht hatte. Nee, da blieb ich lieber bei einer guten alten Scheibe Schwarzbrot mit Käse!

»Das ist eine Brennnessel-Gänseblümchen-Suppe!«, erklärte Carmen enthusiastisch und wollte mich probieren lassen. Ich wich gekonnt aus.

»Nein, danke … das sieht aus, als hätte man im Garten willkürlich rumgerupft und es dann mit Wasser vermischt.« Ernsthaft!

»Irgendwie habe ich heute keinen Hunger«, brummte mein Vater und schob mit seinem Löffel eine Gänseblümchenblüte über den Teller.

»Iss!«, ermutigte ich ihn und klopfte auf seine Schulter. »Da ist bestimmt auch die ein oder andere Ameise mit drin.«

Er funkelte mich warnend an.

»Hmm, Fleisch ohne Knochen … jammi!«

Carmen seufzte genervt und gab meinem Vater zu verstehen, dass sie zumindest erwartete, dass er probierte. Tapfer hob er den Löffel zum Mund und schloss die Augen, als er sich eine Portion Garten gönnte. Sofort spuckte er alles wieder auf den Teller.

»Entschuldige, Carmen, aber das kann ich nicht essen. Ich bin ein Mann, keine Schnecke!«

»Diese Familie gesund zu ernähren ist ein Ding der Unmöglichkeit!«, antwortete sie erschöpft. »Dann mach dir eben ein Brot.« Das ließ mein Vater sich nicht zwei Mal sagen.

»Thomas hat gemailt«, wechselte ich das Thema.

»Und?« Papa hielt inne und sah mich gespannt an. »Was treibt er so?«

»Er sagt, es sei heiß und anstrengend, aber er will im Sommer für zwei Wochen herkommen.«

»Solange ich das Flugticket nicht bezahlen muss«, sagte Papa dem Kühlschrank.

»Und er bringt jemanden mit«, machte ich ihn neugierig.

»Oh, hat er eine neue Freundin?«, fragte Carmen, nachdem sie ein paar Gänseblümchen heruntergewürgt hatte. Es schmeckte ihr auch nicht … das sah man. Den Sturkopf hatten wir wohl gemein.

»So wie das klang, ja. Viel hat er nicht verraten, denn er hat wohl gerade Prüfungen und konnte nicht so ausführlich schreiben.« Ich spülte den letzten Bissen meines Brotes mit einem Schluck Orangensaft herunter und lehnte mich im Stuhl zurück. »Wo wir gerade von Thomas sprechen … was ist mit meinem Tattoo?« Mein großer Bruder hatte sich das gleiche Tattoo wie unsere Mutter stechen lassen. Einen Drachen auf der Unterseite des rechten Unterarms. Ich wusste nicht wieso, aber ich fand das unheimlich toll … es hatte ein bisschen was von einem Tribal in S-Form. Dass es ein Drachen war, erkannte man nur am Kopf. Seit einem halben Jahr lag ich meinem Vater damit nun schon in den Ohren.

»Wenn du achtzehn bist, darfst du mit deinem Körper tun, was du willst«, brummte er und biss in sein lieblos zusammengeschustertes Wurstbrot. Offensichtlich hatte er sich beim Imbiss nicht satt gegessen.

»Du hast gesagt, dass du noch einmal drüber nachdenkst!«, protestierte ich. Ich wollte nicht noch über ein Jahr lang warten!

»Wieso bist du eigentlich so dagegen, Andreas?«, beteiligte sich Carmen das erste Mal an der Diskussion.

»Ich will nicht, dass sie mir später die Schuld gibt, weil ich es nicht verhindert habe!«, sagte er mit vollem Mund.

»Papa!«, raunte ich genervt.

»Aber, Andreas, du musst das mal von der Seite sehen: Tattoos sind Kunst. Körperkunst. Dieser Drachen ist eine Erinnerung an ihre Mutter … sieh es als die sichtbar gemachte Narbe, die ihr Tod hinterlassen hat!«

Ich hatte gerade den Mund voller O-Saft, nickte aber heftig und sah Papa mit großen Augen an. Ja … verdammt, Carmen hatte Recht!

