Kapitel 5

Die Welt ist unfair. Ich spürte Ilians Lippen immer noch auf meinen und ihn jetzt neben Arva in der Kantine essen zu sehen, war Folter. Conny und Leo waren sich gerade einen Nachtisch holen und Mischa drehte sich gelangweilt eine Strähne um den Finger.

»Glaubst du, Leo empfindet was für mich?«, fragte sie aus heiterem Himmel. Ich sah sie mit großen Augen an.

»Manchmal habe ich den Eindruck, ja«, gab ich ehrlich zu.

»Läuft da zwischen euch noch was?« Ihre Augen sahen mich sorgenvoll an. Ich verschluckte mich fast an meinen Nudeln.

»Mischa, Süße, da ist nie etwas gelaufen!«

»Aber die Nacht … an seinem Geburtstag?«

»Wir sind beide betrunken gewesen! Ich empfinde nur Freundschaft für ihn und ich glaube es geht ihm genauso.«

Mischa lächelte und musterte den Tisch. Ich erlaubte mir einen weiteren Blick auf Ilian, der die Soße von seinem Fleisch kratzte. Die Nudeln waren unberührt. Also echt … der machte doch Trennkost?!

»Lissy?«, riss mich Conny aus den Gedanken. Sie und Leon nahmen gerade wieder am Tisch Platz. »Wollen wir heute noch shoppen gehen? Oder hast du schon ein Outfit für morgen?«

Ich sah auf den Verband an meinem Unterarm. Das Stechen des Tattoos hatte ordentlich wehgetan, aber morgen würde ich es endlich allen zeigen können. Gerade rechtzeitig zur Stufenparty und damit auch meiner Geburtstagsfeier.

»Ich habe keine Kohle für was Neues«, maulte ich und durchforstete gedanklich meinen Schrank. Wieso hatte ich keine Freundinnen, die mir was leihen konnten? Conny war zu dürr und Mischa zu klein.

»Aber es ist dein Geburtstag!«, schrillte Mischas Stimme durch die Kantine. Ilian drehte sich um und sah mich einen Moment mit großen Augen an. Schnell sah er wieder weg und nahm sein Handy unter dem Tisch in die Hand.

»Ja, aber was soll ich machen? Papa fragen, ob ich mein Geschenk eher bekomme?« Ich sollte Geld bekommen, das wusste ich schon.

»Nein«, beruhigte Conny mich. »Ich leihe dir was, okay?« Sie sah für den Bruchteil einer Sekunde zum Tisch der Perfekten. »Du willst doch umwerfend aussehen, oder?«

Ich seufzte erleichtert. »Du bist die Beste!«

Conny schmunzelte selbstzufrieden. »Ich weiß!«

»Ist dein Bruder eigentlich schon da?«, wollte Leon wissen.

»Nein, aber du kennst ihn doch. Unzuverlässig wie sonst was. Aber wir rechnen jeden Tag mit ihm.«

Connys Augen begannen zu leuchten. Sie fand meinen Bruder absolut anbetungswürdig. Ich hatte ihr noch nicht gebeichtet, dass er wohl in Begleitung kam. Das würde hart werden. Leon erhob sich und sah zu Mischa.

»Kommt ihr mit in den Park?«, wollte er wissen. Ich sah zu Conny, welche nicht lange überlegen musste.

»Ne, geht schon mal vor. Ich muss mit unserem baldigen Geburtstagskind noch was besprechen.«

Mischa lächelte dankbar dafür, dass wir ihr Zeit mit Leon eingeräumt hatten, und ging oder schwebte vielmehr hinter ihm her.

»Sie hat mich wegen Leon gefragt«, blubberte es aus mir raus. Conny sah mich mit großen Augen und einem überraschten Lächeln an.

»Ui, es wird ernst.«

»Ich glaube auch«, seufzte ich und checkte mein Handy. Nichts. Auch nicht bei Facebook.

»Ignoriert er dich immer noch?«

Ich nickte.

»Ich verstehe es echt nicht. Wieso geht er dir jetzt aus dem Weg?«

Vollkommen resigniert rieb ich mir durch das Gesicht. »Es macht mich fertig, Conny. Ich meine, man küsst doch nicht einfach so jemanden, oder?«

Sie ergriff meine Hand und strich mit ihrem Daumen darüber. »Sprich ihn doch einfach jetzt in Spanisch darauf an.«

»Arva ist doch da.«

»Na und? Hast du einen Partner betrogen oder er?«

»Das kann ich nicht machen, Conny. Dann hasst er mich!«

Meine Freundin nickte und begann zu grübeln.

»Außerdem bin ich immer noch der Meinung, dass er sich bei mir melden sollte.«

Conny sah mich mit flehenden Augen an. »Komm Süße, du hast bald Geburtstag und morgen ist Party. Versuch ein bisschen zu lachen, ja? Für mich!«

Ich zog eine Schnute. »Ich mag nicht.«

»Sonst singe ich!«

Oh nein. »Du blamierst dich, nicht mich. Ich tue so, als kenne ich dich nicht!«

Sie schubste mich liebevoll mit ihrem Ellenbogen an. »Na komm schon … Space Taxi?«

Ich musste lachen und schüttelte den Kopf. Das konnte sie doch nicht HIER machen! Sie stand auf und holte Luft. Oh nein, sie konnte.

»There’ll be no problem, we’re on time tonight!«, sang sie.

