Kapitel 12
»Ähh!«, machte Conny und stand auf. »Hast du was dagegen, wenn ich noch ein wenig in eurer Küche herumhänge?«
Ich folgte ihrem Blick zu André und lächelte ihr zu.
»Fühl dich wie zu Hause«, murmelte ich und wand mich wieder Ilian zu, der gerade dabei war Roran hochzuheben. Ich beobachtete, wie er ihn an sein Herz drückte und über den fast noch kahlen Kopf des Babys streichelte.
»Wollen wir uns auf das Sofa setzen?«, schlug ich vor. Ilian sah mich kurz an und nickte. Ich wartete, bis er sich gesetzt hatte und schmiegte mich an seine Seite. Wir schwiegen eine ganze Weile und lächelten einfach nur Roran an, der das gerne erwiderte.
»Wenn du reden willst, ich bin da«, sagte ich nach einiger Zeit beiläufig. »Ich werde dich nicht drängen.«
So wie er im Keller gezittert hatte, war es sicherlich die Hölle gewesen.
»Danke«, sagte Ilian und mir fiel auf, wie unheimlich rau seine Stimme war. Als hätte er sich heiser geschrien. Mein Herz verkrampfte sich und ich räusperte mich, um meinen kurzen Schock zu überspielen.
»Papa und Thomas schmeißen gerade den Grill an, hast du Hunger?«
Ich sah in seine Schokoladenaugen und hätte am liebsten wieder losgeheult, weil sie so voller Liebe auf mir ruhten. Er nickte und presste kurz die Lippen aufeinander. Ich spielte mit dem Saum am Handgelenk seines Jogginganzugs.
»Alles okay?«, wollte er wissen und Sorge durchzog sein wunderschönes Gesicht. »Haben sie dir etwas getan?«
Ich schüttelte meinen Kopf.
»Sie haben mir gesagt, dass sie dich an mich verfüttern wollten.«
»Nein, sie haben mich nicht bekommen. Die Jäger haben auf mich aufgepasst.«
Ilian schien zu überlegen. »Das ist gut«, sagte er schließlich.
Conny steckte ihren Kopf ins Wohnzimmer. »Arva ist in Sicherheit«, flüsterte sie unnötigerweise, als wäre Ilian ein scheues Tier, welches man mit lauten Geräuschen verschrecken konnte, oder so etwas. Sie zeigte kurz auf ihr Handy und verschwand dann wieder in die Küche.
»Arva?«, wollte Ilian wissen.
»Sie hat die Wache abgelenkt«, erklärte ich und ersparte ihm die volle Wahrheit. Er nickte gedankenverloren. Die Wunden auf seiner Haut waren nur noch eine blasse Ahnung, doch irgendetwas in seinem Gesicht, ja in seiner ganzen Erscheinung wirkte zutiefst geknickt. Als hätte man ihm das Lachen aus der Seele gebrannt und nur eine stumme Imitation davon zurückgelassen. Es zerriss mich innerlich, ihn so zu sehen. Ja, ich würde sogar behaupten, dass es wehtat. Nicht nur in der Seele, sondern sogar physisch. Nino und Pippa stürmten das Zimmer und ihren Bruder. Er konnte gerade noch Roran in meine rettenden Arme schieben. Rabiya folgte ihnen und wirkte geschafft.
»Lasst Ilian noch etwas Luft«, flehte sie vergebens. Pippa hatte Ilian fast im Schwitzkasten, so drückte sie ihn. Dean betrat das Wohnzimmer, gefolgt von meinem Bruder. Na ja, jetzt war die Ruhe wohl komplett vorbei. Wehmütig sah ich zu Ilian. Ich wollte ihn für mich alleine haben. Ganz alleine. Nur fünf Minuten.
»Wir haben Elyra unsere Forderungen bezüglich ihrer Absetzung noch einmal zukommen lassen«, sagte Thomas geschäftig und musterte Ilian einen Moment lang, bevor er sich wieder Rabiya widmete. »Sie sollten sich bereithalten, sich vor dem Nest zu behaupten.«
Ilians Mom nickte und pflückte die Kleinen von Ilian herunter. Ich klammerte mich mit Roran im Arm an ihn, damit ihn mir niemand wegnehmen konnte. Papa und Carmen kamen von der einen Seite und Conny und André von der anderen herein. So, jetzt war es offiziell überfüllt hier.
»Der Grill ist bereit«, sagte Papa.
»Ich kann das alles immer noch nicht so recht glauben«, meinte Conny.
»Ich auch nicht, Conny. Wenn Rabiya sich nicht vor meinen Augen verwandelt hätte – ich hätte es nicht geglaubt«, erklärte mein Vater.
»Das hätte ich auch gerne gesehen«, staunte Conny.
»Ein anderes Mal, ja?«, seufzte Ilians Mutter müde und erschöpft. »Können wir das Fleisch auf den Grill legen, Andreas?«
Papa nickte.
»Ilian ist am Verhungern.«
Damit verschwanden so gut wie alle. Nur Conny blieb stehen.
»Süße, ich gehe dann erst mal nach Hause, bevor meine Familie eine Vermisstenmeldung herausgibt.«
Ich stand auf, gab Ilian den kleinen Roran und umarmte meine beste Freundin. »Danke, dass du heute für mich da warst.«
»Immer, Lissy. Immer«, flüsterte sie mir ins Ohr. Sie sah mich kurz an und zwinkerte. »André ist heiß, oder?«
Ich nickte lächelnd.