»Das ist etwas, was Elisabeth ihr Leben lang mit sich herumtragen wird, dann kann sie es auch auf der Haut haben«, fügte Carmen hinzu.

»Aber sie wird doch gerade erst siebzehn«, seufzte Papa. »Muss sie jetzt schon irgendwelche«, er machte Gänsefüßchen in der Luft, »NARBEN… mit sich herumtragen?« Das war zu hoch für Papa. Hilflos zuckte er mit den Schultern. »Lissy, ich überlege mir das noch mal!«

»Oh Mann, Papa«, zickte ich. »Das sagst du JEDES Mal.«

»Ich spreche mit ihm, Elisabeth«, kam mir Carmen erneut zur Hilfe. »Immerhin hast du ja bald Geburtstag!« Das war doch so gut wie ein Versprechen, oder? Fröhlich quietschend sprang ich auf und gab dem Stiefmonster einen Kuss auf die Wange. Wuuuhuuuu!

***

Liebes Tagebuch,

ich habe mich getraut.

Ich habe auf sie gewartet. Die Sonne hat ihr Haar in goldene Seide verwandelt. Es waren nur wenige Worte.

Sie ist unerreichbar für mich.

Von einer anderen Welt. Als ich es aus ihrem Mund hörte, habe ich mit einer dummen Ausrede die Flucht ergriffen.

I.

***

»Ich fühle mich total deplatziert«, maulte ich Conny am Samstagabend ins Ohr. War ich hier in diesem Call-on-me-Video gelandet? Oder hatte ein bekloppter Sektenanführer zum Fruchtbarkeitstanz aufgerufen? Ich sah zu Conny. Sie trug wie die Frauen um mich herum knallenge Klamotten und ließ mich ganz einsam als Lump mit weitem Shirt und einer Boxershorts meines Bruders herumrennen. Hey, das ist Boyfriend Style und in jedem Universum, außer diesem, gerade total trendy!

»Wenn er nicht hier ist, erwürge ich dich!« Ich war total auf Ilian-Entzug. Außer in Spanisch hatte ich ihn nicht einmal auf dem Flur oder dem Schulhof gesehen. Es war, als hätte sich eine Erdspalte aufgetan und die Perfekten verschluckt und immer nur für den Unterricht ausgespuckt. Natürlich hatte er mich nicht einmal angesehen oder mit mir gesprochen! Arsch. Aber ein verdammt heißer Arsch … Och menno!

»Er war bisher immer hier«, versuchte mich Conny zu beruhigen. Woher wollte sie das wissen?

»Als ob du vor meinem Outing darauf geachtet hättest!«

Sie sah mich an, als wollte sie mir eine Ohrfeige geben. »Mann, bist du verknallt!«

Jaaaa…. Maaaaaann!

Wir gingen zusammen zu den Laufbändern, aber nirgendwo eine Spur von Ilian. Ich knirschte mit den Zähnen und schenkte Conny einen wütenden Blick.

»Hey!«, begann sie sich zu verteidigen. »Dafür kannst du mich nicht verantwortlich machen, außerdem kann er immer noch kommen oder woanders hier in dem Laden sein.« Sie kletterte auf einen Crosstrainer gegenüber der Laufbänder. Oh Mann, sie wollte echt Sport machen. Ich nahm das Haargummi um mein Gelenk ab und wickelte meinen Pferdeschwanz zum Dutt. Das Handtuch, das über meiner Schulter lag, landete dabei auf dem Boden. Ich kickte es zu dem Crosstrainer neben Conny und steckte mein Handy in den BH und die Kopfhörer ins Ohr. Na ja, wenn ich schon mal hier war, dann konnte ich ja auch ein wenig Sport treiben, oder?

Irgendwann machte es einen riesigen Spaß! Ich weiß nicht, ob mein Körper durch die sportliche Betätigung Glückshormone produzierte oder ob es an Conny lag, aber wir lachten uns die meiste Zeit schimmelig. Die Tatsache, dass Ilian nicht auftauchte, lag mir zwar auf der Seele, aber meine beste Freundin reichte durchaus, um Spaß zu haben! Wir tranken so einen ulkigen, rosafarbenen Gesundheitsshake an der hauseigenen Bar und gingen dann zu den Laufbändern zurück.