Ich wusste was zu tun war. Ich stand auf und wir packten uns jeder an die eigene Brust, um dann laut »Mopsgeschwindigkeit!« zu brüllen und uns an der Hüfte anzustoßen. Dieser Tanz war an einem sehr, sehr, sehr langen Abend voller Schokolade und Cola entstanden. Stefan Raabs Song war da gerade richtig gewesen. Welche Tanzschritte danach kamen, kennt wohl jeder, der Bully Herbigs (T)Raumschiff Surprise gesehen hat. Singend und tanzend gingen wir an dem Tisch der Perfekten vorbei, hinaus aus der Kantine. Ich vermied es, Ilian anzusehen.

Ich summte noch den Song, als ich in die Spanischklasse kam. Sven würdigte mich immer noch keines Blickes. Sehr gut. Ich ließ mich auf meinen Stuhl plumpsen.

»Du hast Geburtstag?«

Oh weh, mit der Stimme hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich sah zu Ilian, der sich gerade setzte und mich ungläubig ansah. War er direkt hinter mir gewesen?

»Nein«, antwortete ich und drehte mich weg. Ich nahm mein Handy und tat beschäftigt.

»Was ist mit deinem Arm passiert?«

Sollte ich so tun, als hätte ich ihn nicht gehört? Nein, das konnte ich nicht.

»Tattoo«, sagte ich, sah ihn dabei aber nicht an und durchforstete weiter das Menü meines Handys, als gäbe es wichtige Dinge zu erledigen.

»Cool, was hast du für eins?«

Wie? Hatte er auch eins? Mist, jetzt hatte er mich. Ich sah von meinem Handy auf und ihm direkt in die wunderschönen braunen Augen. Hmmh … Schokolade.

»Du hast auch eins?« Wieso musste meine blöde Stimme so erstaunt klingen? Ich versuchte still durchzuatmen. Ruhig, er war nur ein Kerl! Ilian lehnte sich im Stuhl zurück und hob sein Shirt an. Oh, Jesus Christus … Ilians nackter Bauch. Bevor ich das Tattoo in Beckennähe sah, fiel mein Auge zuerst auf seinen Bauchnabel und den kleinen Pfad hellbrauner Haare, der hinunter in seine Calvin-Klein-Boxershorts führte. Ich schluckte eine Ladung Spucke herunter und versuchte mich auf den schwarz-blauen Drachen zu konzentrieren, der sich auf seiner rechten Körperhälfte vom Beckenknochen auf Bauchnabelhöhe nach oben schlängelte. Ilian war so gütig, seine Jeans und Unterhose mit einem Daumen nach unten zu ziehen, damit ich das Kunstwerk in voller Länge betrachten konnte. Mir war warm – nein, eher heiß.

»Das ist aber auch neu, oder?«

Er nickte. Im Sportstudio hatte er das letztens noch nicht gehabt!

»Was hast du für eins?«

»Äh, auch ein Drache«, stammelte ich und Ilians Augen weiteten sich überrascht. »Du wirst ihn morgen sehen können.« Ich deutete auf den Verband.

»Am rechten Unterarm«, sinnierte er.

»Ne, das ist mein linker Fuß!«, flachste ich, doch er überging meinen Kommentar. Irgendetwas an ihm war plötzlich seltsam. Er drehte sich weg und sah nach vorne. Leider kam der Lehrer herein und begann den Unterricht, bevor ich etwas sagen konnte.

***

»Es tut mir leid, doch ich muss leider gestehen, es gibt Dinge auf der Welt, die sind«, begann Conny beim Einkaufen das Lied von Deichkind zu singen.

»Leider geil!«, machte ich mit.

» Arva liebt ihn. Sie sieht mega aus, doch Ilian Balaur ist …«

»… leider geil!«, seufzte ich.

»Du hast ihn geküsst, Arva gefällt’s nicht. Doch seine Lippen sind …«

»… leider geil!«

»Diagnose Psychose, mir doch egal, denn sein Hintern ist …«

»… leider geil!«

Jetzt mussten wir so lachen, dass wir es aufgaben, das Lied umzutexten. Conny zog ein blaues Top vom Kleiderständer und hielt mir es an. Sie überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf.

»Guck mal, das gibt’s auch in Koralle!«

Ja, das war es! Der Hammer, und ich hatte den passenden Nackellack dazu.

»Deine Jeans-Hotpants sähen gut dazu aus und – nein, Schuhe brauchen wir noch neue. Ein paar richtige Nuttentreter!«

Ich verschwand in der Umkleide und probierte das Oberteil an. Es war perfekt! Der Wasserfallausschnitt kaschierte nicht nur meine kleinen Polster, sondern lenkte den Blick auch noch auf meinen Busen. Die Träger bestanden aus glitzernden Strass-Steinchen und würden in der Beleuchtung eines Clubs einfach super aussehen!

»Ich glaube, ich ziehe darunter aber meine schwarze Hose an«, grübelte ich. »Das wirkt schicker.«

»Da hast du Recht«, stimmte mir Conny zu. »Hauptsache kurz, so dass man deine Beine sieht.«

Ich hatte tolle Beine! Gut, die Oberschenkel waren etwas kräftig, aber die bedeckte die Hose. Dafür hatte ich lange, schön geformte Beine. Perfekt für Nuttentreter, wie Conny hochhackige Schuhe gerne nannte.

»Vielleicht ein Paar hautfarbene Schuhe? Die strecken angeblich die Beine.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Müssen wir im Schuhladen testen.«

Und der sollte auch gleich unser nächstes Ziel sein. Wir steuerten direkt das Regal mit der Größe 39 an und staunten nicht schlecht, wer da stand. Na ja, eher ich, denn Conny kannte sie noch nicht.

»Mayla, hi«, sagte ich. Ilians jüngere Schwester hatte sich gerade ein paar quietschgrüne Chucks angezogen und sah auf.