***
Es war dunkel und wir saßen alle im Garten. Eine Kerze mit ätherischen Ölen hielt uns die Mücken vom Leib. Die kleinen Balaurs schliefen alle friedlich, was das schweigende Babyphone bewies. Nicht mal Carmens Hündin Prinzessin war zu hören. Nachdem sie von unserem Drachenbesuch nicht ganz so begeistert gewesen war, hatte sie meine Stiefmutter zu einer Freundin gebracht. Ohne sie war es merkwürdig still.
Der Orden hatte es für klug gehalten, dass die Familie Balaur sich, jetzt wo wir dem Nest Ilian wieder abgenommen hatten und wir mit einem Rückschlag rechnen mussten, in Sicherheit brachte und ihr Haus verließ. Rabiya sollte bei uns bleiben, doch die Kleinen wollte sie nicht hergeben. Ilian wollte ebenfalls bei mir und im Schutz des Ordens bleiben. Der andere Teil der Familie, der nicht bei uns nächtigte, war in eine mir unbekannte Notunterkunft gefahren. Ilian und ich saßen etwas abseits auf der Hollywoodschaukel zusammen in eine große Decke gewickelt. Ich hatte meine Beine angezogen, weshalb Ilian uns mit seinen sanft hin und her schwingen ließ.
»Drachen und Jäger an einem Tisch«, murmelte er neben mir und ich folgte seinem Blick zu meinem Bruder und Kassandra, die zusammen mit Dean und seiner Frau ein Bier tranken. Rabiya kniete mit Carmen vor einem von Gartenlampen beleuchteten Beet, wo sie sich wohl über Blumen unterhielten. Papa war gerade in die Küche gegangen, um Getränkenachschub zu holen. In meinem Bauch war immer noch ein großer Knoten. Seit ich Ilian zurückhatte, hatte ich noch keine Minute mit ihm ganz alleine gehabt. Vielleicht mied ich es auch ein wenig, da ich Angst hatte, ihm die Ohren voll zu heulen.
»Möchtest du noch etwas?«, fragte ich ihn und deutete mit dem Kinn auf den Grill, der noch vor sich hin glomm. Ilian schüttelte den Kopf und sah hoch zum Himmel. Es war eine sternenklare Nacht – funkelnd und wunderschön. Ich gähnte und schüttelte mich, weil mir ein Schauer über den Rücken gelaufen war.
»Frierst du?«, flüsterte Ilian mir fragend ins Ohr.
»Ein wenig«, gab ich zu und ließ mich nur zu gerne von ihm näher an sich heranziehen. Ich konnte spüren, wie er seine Körpertemperatur hochfuhr.
»Besser?«
»Viel besser«, hauchte ich fast tonlos, weil ich tief in mir drin bemerkte, wie sehr sich meine Lippen nach seinen sehnten. Ilian schien es ebenfalls zu spüren und kam näher heran. Kurz bevor wir uns küssen konnten, störte uns mein Vater.
»Wollt ihr was trinken?«, platzte er dazwischen.
»Nein«, antwortete ich müde. »Ich glaube, ich will nur noch ins Bett.«
Papa nickte verständnisvoll. »War auch ein anstrengender Tag.«
Ich stand auf und sah zu Ilian. »Kommst du auch?« Ich sah kurz zu Rabyia. »Ich meine, es geht doch in Ordnung, dass du bei mir schläfst, oder?«
Bevor er etwas sagen konnte, klingelte sein Handy. Er nahm das Gespräch an und nickte mir kurz zu. »Arva?«, fragte er.
Ich gab meinem Vater einen Kuss und verabschiedete mich bei den anderen. Während Ilian telefonierte, konnte ich ja schon mal ins Bad verschwinden. Ich zog mich um, wusch mich und putzte mir die Zähne. Als ich fertig war, war Ilian noch nicht in meinem Zimmer. Müde versorgte ich meine Frettchen mit frischem Wasser und Futter und sah dann zum Fenster heraus. Ilian saß noch immer auf der Hollywoodschaukel und telefonierte. Erzählte er ihr etwa, was mit ihm passiert war? Ich spürte Stiche tief in meinem Bauch. Atemlos drehte ich mich vom Fenster weg und sah zu Trulli und Egon.
»Was ist los mit mir?«, fragte ich in den Raum. Irgendetwas störte mich gerade gewaltig, doch ich konnte es nicht zuordnen. Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch setzte ich mich auf mein Bett und begann meine Haare zu kämmen. War es Arva? Würde ich sie immer als Konkurrentin ansehen? Aber sie war doch lesbisch! Dennoch hatte sie ein Kind mit Ilian. Hatte mit ihm geschlafen – und ich noch nicht. Sie kannte ihn seit Jahren, war seine beste Freundin. Seine Vertraute. Und ich? Die neue Freundin, vor der einem noch vieles zu peinlich war. Ich fasste mir an den Kopf und holte tief Luft. Nein, mir ging es noch nicht besser. Ja verdammt, ich war eifersüchtig und das, obwohl ich weder Grund, noch Recht dazu hatte, und das machte das Ganze so unerträglich. Ich wollte schreien und toben. Das war alles so falsch. Ich sollte überglücklich sein Ilian wieder zu haben, aber alles was ich fühlte war Wut. War ich zu gestresst? Hatte mich die letzte Woche voller Bangen und Zittern verändert? Ich fühlte mich einsam und mir war kalt. Ich fasste mir an den Magen und schnappte nach Luft. Plötzlich war mir das Licht im Zimmer zu hell und ich schaltete es aus, um mich dann im Dunkeln wieder Richtung Fenster zu tasten.