»Ich muss unbedingt ein Beweisfoto machen!«, sagte Conny plötzlich und zückte ihr iPhone. »Lissy treibt freiwillig Sport!«

»Oh ja«, stimmte ich zu. »Das müssen wir bildtechnisch festhalten.« Ich kletterte auf ein Laufband.

»Tu mal so, als würdest du laufen!«, wies mich Conny an. Ich schaltete das Gerät ein und stellte auf ganz langsam. In Zeitlupe … oder Neudeutsch Slowmotion … rannte ich und wischte mir Schweiß von der Stirn. Mit übertriebenen Bewegungen gab ich einfach alles. Conny lag fast vor Lachen am Boden. Ich schloss die Augen und sang aus vollem Herzen einen Song von Micky Kraus. »Schatzi, schenk mir ein Foto. Ein kleines Foto von dir. Schatzi, schenk mir ein Foto, dann schenk ich dir auch eins von mir!«

Connys Lachen bekam plötzlich eine ganz andere Qualität. Ich öffnete die Augen und fiel rückwärts vom Laufband.

»Ilian«, kreischte Conny, »rette sie!«

Binnen Sekunden war er, lachend, von seinem Platz neben meiner besten Freundin zu mir gestürmt. Zum Glück war ich schneller.

Ich hob abwehrend die Hände. »Schon gut, mir geht’s gut!«

Ilian zog sein Handtuch von der Schulter und schüttelte lachend den Kopf. »Viel Spaß noch, Mädels!« Damit ging er ans andere Ende des Raumes, um selbst auf ein Laufband zu klettern.

1A, Lissy. 1A!

***

»Ich könnte immer noch schreien vor Lachen!«, erzählte Conny lachend am nächsten Tag am See unseren Freunden. Sie hatte kein Detail der Story ausgelassen. Nur mein Verliebtsein natürlich. »Und wie heroisch er dir zu Hilfe geeilt ist.«

»Nachdem du ihn dazu aufgefordert hast, ja«, grummelte ich und ordnete mein Bikinioberteil. »Sehr heldenhaft.«

Leon lachte.

»Dass du überhaupt ins Fitnessstudio gegangen bist«, gluckste Mischa. Sie hat wie ich blonde, lange Haare, allerdings dunkler, fast schon straßenköterbraun. Mit einer Körpergröße von nur knapp 1,59 Meter sticht sie zwischen uns immer heraus. Sie ist unsere Mikrobin! So im groben Ganzen hat sie noch immer eine sehr kindliche, schlanke Figur.

»Und die Fotos sind zum Brüllen.«

»Wehe du postest die auf meiner Facebookseite!«, warnte ich Conny mit einem vielsagenden Blick. Ilian könnte sie sehen. Connys Gesichtsausdruck ließ mich wissen, dass er dabei gewesen war und von daher die Fotos nichts Neues waren.

»Seit wann so empfindlich, Süße?«, wollte Mischa wissen und verstaute ihr Handy in ihrer Tasche. »Du bist doch sonst für so einen Scheiß zu haben?« Oh, oh …

»Bist du irre?«, konterte ich. »Ich im Fitnessstudio? Das könnte meinem guten Ruf schaden.« Ich rutschte auf meinem Handtuch hin und her. Der Muskelkater würde mich noch umbringen. Mischa erhob sich und nahm den Wasserball. Leon war sofort an ihrer Seite. Langsam glaubte ich echt, dass er was von ihr wollte …

»Kommst du auch Lissy?«, wollte Conny wissen.

»Nein«, ich stopfte mir einen Kaugummi in den Mund, »ich bewache den Kram!« Die Wiese war total überfüllt bei dem heißen Wetter. Ein Paradies für Diebe. Conny, Mischa und Leon verschwanden, um sich im See abzukühlen und ich steckte mir meine Kopfhörer ins Ohr. Ich drehte mich auf den Bauch und sah mich in der Gegend um, während Adele meine Ohren mit ihrer Stimme verwöhnte. Der himmlische Geruch von Sonnenmilch wehte in meine Nase und irgendwo weiter weg grillte jemand Würstchen. Ich liebte den Sommer!