»Lissy!« Sie wirkte nervös und sah sich um. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gesagt, dass sie Angst vor mir hatte. »Ilian ist hier auch irgendwo.«

Oh Mann, verfolgte er mich? Ich sah mich um.

»Grüß ihn von mir«, sagte ich in Anbetracht der Tatsache, dass ich sie irgendwie nervös zu machen schien. Conny und ich beachteten sie nicht weiter und schauten uns Schuhe an, bis Mayla die Chucks ausgezogen hatte und in ihren alten Schuhen, die sie nicht mal zugeschnürt hatte, davonstürmte.

»Eine Schwester von Ilian, oder?«, fragte Conny leise und ich nickte ihr zu. »Was war denn mit der los?«

»Keine Ahnung, wer weiß, was Ilian oder Arva ihr von mir erzählt haben? Vielleicht, dass ich kleine Kinder fresse oder so?!«

Conny lachte, aber mir war nicht danach. Wieso hatte sich Mayla so seltsam verhalten?

»DIE!«, kreischte Conny und hielt mir ein paar hautfarbene, hochhackige Schuhe vor das Gesicht. Sie wurden um die Fessel mit einem kleinen Strassbändchen geschlossen. Die passten perfekt zu meinem Top, aber …

»Sie sind viel zu teuer«, seufzte ich.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, sagte Conny und drückte sie mir zum Probieren in die Hand.

»Bist du irre?«, schimpfte ich. »Die sind viel zu teuer!«

»Ich bezahle sie dir ja auch nicht ganz, du Huhn! Ich gebe dir was dazu.«

Ich entspannte mich und drückte Conny einen Kuss auf die Wange. Jetzt hatte ich ein perfektes Outfit für die Feier!

***

Culcha Candelas »Wildes Ding« dröhnte uns entgegen, als ich an Leons Arm die Halle im Industriegebiet betrat. Das Festkomitee hatte ganze Arbeit geleistet. Der Raum sah wirklich gut aus. Im Hellen sicher eher wie ein Kindergeburtstag, aber im Dunkeln mit den farbigen Lampen wirkten die Luftballons und das Konfetti überall richtig gut.

Meine Freunde und ich hatten uns zu Hause ein wenig warm getrunken, weswegen wir auch gleich die Tanzfläche stürmten. Arva und Milda entdeckte ich als Erstes. Sie tanzten etwas von uns entfernt zusammen. Arva sah einfach atemberaubend aus. Aber ich war auch nicht von schlechten Eltern! Nein, ich sah verdammt heiß aus und mein Tattoo zog alle Blicke auf sich, als ich die Arme beim Tanzen hob. Als Milda uns entdeckte, stupste sie Arva an und deutete auf mich. Binnen Sekunden verschwanden sie in der Masse. Was hatte ich denen getan? Ich verlangsamte mein Tanzen gerade und wollte nachdenken, doch Leon schob sich hinter mich und animierte mich weiter zu machen. Mischa sah uns mit gemischten Gefühlen an und ich zwinkerte ihr kurz zu. Sie verstand die Nachricht und lächelte verlegen.

Die Musik wechselte in einen langsamen, souligen Song, den ich nicht kannte. Ein Junge, den ich nur vom Schulhof kannte, weil wir keinen gemeinsamen Kurs hatten, tanzte sich an mich heran, nachdem ich Leon in Mischas Richtung geschoben hatte. Er war überhaupt nicht mein Typ mit seinen überweiten Klamotten und der Kappe auf dem Kopf, aber ich hatte gute Laune und schon einen im Tee, also schmiegte ich mich an ihn heran. Da entdeckte ich Ilian. Seine braunen Augen scannten mich. Die Perfekten standen alle beieinander und tuschelten. Audrinas fuchsiger Blick ruhte auf mir wie der Lauf einer Pistole. Oh mein Gott, er hatte ihnen von unserem Kuss erzählt! Das musste es sein. Deswegen war auch Mayla so komisch gewesen. Wut keimte in mir auf. Na toll, er hatte doch angefangen und jetzt war ich die Dumme? Der konnte mich mal gerne haben. Frei nach dem Motto »Bauch rein, Brust raus« hob ich meinen Kopf und straffte meine Schultern. Sticks and stones may break my bones, but words can never hurt me. Ich drehte mich in der Umarmung von Snoop Dog für Arme und legte seine Hände auf meinen Bauch. Meine Arme nahm ich hoch und legte sie hinter mich um seinen Nacken. Gott, der Kerl hatte sofort einen Ständer! Ich sah zu Conny, welche meinen Blick sofort richtig deutete. Sie löste sich von einem Jungen aus meinem Mathekurs und kam zu mir herüber.

»Toilette!«, schrie sie, um die Musik zu übertönen, und nahm mich an die Hand. Ich sah Snoop Dog mit einem entschuldigen Lächeln an und ließ mich von Conny wegziehen. Nachdem wir in der Mädchentoilette angekommen waren, bemerkten wir, dass Milda uns gefolgt war. Sie stellte sich an einen Spiegel neben uns.

»Warum der SOS-Blick?«, fragte Conny und sah kurz zu Milda.

»Wie heißt der Kerl, mit dem ich da getanzt habe?«, fragte ich.

»Ich glaube Kevin.«

»Der sollte in Big Ben umgetauft werden!«

Conny verstand sofort und lachte.

»Ich glaube, ich habe morgen einen blauen Fleck an meinem Hintern.«

Meine Freundin verschluckte sich und geriet ins Husten.