»Lissy?« Es war Ilians besorgte Stimme, die sich durch einen sich um mich drehenden Raum den Weg zu mir bahnte. Warme Arme hielten mich fest. »Was ist passiert?«
Ich stieß ihn von mir weg und schloss einen Moment die Augen, um tief durchzuatmen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich verschwommen, wie Ilian auf dem Boden saß und sich wieder aufrappelte.
»Elisabeth?«
»Lissy!«, zischte ich. »Wird Arva immer deine Nummer eins bleiben?«, fragte ich dann geradeheraus. Ich setzte mich auf mein Bett und stützte meinen Kopf in die Hände. »Warum redest du mit ihr über das, was dir passiert ist, und nicht mit mir?« Ich versuchte ihn anzusehen. Er hatte sich vor mich gehockt und sah mich mit sorgenvollen Augen an. Er seufzte.
»Ich wusste, es war eine blöde Idee, mit Arva so lange zu sprechen«, jammerte er. »Ich habe noch so gedacht: Mach Schluss, du musst jetzt bei Lissy sein, aber ich habe nicht auf mich selbst gehört.« Er stand auf und drehte sich von mir weg. Ich konnte sehen, wie er sich mit den Händen durch das Gesicht fuhr. Gespannt wartete ich ab, was er auf meine Frage antworten würde. Falls er überhaupt darauf eingehen würde.
»Ich werde dir auch alles erzählen, was ich ihr gesagt habe«, versuchte er mich zu beruhigen, erreichte jedoch genau das Gegenteil damit. Ich drehte mich rum, schmiss mich auf mein Bett und kreischte in die Kissen. Die Matratze gab neben mir nach und eine Hand legte sich auf meinen Rücken.
»Habe ich schon wieder etwas falsch gemacht?«
JA!
»Nein«, brummte ich. »Lass uns einfach schlafen gehen, ja?« Ich raffte mich auf, um unter die Decke zu krabbeln und ignorierte Ilian, der wie angewurzelt sitzen geblieben war.
»Ich, ich wollte dir jetzt, wo wir endlich alleine sind, alles erzählen.«
»Das kannst du immer noch.«
»Aber du bist wütend auf mich.« Stille.
Ich setzte mich auf und sah ihn an. »Ilian, du kannst nichts dafür, dass ich ohne Grund eifersüchtig bin. Du musst mir einfach ein wenig Luft geben, um darüber hinwegzukommen.«
Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Ich hatte es nicht kommen sehen, vielleicht weil es stockdunkel in meinem Zimmer war, aber Ilian erschreckte mich fast zu Tode indem er … zu weinen begann.
»Ilian?«
Seine Antwort war ein Schluchzen. Das konnte ich nicht aushalten. Er sollte nicht weinen, das war zu viel für mich.
»Ilian, bitte hör auf«, flehte ich. »Bitte, es ist alles gut.«
»Nichts ist gut«, zischte er und sah mich aus verweinten Augen an. »Ich weiß nicht, warum du so auf Arva herumhackst, sie hat heute einiges auf sich genommen, um mir zu helfen!?« Dass er jetzt Arva in Schutz nahm, brachte mich aus der Fassung. Er hatte Recht, aber das hatte ich trotzdem nicht hören wollen.
»Dann geh doch zu ihr«, hörte ich mich sagen und bereute es sofort. Ilian stutzte und sah mich an, als hätte ich ihn vor den Kopf gestoßen.
»Weißt du Lissy?«, seufzte er und erhob sich. »Ich hätte dich heute Abend wirklich gebraucht. Mehr als ich irgendjemanden jemals zuvor gebraucht habe. Aber wenn du so drauf bist …« Er traute sich nicht den Satz zu Ende zu führen.
»Was dann? Haust du ab?«
»Ja, vielleicht mache ich das!?«
Ich hörte die Wut in seiner Stimme, während mich der Selbsthass zerfraß. Leider hatte aber mein Ego die Kontrolle übernommen und das fühlte sich von Arva bedroht und von Ilian verletzt.
»Dann geh doch Seerosen gießen, du Witzaufschreiber!«
»Bezeichnest du mich gerade auf eine äußerst kreative Art als Weichei?«
»Vielleicht?!«, knurrte ich mit verschränkten Armen. Im Mondlicht konnte ich erkennen, wie Ilian eine Träne über die Wange lief.
»Ilian, mir ist gerade alles zu viel«, gab ich ehrlich zu.
»Dann sollte ich vielleicht gehen.« Seine Stimme klang eigenartig fremd.
»Und wo willst du hin?«
»Zu Arva?«
Ich verlor die Kontrolle über meine Vernunft und holte aus. Ilian fing meinen Arm ab, bevor meine Hand seine noch tränennasse Wange treffen konnte. Wir sahen uns beide erstaunt an. Oh mein Gott, hatte ich ihn gerade ohrfeigen wollen? Ilian regte sich als Erstes wieder, umfasste mein Gesicht und presste seinen Mund auf meinen. Meine Lippen öffneten sich wie von selbst und ich ließ mich von ihm rückwärts auf das Bett legen. Das Gewicht seines Körpers landete sanft auf mir, während sich sein Becken an meines herandrückte. Wir küssten uns wild, dennoch … in den unteren Regionen blieb bei ihm alles ruhig. Nicht mal nachdem wir uns ausgezogen hatten und nun nackt beieinander lagen. Irritiert entschloss ich mich eine Erkundungstour zu machen. Vorsichtig streichelte ich mir meinen Weg über die noch immer normal warme, menschliche Haut. Kurz vor meinem Ziel fing Ilian mich ab. Er schluchzte wütend auf und rollte sich von mir weg. Frustriert raufte er sich die Haare, während ich seinen Rücken beobachtete.