»Lissy!«, riss mich Conny aus meinen Gedanken.

»Mann, du warst ja lange weg«, brummte ich und zog mir genervt einen Stöpsel aus dem Ohr.

»Da hinten sind Arva und Audrina.«

Ich schoss hoch. »Er auch?«

»Nein, sie sind alleine.«

Ich rollte mit den Augen. »Komm wieder, wenn es was für Heterodamen zu sehen gibt.«

Conny lachte und trat mir liebevoll auf den Hintern, bevor sie ging. Nachdem sie fort war, packte mich dann aber doch die Neugier. Ich rollte mich wieder herum und setzte mich auf. Mit den Augen suchte ich die Häupter der anderen Badegäste ab. Zum Glück waren Audrinas feuerrote Haare leicht zu erspähen. Blanker Neid packte mich, als ich mir ansah, wie Arva in ihrem Bikini aussah. Der Gedanke, dass Ilian diesen Körper liebte und gewohnt war, legte sich auf meine Stimmung wie ein Schleier aus Blei. Lange, perfekte Beine, ein wunderschöner Apfelpopo, ein flacher, durchtrainierter Bauch und zwei wunderschöne, große Brüste. Es war zum Kotzen. Mein Herz verknotete sich, als mein Kopfkino startete und ich mir Ilian und Arva im Bett vorstellte. Wie er diese perfekten Brüste berührte und liebkoste … ein Kloß im Hals hätte mich fast würgen lassen. Ich hatte eigentlich nie Komplexe … ich mochte meine Rundungen … aber im Vergleich mit Arva … keine Chance. Ich schnappte mir mein Handy. Jetzt brauchte ich Pink … LAUT!

***

Am Montagmorgen betrat ich die Spanischklasse mit immer noch demselben leeren Gefühl im Bauch. Wem machte ich da eigentlich was vor? Ich würde niemals, … nie nie niemals an Ilian Balaur herankommen. Er spielte in einer Klasse weit über mir. Dennoch hatte ich mich heute Morgen besonders schick gemacht und wenn es nur für mich war. Verdammt, der Kerl wusste gar nicht, wie gut er es bei mir haben würde!

Wieder die gute Pink im Ohr und Kaugummi kauend, bahnte ich mir meinen Weg vorbei an Sven zu meinem Platz. Ilian saß bereits da und fummelte an seinem Handy herum. Ich konnte es kaum glauben, als ich plötzlich Svens Hand an meinem Hintern spürte.

»Nimm die Hand von meinem Hintern«, warnte ich und meine Stimme wurde mit jedem Wort lauter, »oder du singst demnächst Sopran!«

Lachend zog Sven seine Hand zurück und ließ sich von seinen Neandertaler-Freunden beglückwünschen. Oh Mann, Sven … falscher Tag. So was von falsch. Ich setzte mich auf seinen Schoss und genoss seinen verblüfften Gesichtsausdruck.

»Hör zu Schatzemann, die Mutti erzählt dir jetzt mal eine kleine Geschichte.« Ich spürte Ilians Blick auf mir, also lehnte ich mich näher an Svens Ohr und flüsterte: »Mach das noch einmal und ich sage meinem Vater, wo du wohnst. Er hat, was Jungs in meinem Alter angeht, eine Null-Toleranz-Politik!« Das war gelogen, aber woher sollte Sven das wissen? »Der schießt dir mit seinem Jagdgewehr«, welches mein Vater in Wahrheit nicht besaß, »jeden Finger einzeln ab.« Ich erhob mich und sah in Svens blasses Gesicht. Laut fügte ich dann hinzu. »Außerdem stehe ich auf Frauen, du Sackträger.« Damit ließ ich mich unter dem Gejohle der Klasse auf meinen Platz fallen. Ilian sah mich immer noch an, deswegen drehte ich mich zu ihm um, machte eine Kaugummiblase und fragte »Was?«, nachdem sie geplatzt war. Er sah ohne einen weiteren Kommentar weg und widmete sich wieder seinem Handy. Ich tat es ihm nach und schaute bei Facebook rein. Eine Nachricht erreichte mich.

Entschuldige, ich wollte dich nicht anstarren.