»Und «, japste sie, »ich sollte dich davor bewahren, aufgespießt zu werden?« Normalerweise hätte ich Ja gesagt, da Milda aber dabei war und sie mit Sicherheit den anderen berichten würde, sagte ich:

»Was? Gott nein, du solltest mich davor retten, es mit ihm auf der Tanzfläche zu treiben! Hallo? Zwanzig Zentimeter – mindestens!«

Conny verstand, was ich da tat, und zwinkerte mir zu. »Dann weißt du ja schon, was du heute Nacht tust!«

Na, das wollte ich mir dann doch nicht nachsagen lassen. »Nein, meinen Geburtstag feiere ich nur mit meinen Mädels!«

»Und Leon«, erinnerte Conny mich.

»Ja, wobei Geburtstage für Leon und mich ein rotes Tuch sind!«

Meine Freundin lachte wieder und betrachtete sich im Spiegel. »Ich passe auf, dass ihr nicht wieder in der Kiste landet.«

»Zu gütig!«, lachte ich.

Milda drehte sich zu uns um. »Lissy, könnte ich dich draußen kurz alleine sprechen?«

Conny und ich sahen uns an. Oh, oh, jetzt kam bestimmt das Lass-deine-Finger-von-dem-Freund-meiner-besten-Freundin-Gespräch! Das würde ich wohl über mich ergehen lassen müssen. Ich nickte ihr zu und gab Conny einen Kuss.

»Ich komme sofort wieder«, teilte ich ihr mit und deutete Milda an, dass ich ihr folgen würde. Sie führte mich aus der Toilette hinaus aus dem Gebäude. Als sie dort auch noch nicht stehen bleiben wollte, wurde ich misstrauisch.

»Wo willst du hin?«

»Wo wir alleine sind!«, zischte sie und ich sah zu den paar Mitschülern, die draußen standen und rauchten. Die würden uns wohl kaum stören! Sie ging um die Ecke in eine Gasse, wo sich zu meiner Überraschung alle Perfekten versammelt hatten.

»Na herrlich, gangbangt ihr mich jetzt, oder was?«

Ilian wich meinem Blick aus und sah betreten auf den Boden. Audrina trat einen Schritt vor und funkelte mich mit ihren giftgrünen Augen an.

»Seit wann bist du schon eine Jägerin?«, fragte mich ihre kühle, vor Wut triefende Stimme. War sie betrunken?

»Ich habe noch nie gejagt?!«, sagte ich und sah verwirrt in die Runde. »Wieso sollte ich aus Spaß wehrlose Tiere abknallen?« Was immer ich gesagt hatte, es machte Audrina rasend. Milda und Mendel mussten sie festhalten, weil sie auf mich losgehen wollte. Sie beruhigte sich ein wenig und sprach weiter.

»Verarsch uns nicht, Jägerin! Wir wollen hier nur in Frieden leben. Wir haben niemandem etwas getan und dennoch führst du uns an der Nase herum und spionierst inkognito die Brutstätte der Balaurs aus!«

»Bist du betrunken?«, fragte ich und wollte gerade den Rückzug antreten, da hielt mich Mendel brutal am Arm fest. Schmerz durchfuhr mich und ich holte mit der freien Hand aus, um ihm eine Ohrfeige zu geben. Er fing meine Hand jedoch vorher ab und hielt auch sie in seinem Klammergriff.

»Was seid ihr? Die Mafia? Lasst mich gehen, ich habe keine Ahnung, wovon ihr sprecht?!«

»Von deinem Tattoo«, knurrte Mendel, während Ilian immer noch den Boden musterte.

»Was ist damit?!«, fragte ich und gab nicht auf, gegen Mendel zu kämpfen. Leider war er stärker als ich.

»Es kennzeichnet dich als Ordensjägerin!«

»Meine Mutter hatte es und mein Bruder, aber keiner von uns gehört irgendeinem Orden an. Man, wir sind getaufte Christen, guckt doch in meinen Perso!«

Ilian seufzte laut. »Archäologie!«, rief er aus und die anderen sahen ihn an. »Oh Mann, natürlich! Sie hat mir erzählt, dass ihre Mutter Archäologin gewesen sei und ihr Bruder dies ebenfalls in Afrika studiert!«

»So ist es ja auch!« Ich sah Mendel an. »Lass mich sofort los, du Arsch!«

Er tat es, verstellte mir aber den Weg.

»Ich wollte nur etwas haben, was mich an meine Mutter erinnert.«

Audrina kam auf mich zu. »Was siehst du, wenn du mich oder Ilian ansiehst?«

»Was für eine bescheuerte Frage?«, keifte ich. »Na dich und Ilian!«

»Die Mutter scheint es nur an den Sohn weitergegeben zu haben.«

Die anderen nickten.

»Dennoch, denkt ihr, ihr Bruder würde auch nur einen Moment zögern, wenn er eines unserer Kinder in der Hand hätte?«

Ilian sah mich alarmiert an, Arva biss sich auf die Unterlippe und Milda und Mendel funkelten mich wütend an. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte Mendel ausgeholt und mir mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Es kam so unverhofft, dass ich zunächst gar nicht wusste, was mich da getroffen hatte. Ich spürte nur einen glühenden Schmerz, der sich von meinem Kiefer aus im ganzen Kopf ausbreitete und mich mit Dunkelheit umnachtete. Meine Glieder begannen heftig zu zittern.

»NEIN!«, hörte ich Ilian schreien und sah auf. Er packte Mendel und stieß ihn gegen eine Wand. Mendel rappelte sich auf und wollte gerade auf Ilian losgehen, da hatte dieser ihm schon seine Faust in den Magen gerammt und Audrina schrie laut auf. Alles was ich sehen konnte, waren Ilians braune Augen, die mich anflehten. Sein Mund formte tonlos das Wort Lauf!