»Was ist los?«, traute ich mich nach einiger Zeit zu fragen.
»Ich kann nicht«, presste er hervor.
»Schon okay, niemand zwingt dich hier zu irgendwas«, flüsterte ich und legte eine Hand auf seinen Rücken. Mir kam ein gruseliger Gedanke. »Die haben dich aber nicht gezwungen, mit anderen Frauen zu schlafen, oder?«
»Sie haben es mir angeboten«, flüsterte Ilian. »Sie sagten, wenn ich es tue, darf ich duschen, bekomme Essen und darf ab und an nach oben.«
»Die haben dich weiter hungern lassen? Auch nachdem du kein Drache mehr warst?« Ich war entsetzt. Noch mehr, als Ilian tatsächlich nickte.
»Sie haben mir kein Estragon mehr gegeben, weil sie hofften, dass ich ihnen lauter blaue Drachen mache.« Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. »Und jedes Mal lautete meine Antwort Nein. Dann haben sie nach mir getreten und mich bespuckt.«
»Wie sind die denn drauf?«, fragte ich entsetzt. »Und das hat deine Brutmutter so stehen lassen?«
»Elyra hat von alldem nichts mitbekommen. Ihre Anweisung hatte gelautet, mich in Drachenform zu halten und zu warten, bis sie dich in ihre Finger bekommen hat.« Ilian sah weg und presste kurz die Lippen aufeinander. »Lissy, du hast keine Ahnung wie panisch ich war, als ich erfuhr, dass sie dich mir zum Fraß vorwerfen wollten. Zuerst war ich ja noch total sicher, dass ich das nie tun könnte, aber mit der Zeit kam mir in der Drachenform der Gedanke gar nicht mehr so ekelig vor. Ich war einfach nur noch hungrig. Jede Faser in mir sehnte sich danach, dieses Gefühl zu stillen. Lissy, ich habe gedacht, dass die Jäger über uns nur Märchen erfunden hätten.« Seine Augen funkelten mich ängstlich an. »Dem ist nicht so. Ich hatte Hunger auf Mensch.« Er sah weg und seufzte. »Als ich mich zurückverwandelte, legte sich das zum Glück. Aber der Hunger blieb. Irgendwann habe ich aus lauter Verzweiflung angefangen mir alle Nägel abzukauen in der Hoffnung meinem Magen damit etwas vorzugaukeln. Gott, ich hätte sogar Steine gegessen!«
»Ilian, es tut mir so leid, dass ich so blöd drauf bin«, platzte es aus mir heraus. Mein Freund legte seinen Kopf schief und sah mich fragend an.
»Magst du mir erzählen, wie es dir ergangen ist?«
»Ach, im Vergleich zu dir ging es mir gut, außer dass mich die Sorgen um dich fast umgebracht haben. Aber der ganze Stress fällt jetzt erst so langsam von mir ab und dann … dann …« Ich seufzte erschöpft, als Ilians warme Hände mein Gesicht umrahmten.
»Was?«
»Es ist alles so aussichtslos. Du wirst immer in die ganze Drachenkacke verstrickt sein und ich habe Angst, auf der Strecke zu bleiben. Arva und du – ich bin einfach eifersüchtig.«
»Aber Lissy«, wollte Ilian einlenken, doch ich unterbrach ihn.
»Ich weiß, sie liebt Frauen. Entschuldige, dass ich dir ins Wort fahre, aber darum geht es nicht nur. Ihr habt ein Kind zusammen, das können wir nie haben. Du kennst sie schon immer und ihr seid so vertraut miteinander. Ihr hattet schon Sex. Und wir …«
»Nicht«, vollendete Ilian meinen Satz. »Aber Lissy das ändert sich doch! Und Sex mit Arva war für mich wirklich nicht der Traum. So ein gebrochener Arm tut auch einem Drachen weh, besonders wenn er sich noch nicht gewandelt hat und deshalb nicht so schnell heilt.« Er lächelte mich an und dieses Mal schien es nicht ganz so gekünstelt.
»Tut mir leid, Ilian, ich liebe dich nun mal so sehr, dass mir alles, was dich angeht, tief unter die Haut fährt.«
Mein Freund krabbelte vorsichtig hinter mich und drückte meinen Rücken sanft gegen seine Brust.
»Du brauchst wegen Arva nicht eifersüchtig sein, bitte«, flehte er. »Ich habe kein derartiges Interesse an ihr, versprochen! Sie ist eine gute Freundin. Nicht mehr, nicht weniger.« Er atmete tief durch. »Und wenn es hart auf hart kommt, sage ich mich wie Dean vom Nest los.«
»Das würdest du für mich tun?« Ich drehte mich so, dass ich ihm in die Augen sehen konnte. Er sah mich mit einem merkwürdigen Blick an.
»Lissy?«
»Ja?« Ich war verwirrt über seine Reaktion.
»Wenn es dazu kommen sollte, dann …« Er überlegte mir eine Spur zu lange.
»Ja? Was dann?«, drängte ich.