Seid ihr heute wieder im Fitnessstudio?

Ich sah zu ihm herüber, doch er erwiderte meinen Blick nicht.

Du weißt schon, dass ich neben dir sitze?

Jetzt sah er rüber, sagte aber nichts. War er sich zu fein, mit mir in der Öffentlichkeit zu sprechen? So ein eingebildeter Arsch! Bevor ich weiter reagieren konnte, kam unser Lehrer herein.

***

Liebes Tagebuch,

die Hitze in mir wird unerträglich.

Ich spüre in jeder Faser, dass mein Geburtstag naht. Meine Gelenke tun mir weh und der Rauch in meinem Hals droht mir gelegentlich die Kehle zu zuschnüren.

Ich wollte heute mit ihr reden. Ich wollte es! Aber die Wut auf diesen Kerl hat es mir unmöglich gemacht. Ich musste mitten im Unterricht ohne ein Wort auf Toilette verschwinden, weil mein Hals vom Rauch brannte und kratzte.

Es war nicht nur die Wut.

Sie ist noch viel weiter von mir entfernt, als ich gedacht hatte.

Meine Befürchtungen sind leider wahr geworden.

Ich weiß nicht, was ich tun soll?

Mir tut alles weh.

Innen und außen. Nur das Laufen bringt mir Frieden.

Also laufe ich, bis ich fast umfalle.

I.

***

»Was hast du bei der Vier raus?«, fragte ich Leon, der jetzt in sein Heft sah und die schwarzen Haare aus seiner Stirn strich.

»Minus drei und du?«

Ich radierte mein Ergebnis aus. »Ich jetzt auch.«

Leon sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Aber der Weg ist immer noch falsch!«, protestierte er und seine Stimme kiekste nach oben. Armer Kerl, er war nun schon seit einem Jahr im Stimmbruch, aber bei ihm war es eher ein schleichender Prozess. Er quiekte also nicht die ganze Zeit, sondern nur ab und an.

»Mir doch egal …« Ich konnte eh an nichts anderes mehr denken, als endlich das Geburtstagskind Ilian zu Gesicht zu bekommen. Was sollte ich machen? Ich war süchtig nach ihm, auch wenn er nie mir gehören würde.

»Lissy«, seufzte Leon und begann in meinem Heft herumzukrakeln.

»Schatzemann, das ist mir eeeegaaaahaaaal!«

Seine liebevollen blauen Augen sahen mich vorwurfsvoll an. Ich wuschelte ihm über den Kopf und schob ihn von meinem Heft weg.

»Und wenn wir abgeben müssen?«

»Müssen wir schon nicht.«

»Willst du nicht wenigstens den richtigen Weg abschreiben?«

»Hase, bleib mal cool! Ich schreibe doch jetzt nicht ab. Wozu habe ich den Scheiß denn dann gestern überhaupt gemacht?!« Es war echt zu süß, wie er um meine Mathekenntnisse besorgt war!

»Aber Mathe ist …«

»Wenn du jetzt sagst«, unterbrach ich ihn, »Mathe ist wichtig, zieh ich dich an deinen Eiern durch die Klasse!«

Sein Mund klappte augenblicklich zu und er begann am Rand seines Heftes kleine Kringel zu malen. Ein paar Sekunden später holte er Luft zum Reden.

»NEIIIIEEEEN!«, sang ich vor mich hin und Leo begann zu lachen.

»Du bist so ein Sturkopf!«

»Ich tu mein Bestes.«

Frau Goldstein, unsere Mathelehrerin, betrat das Klassenzimmer. Es war Leon zu verdanken, dass ich in diesem Kurs saß. Mit seiner Nachhilfe hatte ich mich in den A-Kurs gemausert. Die Lehrerin begann damit, die Hausaufgaben abzufragen. Ich meldete mich freiwillig bei einer Aufgabe, die Leon und ich gleich hatten und entkam somit der bösen, falschen Aufgabe vier. Natürlich sammelte Frau Goldstein die Hefte nicht ein. Triumphierend lächelte ich Leon zu, der ein leises »Glück gehabt!« knurrte. Ich legte ihm versöhnlich meinen Kopf auf die Schulter und verweilte da den Rest der Stunde (außer einer von uns meldete sich). Das war ein angenehmes Plätzchen, die optimale Höhe, ein lieber, vertrauter Duft nach Seife und Salamibrötchen. Es wäre alles so einfach, wenn Leon und ich uns einfach ineinander verknallen könnten.