***

»Unglaublich!«, raunte Conny immer und immer wieder, während sie einen Trampelpfad in meinen Teppich rannte. Mischa hielt mir einen Eisbeutel ans Kinn, während Leon wütend aus dem Fenster starrte. Mein Kiefer tat so unheimlich weh, ich konnte kaum sprechen. In meinen Geburtstag hatte ich in der Notaufnahme reingefeiert. Zum Glück war nichts gebrochen, dennoch war alles grün und blau. Die Schwellung machte den Gesamteindruck auch nicht besser.

»Esch ischt drei Uhr«, nuschelte ich. »Geht nach Hausche!«

»Ich hoffe, dass du nun von Ilian kuriert bist«, schimpfte mich Mischa. Conny hatte sie und Leon eingeweiht.

»Aber schon eigenartig, was die gesagt haben«, murmelte Conny. »Vielleicht sind die irgendwelche merkwürdigen Freaks!«

»Auf scheden Fall!«, stimmte ich zu und bereute es, den Mund aufgemacht zu haben.

»Wir sollten Salz vor Fenster und Türen streuen!«

Ich musste lachen. Conny und ich hatten eindeutig zu viel Supernatural geguckt.

»Hör auf misch ssum Lachen su bringen.« Im Grunde war mir das Lachen auch so ziemlich vergangen. In was war Ilian da hineingeraten? Mir dämmerte es, dass die Perfekten alles andere als perfekt waren. Das waren nur sorgsam hochgezogene Masken und dahinter dampfte gewaltig die Kacke!

»Komm Mischa«, sagte Leon, »ich bringe dich noch nach Hause.« Er sah mich hilflos an. »Wir kommen morgen wieder vorbei Lissy, okay?«

Ich nickte – selbst das tat höllisch weh.

»Ich bleibe hier!«, beschloss Conny, doch ich schüttelte den Kopf.

»Nein, bitte! Isch brauche etwasch Scheit für misch!«

Meine beste Freundin war unglücklich über den Rausschmiss, nickte jedoch ergeben.

»Leon? Bringst du mich auch noch heim?«

Ganz Gentlemen, nickte er ergeben und verließ mit meinen Freundinnen das Zimmer auf leisen Sohlen. Papa hatte sich, direkt nachdem wir aus dem Krankenhaus zurück waren, wieder hingelegt. Leider haben die Ärzte und Schwestern darauf bestanden, ihn anzurufen. Ich hätte es ihm gerne erspart.

***

Liebes Tagebuch,

mein Magen schmerzt.

Es ist alles verloren.

Alles.

I.

***

»Geburtstagsüberrasch…«, rief mein Bruder, als er zur Tür hereinkam. Als er jedoch mein Gesicht sah, stockte er sofort und kam auf mich zugelaufen. »Wie ist das passiert, Lissy?«

Eine rothaarige, sportliche Frau kam hinter ihm zur Tür herein und winkte verlegen in die Runde. Ihre Haare hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz am Hinterkopf zusammengebunden und ihre Oberarme in dem Tanktop verrieten, dass ihnen Muskeltraining nicht fremd war. Zu meinem Erstaunen hatte auch sie das Tattoo. Oh je, so ernst war es den beiden schon, dass sie sich das gleiche Teil hatte stechen lassen?

»Das Tattoo bringt Unglück!«, schimpfte ich. Die Schwellung war über Nacht durch das Kühlen ein gutes Stück zurückgegangen und ich konnte mich wieder halbwegs gut ausdrücken.

Thomas machte große Augen. »Wie meinst du das?«

»Später!«, raunte ich und zog ihn in meine Arme, doch er drückte mich von sich weg.

»Wo sind Papa und Carmen?«

»Kuchen besorgen«, sagte ich und sah meinen Bruder besorgt an. Irgendetwas machte ihm höllische Angst. Seine grünen Augen wirkten mehr als nur besorgt. Ich wuschelte ihm durch seine blonden Haare.

»Möchtest du mir nicht deine Freundin vorstellen?«

»Entschuldige Lissy, das ist Kassandra!«

Wir gaben uns artig die Hand und lächelten uns tapfer an.

»Und jetzt sag mir, wie das passiert ist!« Er setzte sich zu mir auf das Bett und begutachtete mein Gesicht.

»Ach, da ist so eine Clique bei mir in der Schule. Denen hat das Tattoo wohl nicht gefallen. Sie haben mich ständig gefragt, ob ich jagen gehen würde und ob ich von irgendeinem Orden sei?! Dann hat mir einer von denen eine reingehauen. Wäre Ilian nicht dazwischengegangen, hätte der mich glaube ich tot geprügelt.«

Thomas und Kassandra tauschten Blicke.

»Erzähle uns mal ein wenig über die Clique«, bat sie mich.

»Was soll ich da schon sagen? Drei Mädels und zwei Jungs. Gutes Aussehen, gute Noten. Eigentlich total untypisch, so ein Verhalten!«

»Nein«, sagte mein Bruder. »Ganz typisches Verhalten.«

»Haben sie alle denselben Nachnamen?«

»Nein, da gibt es Drake, Balaur und irgendwie Schmei oder so etwas. Mischa meinte, das sei russisch für Drache! Audrinas und Mendels Nachname will mir gerade nicht einfallen. Ach doch, Audrina heißt, glaube ich, Ryuu und Mendel … Moment, ich hab’s gleich … wieso wollt ihr das eigentlich wissen?«

»Mehrere Nester?«, fragte Kassandra meinen Bruder.

»Eher ein Zusammenschluss.«

»Jetzt sprecht ihr auch von Nestern!«

Die Blicke der zwei schossen zu mir.