»Ich kann es nur tun, wenn wir … wenn wir gefestigt sind … Bestand haben.«
»Ja, ich verstehe, du willst nicht nachher alleine dastehen.« Ich nickte, das konnte ich nachvollziehen. »Aber du hättest doch immer noch deine Familie?«
»Ja sicher, aber um das, was du sagst, geht es mir nicht nur.«
»Sondern?«
»Lissy, ich weiß, dass es dich stört, das mit Roran und seiner … Herkunft, aber wenn ich dem Nest entsage, dann will – nein, muss ich ihn mitnehmen, verstehst du?«
Ich runzelte die Stirn. Nein, das verstand ich nicht ganz.
»Du hattest Recht, ich fühle mehr für ihn, als ein Bruder es tun würde, und wenn ich mich vom Nest entferne, dann Lissy, es tut mir so leid, dass er dich an Arva erinnert, aber ich kann nicht ohne ihn und ich weiß nicht, ob ich das alleine kann, verstehst du? Ich brauche dich dann an meiner Seite und kann nur hoffen, dass du dem Kleinen nicht die leibliche Mutter vorwirfst.« Ilian wollte noch mehr sagen, doch ich versiegelte seine Lippen mit einem Kuss. Sanft drückte er mich weg und sah mir fragend in die Augen.
»Natürlich, Ilian!«, erlöste ich ihn. »Natürlich würden wir Roran mitnehmen, alles andere hätte ich auch nicht verstanden und es ist doch selbstverständlich, dass ich dir dann auch mit dem Kleinen helfe.« Scheiße, hatte ich gerade versprochen so etwas wie eine Mutter für Roran zu sein? Angst! »Wir schauen uns das aber erst mal ein paar Jahre an, wie das mit dem Nest läuft, oder?«
Ilian lachte, wahrscheinlich über meinen Gesichtsausdruck.
»Und mit uns und so weiter?! Nicht, dass ich nicht vorhabe, mit dir zusammen zu bleiben, ich habe dich mir hart erkämpft, da gebe ich dich nicht so schnell wieder her!« Wir küssten uns erneut und dieses Mal regte sich ganz eindeutig etwas bei Ilian, aber ich wollte ihn nicht zu früh zu etwas drängen. Er wirkte ziemlich erschöpft und ließ von mir ab. Arm in Arm lagen wir eine ganze Weile einfach nur so da und genossen die Nähe des anderen. Na ja, ich muss gestehen, dass ich sehr abgelenkt war, denn während Ilians Augen in meine verankert waren, streiften meine immer wieder über seinen Körper. Die Wunden waren verheilt, seine Haut schien, abgesehen von der Blässe, wieder rein und makellos. Eine Zeit lang beobachtete ich sogar seine Zehen, die unter den Socken miteinander spielten. Ich fühlte mich magisch von ihm angezogen, war mir aber nicht sicher, ob er die Nähe in seinem derzeitigen Zustand zulassen konnte. Hatte er unser Küssen eben abgebrochen, weil ihm das mit Arva auf dem Herzen gelegen hatte oder waren die letzten Tage doch noch zu nah?
»Und? Wie sehe ich nackt aus?«, fragte er plötzlich.
»Was?«, quietschte ich irritiert.
»Na, es hat so ausgesehen, als hättest du meinen ganzen Körper geröntgt.«
»Sorry, ich find dich halt geil«, murmelte ich gespielt beleidigt.
Ilian räusperte sich. »Das hast du so … poetisch umschrieben«, scherzte er. Plötzlich verspürte ich den Wunsch, es uns hier ein wenig romantisch zu machen. Ich setzte mich auf und nahm den Beutel mit Teelichtern aus meinem Nachttisch.
»Was hast du vor?«
»Es ein wenig kuschelig machen«, erklärte ich und suchte nach meinem Feuerzeug. »Mist, wo ist denn?«
»Gib her«, unterbrach mich Ilian. Ich sah ihn erstaunt an.
»Ich hatte viel Zeit zu üben«, sagte er und nahm ein Teelicht an seine Lippen. Er hauchte kurz und für den Bruchteil einer Sekunde kam eine kleine Flamme aus seinem Mund und ließ die Kerze aufleuchten.
»Wow«, staunte ich mit großen Augen.
»Die kleinen Flammen sind schwieriger als das Inferno. Klingt komisch, ist aber so.« Er betrachtete nachdenklich das Teelicht in seiner Hand.
»Feueratem«, wisperte ich nachdenklich. »Der Wahnsinn!«
Ilian lächelte und hielt eine Hand auf, damit ich ihm die nächste Kerze geben konnte. Nachdem wir in einem Meer aus Teelichtern lagen, wurde es mir ganz warm ums Herz.
»Ganz schön praktisch, so einen Drachen als Freund zu haben.«
»Ähm ja, bei Lagerfeuern, an Weihnachten, oder wenn man noch mit einem Ofen heizt.«
Ich stieß ihn an, denn in seinem Ton war eine gehörige Portion Ironie mitgeflossen.
»Was denn?«
»Du machst dich lustig über mich«, spielte ich die Schmollende.
»Lissy, ich liebe dich.«
Ich legte den Kopf schief und musterte ihn ausgiebig. »Ich dich auch.«
Er lächelte und kam näher an mich heran. Es dauerte ein paar Sekunden, dann hatte er den nötigen Mut gesammelt, um sich auf mich rauf zu rollen.
»Küsst du mich jetzt oder willst du mich nur heiß machen?«, raunte ich.
»Heiß machen«, grübelte er lächelnd. »Dafür sind Drachenfreunde auch gut.« Wir lachten, bevor unsere Lippen einander fanden. Ich kostete den rauchig-würzigen Geschmack von Ilians Mund und war binnen weniger Sekunden im Himmel. Trotz geschlossener Augen fühlte ich es ganz genau, als seine Haut die Farbe wechselte. Sie wurde etwas rauer, härter.