Seufzend erhob ich mich, nachdem es geklingelt hatte. Frau Goldstein zwinkerte mir glücklich zu, weil ich heute so schön mitgemacht hatte und schenkte dann Leon ein anerkennendes Nicken. Sie wusste genau, wie der Hase lief.

»Kommst du mit in die Kantine?«, fragte ich meinen Kumpel.

»Und Mischa?«, fragte er.

»Wie wäre es wenn wir erst in der Kantine essen und Mischa mitkommt. Sie darf da zwar nicht ihr Essen auspacken, aber wir können ja schnell machen und dann gemeinsam in den Park gehen?!« Wäre doch blöd, wenn wir wegen der Sache unsere Mittagspause jetzt immer getrennt verbringen müssten. « Leon nickte und wir schlenderten gemeinsam zu dem »Zutritt-nur-für-Lehrer-und-Schüler«- Schild, an dem wir uns immer zu den Pausen trafen. Mischa wartete bereits.

»Hallo ihr zwei!«, rief sie uns zu und ging dann auf Zehenspitzen, um Leon und mich mit Küsschen zu begrüßen. An Leons Wange verweilte sie etwas länger als an meiner. Ein Grinsen stahl sich in mein Gesicht.

»Wo ist meine Frau?«, wollte ich wissen und sah mich um.

»Seid ihr zwei das Spielchen nicht langsam leid?«, gluckste Leon und begann ebenfalls den Schulhof nach ihr abzusuchen. Ich entdeckte sie, wie sie gerade aus dem Hauptgebäude kam … aber …

»Spricht die da gerade mit Arva Zmej?«, schrillte Mischas Stimme an mein Ohr. Ja, das tat sie. Mit einem Winken verabschiedete sie sich und rannte auf uns zu. Ihre Augen schrien förmlich: NEUIGKEITEN! Um Kontrolle ringend kam sie bei uns an und begrüßte uns der Reihe nach.

»Was wolltest du von Arva?«, schoss es aus Mischa heraus.

»Das wüsste ich auch gerne«, brummte ich leise vor mich hin.

»Wir wurden in Bio mal wieder nach Nachnamen in Gruppen eingeteilt, also rutschte Herr Balaur zu eurer juten, alten Frau Brenner in die Gruppe. Da aber der feine Herr heute zu Hause geblieben ist«, ihr Blick schweifte kurz zu mir, »bat Frau Schmmmei oder so – Mensch, den Namen kann keiner aussprechen – darum, dass ich ihr die Gruppenergebnisse mitgebe, da wir übermorgen weiter daran arbeiten.«

»Zmej«, korrigierte Mischa sie. »Das heißt Drache.«

»Aha«, meinte Conny mit einem Mir-doch-egal-Unterton. In mir brach alles wie ein Kartenhaus zusammen. Na toll, und ich hatte den Vorschlag gemacht, gemeinsam essen zu gehen. Was hätte ich jetzt dafür gegeben, mit Conny alleine zu sein.

»Hat Lissy euch schon erzählt, dass Ilian ihr neulich eine Freundschaftseinladung bei Facebook geschickt hat?«

Ja, Leon hatte ich es erzählt. Mischa noch nicht.

»NEIN?«, staunte sie daher. »Echt?«

»Jap«, versuchte ich gespielt lässig zu glucksen.

»Der hat heute Geburtstag. Sicherlich reingefeiert und jetzt einen fetten Kater«, meinte Conny.

Ich wusste, dass es ein Versuch war, mich zu trösten, und dankte ihr innerlich.

»Skandal!«, sagte Mischa grinsend.

»Und die offizielle Meldung?«, fragte Leon mit amüsiert hochgezogenen Augenbrauen.

Conny sah kurz unsicher zu mir. »Fieberkrampf.«

Mein Herz machte einen Aussetzer.