»Was?«

»Was haben sie von Nestern gesagt?«, wollte Thomas wissen.

»Keine Ahnung, irgendwas davon, dass ich die Brutstätte oder so etwas von den Balaurs ausspioniert hätte!?«

»Du warst bei einem von denen zu Hause?«, fragte mein Bruder beinahe hysterisch.

Ich nickte. »Wieso nicht? Ilian war krank und ich habe ihm die Hausaufgaben gebracht.«

»Wie viele Balaurs gibt es?«

»Sie haben acht Kinder, wieso?« Was interessierte die zwei das so sehr? Und wieso redeten sie den gleichen Scheiß wie die Perfekten? Moment mal …

»Bist du wirklich in irgend so einem kranken Orden?«, fragte ich meinen Bruder und er sah mich eindringlich an. Scheiße, die Antwort lautete Ja. Ich kannte Thomas nur zu gut.

»Verflucht, bist du in einer Sekte?«

»Nein, Lissy«, seufzte er und sah zu Kassandra. »Ich muss dir da was erzählen. Von Mama – und von mir.«

***

Liebes Tagebuch,

was soll ich tun?

Audrinas Befehle ignorieren und zu ihr gehen?

Damit würde ich meine Familie in Gefahr bringen.

Mit Sicherheit hat sie schon ihren Bruder angerufen.

Ob er ihr gesagt hat, mit wem sie es zu tun hat?

Die Jäger halten uns für Menschenfresser.

Elisabeth wird voller Verachtung und Hass auf mich sein, wenn sie erst die Lügen und Märchen hört, die die Jäger von uns erzählen. Aber wem wird sie glauben? Sicher nicht mir …

Ich konnte ihre Schmerzen spüren, als Mendel sie traf. Es war, als hätte man mein Herz in der Hand zerquetscht. Seiryū spürt meine Wut und facht sie immer wieder an.

Wie ein Waldbrand.

I.

***

»Drachen?«, wiederholte ich ungläubig. Thomas und seine Freundin nickten, während sie betreten über den Küchentisch starrten.

»Nur weil sie alle Drache mit Nachnamen heißen? Okay, das ist schon seltsam, ich meine, dass sie alle den gleichen Namen haben, nur eben in verschiedenen Sprachen, aber dass sie deswegen Märchenfiguren sein sollen?«

»Drachen existieren und deine Mitschüler sind welche«, redete Kassandra auf mich ein. »Wir Jäger haben die Gabe, sie zu erkennen, sobald sie sich das erste Mal gewandelt haben.«

»Ihr wollt mir sagen, dass Ilian und seine Freunde irgendwelche Echsen sind?« Die hatten doch den Schuss nicht gehört! »Mal ernsthaft, nehmt ihr Drogen?«

»Was denkst du, weshalb sie sich sonst so komisch verhalten haben, als sie dein Tattoo gesehen haben?«, fragte Thomas und nahm einen Schluck Wasser. Ich legte meinen Kopf auf dem Küchentisch ab.

»Weil ihr vielleicht zwei verfeindeten Sekten oder Mafiaclans angehört? So wie Montague und Capulet?« Ilian Montague und Lissy Capulet. Na bravo!

»Nein Lissy«, seufzte mein Bruder. Die Türklingel unterbrach ihn und ich hob meinen Kopf an. Das waren bestimmt meine Freunde. Oder Papa und Carmen hatten die Hände voll. Thomas erhob sich und schlenderte zur Tür. Kassandra sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Gutmütigkeit an, als wäre ich eine Beschränkte, die es galt zu beruhigen.

»Du bist ja vielleicht mutig!«, hörte ich meinen Bruder sagen. »Seiryū, welch seltener Anblick! Ilian, oder?«

Ich sprang sofort auf und rannte zur Tür. Ilians braune Augen sahen ängstlich von mir zu meinem Bruder.

»Ja, ähm«, begann er nervös und hielt Thomas die Hand hin, der sie nicht ergriff. Ein peinlicher Moment verstrich, in dem Ilian die Hand herunternahm und sie sich an der Hose abwischte, als hätte er in Glibber gepackt. »Lissy, ich muss dir einiges erklären.«

»Du kommst gerade richtig«, sagte Thomas und trat zur Seite, damit Ilian hereinkommen konnte, doch der zögerte. »Treffen unter weißer Flagge, okay?« Die hatten sie doch nicht mehr alle.

»Ilian, könntest du BITTE meinem Bruder klarmachen, dass du KEIN Drache bist. Ich glaube, er und seine Freundin nehmen Drogen.« Ich lachte, doch Ilians Miene blieb ernst, als er eintrat und sich im Flur umsah.

»Sag es ihr, Seiryū!«

Was? »Thomas, könntest du aufhören ihn zu beleidigen?« Was immer dieses Wort bedeutete, es war bestimmt nichts Nettes, wenn die Sekte meines Bruders mit der von Ilian nicht klarkam.

»Es ist keine Beleidigung, Elisabeth«, sagte Ilian und musterte mein Gesicht. »Was Mendel getan hat, war unverzeihlich.«

Ich sah betreten zu Boden. »Danke, dass du mir zu Hilfe geeilt bist!«

»Unübliches Verhalten!«, sagte mein Bruder und bat Ilian herein. Wir setzten uns an den Küchentisch. Kassandra sprang jedoch auf und lehnte sich an die Küchenzeile direkt vor den Messerblock. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Film.