»Dann zeig mal, was du kannst, Drachenjunge«, flüsterte ich ihm ins Ohr, als er sich von meinen Lippen löste und in meinen Nacken wanderte. Die erste Hürde meisterte Ilian bravourös. Beide Jungs, mit denen ich geschlafen hatte, haben sich eine gefühlte Ewigkeit an meinen Brüsten aufgehalten und an Ihnen gesaugt und gelutscht wie Säuglinge. Echt peinlich. Bei Leon hatte ich mich getraut ihn drauf hinzuweisen. Bei Kevin dagegen nicht. Danach haben mir noch stundenlang die Nippel gebrannt. Ilian schien aber zu wissen, dass eine weibliche Brust nicht nur aus Brustwarzen bestand, sondern dass durchaus auch die Haut darum liebkost werden durfte. Ehrfürchtig zeichnete er mit seinen Händen ihre Kurven nach, streichelte sie und missbrauchte sie nicht als Hupen. Es mag jetzt irgendwie lächerlich klingen, aber unter seinen Händen fühlte ich mich so … so … so weiblich, so schön. So geliebt. Als er sich küssend über meinen Bauch weiter nach unten arbeitete, hatte ich fast das Gefühl, vor Liebe zu ihm zu zerreißen.
»Das wollte ich schon immer mal machen«, sagte er schelmisch, als er an meinem Bauchnabel angekommen war. Ich sah zu ihm herunter. Das Blau seiner Haut wirkte so befremdlich, besonders wenn er lachte und seine weißen Zähne dabei zeigte. Ich zwinkerte ihm zu und er fasste den Mut tiefer zu gehen. Mit großen, freudigen Augen, wie ein Kind an Weihnachten, tauchte er ab. Jesus Christus, Hirte von Judäa! Ich biss die Zähne zusammen, konnte aber nicht verhindern, dass mir ein ganz eindeutiger Laut entwich. Hoffentlich schliefen alle. Meine Hände waren in Ilians Haaren vergraben und zogen sanft an ihnen. Mit meinen Beinen klemmte ich seinen Kopf ein, damit er nur ja nicht aufhörte. Die ganze Energie, alle kribbelnden Hormone, die ich für Ilian angesammelt hatte, ballten sich, bis sie schließlich in einer gewaltigen Explosion ein Feuerwerk in meinem ganzen Körper entluden. Ilian sah auf.
»Schon?«, gluckste er. Ich rang noch immer nach Atem.
»Hör mal, wenn du ein Mann wärst …«
»Schhhht!«, machte ich und zog ihn zu mir hoch. »Bin ich aber nicht.« Ich verschloss seinen Mund mit meinem und begann am Bund seiner Hose herumzufummeln. Er kam mir zu Hilfe und zog sie aus. Als er sich wieder vollkommen nackt auf mich legte, Haut auf Haut traf, entwich ihm etwas Rauch aus dem Mund.
»Verzeih!«, flüsterte er.
»Du bist der Einzige, der mich ungestraft räuchern darf«, scherzte ich und wir rollten uns so, dass ich auf ihm lag. »Du bist dran.«
»Lissy!«, japste er meinen Namen, als ich mich von seiner Brust runter über den flachen Bauch nach unten arbeitete. »Was hast du vor?«
Ich sah amüsiert auf. »Wonach sieht das aus?«, fragte ich.
Ilian lachte, nach Luft schnappend. Ich stoppte ihn, indem ich meinen Plan in die Tat umsetzte. Aus Lachen wurde Stöhnen. Seine Hände krallten sich in die Laken, bis seine Knöchel weiß wurden. Lange hielt er es nicht aus und krabbelte von mir weg, nur um mich dann zu sich hoch zu ziehen. Wir rollten wieder über die Matratze und ehe ich mich versah, hatte er die letzte Hürde genommen und uns zu einem Körper verschmolzen. Erschrocken von diesem wunderbaren Gefühl, starrte ich in seine brennenden Augen. Das warme Braun war zu Lava zerflossen und sprühte Funken. Als er sein Gesicht in meiner Halsbeuge vergrub, roch ich überall Ilians Rauch. Ich fühlte mich, als wäre ich in einer anderen Welt. Die fremdartige Haut, der würzige Duft und dann dieses warme, kribbelnde Gefühl, welches sich zu der Erregung noch dazumischte. Das hatte ich zuvor noch nie gefühlt. Es war neu und musste an Ilian liegen. Sein Griff um mich wurde stärker, sein Atem schneller. Ich streichelte über die angespannten Muskeln in seinen Armen und tat mein Bestes, um ihm mit meinem Becken entgegenzukommen. Ein feiner Schweißfilm hatte sich auf seiner fast schon schuppigen Drachenhaut gebildet, als er in mir erzitterte und ein eigenartiges Geräusch dabei von sich gab. Ich drehte mich herum und sah … mein Bett in Flammen.
»Feuer!«, kreischte ich, während Ilian immer noch zitternd nach der Decke griff und sie drüber warf. Der Brand erstickte sofort. Leider rief mein Schreien jedoch meinen Vater auf den Plan.
***
»Okay«, begann Papa am Morgen am Frühstücktisch. Ilian und Rabiya aßen Frikadellen, während die kleinen Balaurs mit uns Butterbrote verdrückten. Na ja, außer Roran, der hatte schon gefrühstückt.