»Bekommen das nicht nur kleine Kinder?«, grübelte Leon, unser angehender Arzt.

»Was weiß ich?«, keifte Conny, als sei ihr die Nachricht total egal.

In der Kantine kickte ich meine Schuhe von den Füßen, schnappte mir mein Handy unter dem Tisch, öffnete die Facebook-App und ging auf Ilians Nachricht von gestern.

Hallo Ilian, wollte dir gerade zum Geburtstag gratulieren, da sagt mir Conny, dass du heute krank bist. (Du hast übrigens die Ehre, in einer Arbeitsgruppe in Bio mit ihr zu sein!) Ich hoffe du hast trotzdem einen schönen Tag.

Grüße,

Lissy

Ich drückte auf Senden und legte mein Telefon schweren Herzens zur Seite. Mit viel Selbstbeherrschung würgte ich das Essen herunter. Wenn ich heute Abend wieder den Kühlschrank plünderte, würde mein Vater ausrasten. Leon schlang sein Essen herunter und gab Mischa ein paar seiner Fritten ab. Ein richtiger Kavalier! Ich aß langsam … nicht nur, weil mir der Hunger vergangen war, sondern auch, um Leon und Mischa schon mal vorzuschicken. Als ich endlich mit Conny alleine war, strich mir diese über den Arm.

»Der hat bestimmt nur ordentlich reingefeiert!«, versuchte sie mich zu trösten.

»Und warum sind die anderen dann topfit und anwesend?« Ich nickte unauffällig zum Tisch der Perfekten. Sie wirkten allesamt fröhlich. Selbst Arva – wie konnte sie nur?

»Was weiß ich, vielleicht haben sie nicht so viel getrunken?«

Ich nahm seufzend mein Handy wieder hervor. »Er hat geantwortet!«, jubilierte ich.

»Wann hast du ihm geschrieben?«, fragte Conny verwirrt.

»Gerade eben … man, scheiß Handyempfang … lad schneller!«

Conny steckte den Kopf neben mich und gemeinsam warteten wir darauf, dass die Nachricht lud.

Danke, Elisabeth/Lissy (du bist mir noch eine Antwort schuldig!).

Ich fühle mich zutiefst geehrt.

Was macht die Hand? Ach, und der Uhrzeit nach: Guten Appetit.

Waaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah! Mit Herzklopfen tippte ich in die leere Zeile, um ihm zu antworten.

Dankeschööön! Mein Schnitzel war allerdings mehr ein platt gehauener Fahrradreifen. Ieeks!

Bitte Lissy! Elisabeth klingt so nach alter Frau.

Ach und der Hand geht es gut, danke der Nachfrage!

Was hast du eigentlich?

»Gut?«, fragte ich Conny. Sie nickte und ich drückte auf Antworten. Vollkommen fertig ließ ich mich in die Arme meiner besten Freundin sinken.

»Ich muss sterben.«

»Nein, das musst du nicht.«

»Conny, ich bin total verrückt nach ihm … jedes Wort von ihm … wow, ich meine, … es kribbelt überall, mein Herz steht kurz vorm Infarkt!«

Gemeinsam starrten wir auf mein Handy, bis die erlösende Antwort kam.

Liebe Elisabeth,

ein letztes Mal, versprochen! Ab jetzt werde ich Lissy verwenden. Wirklich zu schade. Eine der schönsten Frauen der Geschichte, Kaiserin Elisabeth von Österreich, hörte ebenfalls auf deinen Namen. Aber wenn dir Lissy lieber ist, dann soll es so sein.

Mir geht es schon wieder gut. Ich wäre ja zur Schule gegangen, aber meine übervorsichtige Mutter hat mich hierbehalten. Dabei wäre es in der Schule entspannender gewesen. Ich habe einen älteren Bruder und sechs jüngere Geschwister. Drei davon sind noch so klein, dass sie noch nicht in den Kindergarten gehen. Statt also im Bett zu liegen und friedlich Zeichentricks (ich bin der festen Überzeugung, dass die eine heilende Wirkung haben!) zu schauen, habe ich jetzt schon drei Bilder gemalt, einen Legoturm gebaut und zwei Windeln, deren Inhalt ich dir nicht näher beschreiben möchte, gewechselt. Sehr entspannend.