»Also, wie kommt es, dass du meiner Schwester geholfen hast und dich gegen den Befehl deiner Brutmutter gestellt hast?«

Ich erwartete, dass Ilian ihn verwirrt ansehen würde, doch er seufzte nur. »Ich mag Lissy sehr gerne. Audrina ist nicht meine Brutmutter, sondern ihre Mutter. Wir Jungen haben die Situation für uns behalten.« Ilian sah mich an und wollte nach meiner Hand greifen, doch ich zog sie weg. »Es tut mir unendlich leid, dass ich es ihnen gesagt habe, Elisabeth. Ich hatte Angst. Als ich das Tattoo gesehen habe, kam ich mir so verraten vor. Du warst in meinem Heim, hast die Kinder kennengelernt, dazu der Angriff auf meine Mutter …«

»Das war kein Unfall?«, warf ich dazwischen.

Ilian schüttelte den Kopf. »Nein, sie wurde dafür bestraft, dass mein Bruder einen Menschen geheiratet hat.«

»NEIN?«, riefen Kassandra und Thomas fast unisono erstaunt aus.

»Ein Drache, der einen Menschen heiratet?«, fragte mein Bruder und Ilian nickte. »Merkwürdiges Verhalten.«

»Das dachte die Brutmutter auch.«

»Und bestrafte deine Mutter, weil sie es zuließ?« Thomas schien gebannt an Ilians Lippen zu hängen.

»Ja«, seufzte dieser. »Jedenfalls war ich verwirrt und verletzt, Elisabeth. Ich dachte, du hättest mich an der Nase herumgeführt! Ich hätte ahnen sollen, dass du mit dem Orden nichts zu tun hast.«

»Oh je, ihr nehmt alle Drogen!«, seufzte ich und stützte meinen Kopf in meinen Händen ab. Es tat so weh, dass ich es schnell wieder sein ließ.

»Nein Lissy, ich bin wirklich ein Drache.« Ilians Stimme war ruhig und sanft. »Es tut mir leid.« Der hatte sie nicht mehr alle.

»Beweise es«, sagte ich und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch.

»Ich bin noch ein junger Drache, es tut höllisch weh!«

»Dafür aber ein sehr seltenes Exemplar, Seiryū!«, sagte Kassandra.

»Was heißt das?«, fragte ich. »ßäääriüüüü?«

»Das ist japanisch«, erklärte mein Bruder. »Die Bezeichnung für einen azurblauen Drachen. Was eine sehr seltene Schuppenfärbung ist. Die meisten Drachen sind braun oder dunkelgrün. Gelegentlich auch rostrot, aber die blauen sind selten und alle Dracheneltern wünschen sich solch ein Exemplar.«

»Warum?« Ich fragte einfach mal. Mal gucken, wie weit sich diese Irren ihre Drogenwelt zusammengereimt hatten.

»Nur weil es eine schöne Farbe ist«, brummte Ilian. »Sorry, aber anders kann ich es nicht ausdrücken, denn es sagt nichts über den Träger aus.«

»Und lass mich raten«, gluckste ich, »Arva ist rostrot?«

»Arva ist noch nicht siebzehn. Da verwandeln wir uns zum ersten Mal. Der wahre Grund, warum ich krank zu Hause geblieben bin und so furchtbar zerschlagen ausgesehen habe.«

Ja natürlich. Der war sicherlich zugedröhnt gewesen und an den falschen geraten.

»Wer ist Arva?«, wollte mein Bruder wissen.

»Seine Freundin!«

»Garantiert nicht«, sagte mein Bruder lachend.

»Doch!«, protestierte ich.

»Nein, Lissy. Es gibt keine weiblichen Hetero-Drachen.«

Oh Mann, jetzt gingen sie aber zu weit!

»Dein Bruder hat Recht, Elisabeth«, machte Ilian den Schwachsinn mit. »Ich bin Arvas Wächter und … Na ja, ich werde ihre Eier befruchten.«

»Okay«, sagte ich und stand auf. »Wo ist die Kamera? Ihr verarscht mich doch? Meine Freunde springen gleich von irgendwo hoch und rufen Überraschung?!« Ich sah mich um.

»Schwesterchen, Drachenweibchen sind immer gleichgeschlechtlich orientiert. Sie lieben ihre Gefährtinnen, mit denen sie die Kinder großziehen. Die Kerle werden nur als Wächter und Zuchtbullen«, Ilian zuckte bei dem Wort, »benutzt.«

»Modernen Drachenbullen reicht das nicht mehr. Deswegen suchen sie sich Menschenfrauen«, fügte Ilian hinzu.

Thomas sah interessiert aus und nickte verstehend. »Diese Entwicklung macht die Drachenweibchen bestimmt nicht glücklich, oder?«

Ilian schüttelte seinen Kopf und Thomas sah mich belustigt an.

»Du musst wissen, Lissy, bei den Drachen haben die Frauen das Sagen.«

»Ich lache später«, seufzte ich und ließ mich wieder auf den Stuhl fallen. Sollten sie mich doch weiter verarschen, ich machte einfach nicht mehr mit.

»Aber sag mal, Seiryū«, mischte sich Kassandra wieder ein. »Dich sollten wir wohl als Erstes umlegen, was? Mit Sicherheit wirst du auf Grund deiner seltenen Farbe züchten müssen bis zur Bewusstlosigkeit? Oder musstest es sogar schon?«

Ilian schwieg und starrte ängstlich die Tischdecke an. Diese Panik in seinen Augen ließ mich skeptisch werden. Das konnte man nicht spielen!

»Du musst wissen, Lissy«, sagte mein Bruder lachend, »die Drachenweibchen gehen mit ihren Männchen nicht gerade sanft um.«

Kassandra lachte mit und machte ein paar obszöne Gesten.