»Fackelt ihr jetzt jedes Mal die Bude ab, wenn ihr poppt?«
»Andreas«, zischte Carmen pikiert und sah ihn mit großen Augen an. »Hier sitzen Kinder am Tisch!«
»Deswegen habe ich ja auch poppen gesagt und nicht du weißt schon was.«
»Liebe machen?«, schlug ich vor. Ilians Kopf war hochrot. Tapfer zerpflückte er eine Frikadelle und starrte sie dabei an.
»Trotzdem«, meinte Carmen. »Kannst du nicht bis nachher warten?«
Pippa und Nino wirkten von dem Gespräch vollkommen unberührt und kicherten miteinander. Roran, der in Carmens Armen lag, ließ dermaßen laut einen in die Windel fahren, dass Ilian sich fast vor Lachen verschluckte. Ich klopfte ihm fest auf den Rücken. Rabiya räusperte sich und würgte einen Bissen von ihrer Frikadelle herunter.
»Ilian ist noch jung und ungeübt. Es wird hoffentlich nicht wieder vorkommen. Wir bezahlen natürlich die Matratze.«
»Solange er im ungeübten Leichtsinn nicht Lissy schwängert«, plapperte mein Papa weiter, »kann ich fast alles ertragen.«
»Das kann ich nicht«, nuschelte Ilian und sah dann meinem Vater mutig ins Gesicht. »Drachen und Menschen können keine Kinder bekommen.«
»Wir legen Eier«, erklärte Rabiya weiter und erhob sich dann. »Entschuldigt mich kurz, ich muss nachhören, ob Gerome das Ei im Feuer drehen war.«
»Sag Papa, er soll meine Fische nicht vergessen«, bat Ilian.
»Die Dinger habe ich noch nie so wirklich gesehen«, grübelte ich laut.
»Die dich bestimmt auch nicht«, seufzte Rabiya und verschwand mit ihrem Handy im Wohnzimmer. Ilian hatte den Seitenhieb auf seine chaotische Ader nicht mitbekommen, da er und mein Vater sich merkwürdig anstarrten.
»Müsst ihr los zur Schule?«, fragte Papa schließlich.
»Ihr geht nirgendwohin«, meinte Thomas, der in die Küche geschlendert kam und sich O-Saft aus dem Kühlschrank angelte. »Nicht solange die Lage da draußen nicht geklärt ist. Wir wissen nicht, wie sauer die jetzt sind. Nach deren Meinung haben wir ihnen Eigentum weggenommen.«
»Dann schick halt ein paar Jäger mit uns mit! Wir können doch nicht hier gefangen bleiben. Ilian und ich müssen heute in die Schule«, griff ich ein.
Thomas überlegte.
»Glaub mir Thomas, so etwas passiert nicht noch einmal. Die haben mich nur bekommen, weil ich der Brutmutter vertraut habe und an Lissy würde ich so wie so niemanden heranlassen«, schaltete mein Freund sich ein.
»Na ja, immerhin wissen wir jetzt, wo sich die anderen Drachen aufhalten. Der Orden bewacht das Nest.« Thomas grübelte.
»Und Arva?«, wollte Ilian wissen. Der Stich in meinem Bauch war nicht mehr so schlimm wie noch am Tag zuvor.
»Ihr wird kein Haar gekrümmt, solange sie niemanden angreift.«
Ilian nickte, mehr oder weniger zufrieden.
»Also«, sagte ich. »Schule?« Ich sah zu Thomas. »Könntest du mir bei Ikea eine neue Matratze kaufen fahren?«
Ilian seufzte genervt.
»Hey, ich habe dir nicht gesagt, dass du ein Loch in meine Matratze brennen sollst!«
Thomas' Augen wurden groß. »Was?«, fragte er.
»Sexunfall«, plapperte Papa und biss in sein Käsebrot. Carmen schlug ihm dafür in den Nacken, bevor sie sich wieder Roran widmete und immer wieder mit der Fingerspitze auf seinen Schnuller trommelte. Der Kleine schien das ulkig zu finden oder er war einfach nur ein freundliches Baby und lachte gerne.
»Was?«, wiederholte sich Thomas und sah mich an, als hätte man ihm gerade gesagt, dass der Weihnachtsmann nicht existiert.
»Ja, du hast richtig gehört!« Damit stand ich auf und stellte mein Geschirr in die Spüle. »Können wir das Thema jetzt lassen?«
Thomas schien das nicht zu wollen und ließ sich auf meinen Platz neben Ilian fallen. Er legte einen Arm auf die Stuhllehne meines Freundes und sah ihm tief in die Augen.
»Was?«, wollte dieses Mal Ilian wissen.
»Hast du meine Schwester entjungfert?«
»Nein«, gluckste Ilian, »da war schon jemand vor mir gewesen.«
Thomas sah mich entsetzt an.
»Was?«, fragte ich.
»Dem Nächsten, der blöd Was? Fragt, haue ich einen über den Schädel«, brummte Carmen.
»Gott, Thomas«, seufzte ich, »was hast du gedacht, was Ilian und ich tun? Beten? Die ganze Nacht?«
»Schlafen?«, schlug mein Bruder vor. Papa lachte amüsiert und schlürfte seinen Kaffee.
»Ja, alleine und miteinander«, antwortete ich und brachte damit Thomas zum Seufzen. Müde lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Ilian stand ebenfalls auf und stellte seinen Teller zu meinem.