Liebe Grüße,

Ilian

»Conny, halte mich!«, seufzte ich. Mir wurde schwindelig. »Wer ist diese Kaiserin?«

»Sissy, du Hohlbirne!«, schrie sie mich fast an. Ach ja … Oh Mann, ich war so durcheinander. Dabei sah ich die Filme so gerne!

»Jetzt wissen wir immer noch nicht, was er hat.«

»Acht Kinder«, staunte ich. »Den Eltern muss oft langweilig sein.«

Conny gab mir einen liebevollen Klaps in den Nacken. »Schon mal davon gehört, dass man sich eine Großfamilie bewusst wünschen kann?«

Ja, denn Conny tat es. Ihr Traum war es, mal Mutter zu werden. Wäre Ilian der Erzeuger, würde ich glatt mitträumen!

Da kam noch eine Nachricht.

Ach könntest du Conny bitten, Arva alle Biounterlagen mitzugeben? Mir ist so langweilig und ich hätte gerne was Sinnvolles zu tun …

»Schon erledigt«, summte Conny vor sich hin.

Ich würde es dir ja bringen, habe eine Freistunde, aber Conny hat es Arva schon mitgegeben.

Ilian kam immer zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Er konnte also nicht weit weg wohnen.

»Bist du irre?«, gluckste Conny und sah mich mit großen, leuchtenden Augen an.

»Keine Ahnung, was mich da geritten hat … es ist, als wäre er ein Magnet, der mich anzieht.« Wieso hatte ich das geschrieben? Das war so … aufdringlich!

»Komm«, sagte Conny und zog mich auf die Beine. »Wir gehen noch ein paar Minuten zu Leon und Mischa in den Park, bevor du noch auf weitere dumme Gedanken kommst.«

Ich nahm meine Tasche und zog mir meine Ballerinas wieder an. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie Milda aufstand und etwas von Arva entgegennahm. Sie hielt ihr Handy am Ohr, als sie auf uns zugelaufen kam.

»Lissy?! Conny?!«, rief sie, als wir gerade gehen wollten. Wie angewurzelt blieben wir stehen.

»Ja, ich habe sie erwischt«, sagte sie zu ihrem Telefon. Milda hielt mir einen Zettel hin … Gooott, sahen ihre Fingernägel heute wieder toll aus! »Ich soll dir vielen Dank im Voraus von Ilian ausrichten!«

Ich nickte betäubt.

»Weißt du, wo er wohnt?«

»Äh, nein?!«

Milda sah kurz von mir und dem gleichzeitigen Telefonat überfordert aus. Mit einem Lächeln hielt sie mir plötzlich ihr Handy hin. Meine Hände waren schweißnass, als ich es ihr abnahm.

»Hallo?«, brachte ich dünn und piepsig hervor.

»Hallo Lissy.« Ilian. Seine Stimme machte Pudding aus meinen Knien. »Weißt du, wo die Metzgerei Drake ist?«

»Ja, da hole ich schon mal was auf dem Heimweg.«

Er lachte ein warmes, liebevolles Lachen … ich war kurz vor einer Ohnmacht. »Das ist schön, die gehört Mildas Eltern.«

»Oh!«, machte ich und sah der angesprochenen Person ins Gesicht.

»Okay, wenn du davor stehst, geht es rechts einen kleinen Weg rein. Da kommst du in einen großen Innenhof mit Torbogen. Ich sammele dich da ein.«

»Das schaffe ich, denke ich.« Ich gab Milda ohne ein weiteres Wort das Handy zurück … ich war viel zu aufgeregt. Milda nahm es entgegen und ließ mich mit einem Augenzwinkern stehen. Conny zog an meinem Arm.

»Du bist wahnsinnig!«, zischte sie mir ins Ohr, während wir eiligen Schrittes die Kantine verließen.

»Du musst mitkommen!«; flehte ich draußen.

»Ich muss in den Unterricht!«, erinnerte sie mich und deutete auf das Blatt, welches mir Milda gegeben hatte. »Das ist der Versuch und unsere bisherigen Ergebnisse.«

Ich nickte.

»Du bist total irre, Lissy!«