Ilian schluckte. »Meine Eltern werden es zu verhindern wissen.« Plötzlich fielen mir Ilians seltsame Augen in der Kantine ein. Sie waren so weiß gewesen.

»Ich finde das echt nicht lustig«, sagte ich schließlich. »Schön, dass ihr euren Spaß habt, aber wenn hier noch einmal irgendwer irgendwem mit dem Tod droht, verlasse ich diesen Raum und rede mit keinem von euch mehr ein Wort.« Da hörte der Spaß echt auf!

»Ilian, würdest du bitte Seiryū meiner Schwester zeigen?«

»Damit ihr mich danach, wenn ich mich vor Hitze und Schmerzen kaum bewegen kann, umbringen könnt?«

»Verlockend«, sagte Kassandra, »aber nein. Weiße Fahne, schon vergessen? Außerdem sind Thomas und ich nicht beruflich hier. Wir handeln nur, wenn jemand verletzt wird und das betrifft dann ja nur diese Audrina und diesen Mendel.«

»Bitte«, flehte Ilian. »Verschont Audrina, sie mag vielleicht nicht die netteste Person sein, aber sie ist alles, was zwischen uns Jungen und der Brutmutter steht!«

»Sie hat befohlen, meine Schwester zu töten!«, erinnerte Thomas ihn.

Ilian sah sich nervös um. »Ich zeige euch Seiryū, dafür verzeiht ihr Mendel und Audrina. Wenn sie noch einmal jemandem schaden, dann stehe ich euch nicht im Weg, aber diesen einen Ausrutscher …«

»Ausrutscher?«, fragte Thomas und deutete auf mein Gesicht.

»Glaub mir«, sagte Ilian, »es tut mir mehr weh, sie so zu sehen, als du dir vorstellen kannst. Aber ich brauche Audrina. Sie bewahrt Lissys Herkunft vor ihrer Mutter.«

Thomas und Kassandra tauschten Blicke aus.

»Einverstanden«, sagte Kassandra und mein Bruder nickte.

»Und mir geschieht nichts?« Ilian sah zu mir.

»Was immer du hier für einen Zaubertrick zeigen willst«, gluckste ich, »ich passe schon auf, dass dir keiner was tut.«

Ilian wirkte nervös und sah zu meinem Bruder, welcher zustimmend nickte.

»Deine wievielte Verwandlung ist es, Seiryū?«

»Die zweite«, seufzte Ilian.

»Autsch«, gluckste Kassandra. »Sag mal, musstest du Arva schon ein Ei befruchten?« Sie wirkte amüsiert.

»Du findest die Fortpflanzung von Drachen total interessant, oder?«, brummte mein Bruder beleidigt.

»Nein«, antwortete seine Freundin, »ich finde ihn nur irgendwie total schnuckelig.«

Thomas' Gesicht wurde rot vor Eifersucht.

»Könnte mich bitte jemand erschießen?«, flüsterte ich vor mich hin.

»Und, Seiryū?«, drängte Kassandra.

»Ich … ich … «, stammelte er und sah entschuldigend zu mir. »Es ist schon ein Jahr her, es hat also nichts mit meiner Farbe zu tun.«

»Oha, dann seid ihr Jungen wohl schon ein eigenes Nest, oder wie? Sagtest du nicht, dass Audrinas Mutter noch die Brutmutter ist? Wenn aber Arva und du schon ein Kind habt, dann müsstet ihr doch euer eigenes Nest gründen?«

»Er … er … wächst als Kind meiner Eltern auf.« Häh, wie jetzt? »Arva hat eine unerklärliche Angst vor Audrina und wollte ihn deshalb nicht selbst behalten.«

»Und? Hat sie dir dabei alle Knochen gebrochen?«, fragte Kassandra amüsiert und neugierig. Thomas zischte sie dafür genervt an.

»Den Arm«, gestand Ilian. Moment mal, … letztes Jahr … er war nicht im Schwimmbad gefallen? Halt, … glaubte ich jetzt etwa den Schwachsinn?

»Seid ihr doof?«, keifte ich. »Arva war nie schwanger, jetzt habt ihr euch verraten!«

»Drachen legen Eier, Lissy«, erklärte mein Bruder. »Sie werden im Körper befruchtet und dann ausgeschieden. Danach legen sie das Ei ins Feuer, bis es groß genug ist.«

»Elisabeth?« Braune Augen flehten mich um Verzeihung an. »Roran, er … ist mein Kind!« Die waren alle irre … total bescheuert!

»Ist die Märchenstunde jetzt vorbei?«, keifte ich. »Das muss ich mir an meinem Geburtstag nicht bieten lassen!«

Ilian erhob sich und kam zu mir herüber. Mein Bruder war sofort in Alarmbereitschaft.

»Verzeih, ich habe dir noch gar nicht gratuliert«, sagte er und sah dann zu Thomas. »Kann ich mich nebenan ausziehen gehen?« Normal hätte ich ja absolut gar nichts gegen den nackten Ilian einzuwenden, aber die drei gehörten doch allesamt in die geschlossene Anstalt! War ich die Einzige hier, die bei Verstand war? Ilian verschwand im Wohnzimmer nebenan.

»Na jetzt bin ich aber auf das Kostüm gespannt, welches ihr ihm besorgt habt.«

Mein Bruder seufzte müde.

»Ich finde den Witz übrigens überhaupt nicht lustig. Das ist voll nach hinten losgegangen.«

Aus dem Wohnzimmer kamen plötzlich eigenartige Geräusche. Ein Knacken und Schmatzen, als ob jemand etwas zerstückelte. Mir stellten sich die Haare im Nacken auf. Ich drehte mich herum, als ich hinter mir ein schleifendes Geräusch hörte und … SCHRIE!