»Machen wir uns für die Schule fertig, okay?«, schlug er vor, um der Situation zu entkommen. Ich nickte mit einem Grinsen im Gesicht. Ich konnte es mir nicht verkneifen, Ilian beim Gehen auf den Hintern zu hauen und dabei frech meinen Bruder anzusehen.
»Was heißt entjungfert?«, hörte ich Nino fragen. Es war die Stimme meines Vaters, die antwortete – zum Glück verstand ich schon nicht mehr, was.
***
»Huste und niese ein wenig vor dich hin und schau krank aus und – na ja blässlich bist du immer noch genug«, instruierte ich Ilian flüsternd, bevor wir auf Leon und Mischa trafen.
»Jawohl, Chef«, brummte Ilian und begann sofort durch den Mund zu atmen.
»Hey Ilian«, begrüßte die kleine Mischa ihn zuerst.
Leon nickte ihm – total männlich – zu. »Hallo Lissy!«
Wir küssten uns zur Begrüßung auf die Wange. Zu meinem Erstaunen wollte Mischa es auch mit Ilian tun, doch der wich gekonnt zurück.
»Besser nicht, ich kränkel immer noch etwas«, sagte er und deutete auf seine Nase, warf meiner Freundin aber ein unverschämt schönes Lächeln zu. Mischa erwiderte es glücklich. Ich war wirklich platt. Hatte sie die Seiten gewechselt und war jetzt mit Ilian als meinem Freund einverstanden? Leons Gesicht dagegen sprach Bände. Er war skeptisch, traute dem Braten nicht und der arme Kerl lag damit gar nicht so falsch.
»Die letzte Woche vor den Sommerferien«, trällerte Mischa fröhlich, um das Gespräch ins Rollen zu bringen. »Wie kommt es, dass du nicht mit den anderen Perf… äh, ich meine deinen Freunden, äh, ich meine Audrina und …« Die Arme verhaspelte sich total. Ilian kam ihr jedoch zur Hilfe.
»Lissy hat mir von eurem Spitznamen für meine Freunde erzählt, keine Angst«, näselte er richtig gut. Er klang wirklich erkältet. »Meine Mama hatte einen Autounfall, deswegen sind wir diesen Sommer nicht dabei.«
»Das ist echt krass, nicht nur ihr, sondern auch eure Familien sind so ein richtig eingeschworenes Team, oder?«, löcherte Mischa interessiert, während Leon mich mit seinem Blick durchbohrte. Ilian nickte lächelnd. Das Zucken in seinen Lippen bei diesem gekünstelten Lachen überspielte er gut mit einem gespielten Niesen. Dafür hätte er den Oscar verdient gehabt. Ich kuschelte mich an ihn heran und wich damit auch Leons Blick aus.
»Wie süß«, seufzte Mischa. »Ich gebe ja zu, dass ich am Anfang nicht so begeistert gewesen bin, aber als ich gesehen habe, wie Lissy gelitten hat, als du krank warst, da habe ich meine Meinung geändert. Echt, du hättest sie mal sehen müssen. Ich kenne sie seit dem Sandkasten und ich habe sie noch nie so abwesend und besorgt gesehen. Das war echt schlimm.«
Ilians Blick lag schmerzverzerrt auf mir. Seine warmen Arme schlossen sich um mich und er küsste meine Stirn. Ich fühlte mich so aufgehoben, so beschützt.
»Hey Ilian«, hörte ich eine fremde Mädchenstimme rufen. Ich sah zu ihr herüber und entdeckte drei Mädels, die uns abschätzend musterten.
»Hi«, antwortete mein Freund.
»Geht es dir wieder besser?«, wollte die Mittlere, Blonde, ich glaube ihr Name war Sarah, wissen.
»Ja, danke.«
»Wir sehen uns in Bio«, flötete das Mädel und setzte sich mit ihren beiden Freundinnen in Bewegung. Ich wollte gerade brummig werden, als ein Kerl Ilian auf die Schultern klopfte und mich damit durchrüttelte. Nicht weil er so fest geschlagen hatte, sondern weil Ilian sich so erschrak. Ich spürte das Zittern durch seine Kleidung und lauschte, wie sein Atem sich beruhigte, als er den Jungen damit begrüßte, dass sie ihre Fäuste gegeneinander schlugen.
»Hab ich dich erschreckt?«, gluckste er.
Ilian lachte tapfer, doch ich spürte immer noch das Zittern in seinen Armen. »Ja, ich war gerade … beschäftigt.« Er sah zu mir und flehte mich mit seinen Augen an.
»Deine neue Freundin?«
»Ja, Lissy, das ist Frank. Frank, … Lissy.«
Ich reichte Frank tapfer die Hand, während der mich mit einem Grinsen im Gesicht abcheckte.
»Gut gemacht, Junge«, meinte er zu Ilian und stieß ihn sanft mit der Schulter an. »Wir sehen uns.«
»Ja, bis nachher«, antwortete Ilian. Nachdem Frank weg war, drückte ich Ilian fester und legte meine Lippen an sein Ohr.
»Alles gut, uns passiert nichts«, sprach ich beruhigend auf ihn ein. Er nickte mir zu und atmete tief durch. Unsere Lippen fanden sich zu einem sanften, zärtlichen, fast schon streichelnden Kuss. Ich hörte Mischa neben uns seufzen. Leon tat es ihr nach, doch bei ihm klang das ganz anders. Zum Glück rollte Conny an – und verdammt, hatte die sich rausgeputzt! Zuerst stutzte ich, doch dann wurde mir der Grund klar. André, der hier irgendwo alles beobachtete. Ich betete, dass wir ihn nicht brauchen würden.