Kapitel 11

»Jetzt guck doch nicht wie ein begossener Pudel!«, seufzte Mischa mir voller Mitleid auf dem Schulhof in die Ohren. »Er ist doch nicht todkrank, bald hast du ihn ja wieder.«

»Außerdem kannst du ihn doch nach der Schule besuchen gehen?!« Leon verstand meine trübe Laune nicht mal im Ansatz. Wie auch? Er und die anderen dachten ja auch, dass Ilian mit Grippe im Bett lag. Wenn dies doch nur der Fall wäre. Ich seufzte und sah zu Conny, die mich kritisch beäugte. Sie wusste es. Ihr konnte ich nichts vormachen. Ich war es so leid zwischen den Stühlen zu sitzen, aber ganz besonders hatte ich die Nase davon voll nicht zu wissen, was mit Ilian war.

»Heute Mittag gehst du zu ihm«, plapperte Mischa weiter, um mich zu trösten, »und kuschelst dich mit in sein Bett. Dann geht es dir besser.«

»Das glaube ich nicht«, verkündete Leon. »Wenn sie auch krank wird, geht es ihr nicht besser.«

Ich musste lachen, denn dieser Spruch war so typisch für Leon. Stets sachlich und logisch, der zukünftige Herr Doktor. Na ja, außer wenn er betrunken war. Ich musste es ja wissen …

»Ach, das ist nebensächlich, wenn man frisch verliebt ist«, schimpfte Mischa, ihre Augenbrauen und Mund schmollend zusammengezogen. »Ilian braucht jetzt ihre Nähe, um schnell wieder gesund zu werden.«

Da hatten sich ja die richtigen ineinander verguckt. Hoffnungslos romantisch trifft auf sachliche Fachkompetenz – oder so ähnlich. Ich wollte schreien! Es fiel mir unheimlich schwer Connys, wütende Blicke und das Geplapper des zukünftigen Pärchens zu ertragen, während ich lieber zu Hause geblieben wäre, um immer auf dem Laufenden zu sein.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Nähe zu einem anderen Körper keinerlei Auswirkungen auf die Dauer einer Grippe hat.« Leon machte große, ungläubige Augen.

»Schon mal was von Glückshormonen und deren positiven Einfluss auf das Gesamtbefinden gehört?« Mischa klang schon ziemlich wütend für so ein kleines, zierliches Persönchen. Ich rieb mir zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Morgen durch das Gesicht. Die Pause kam mir nun schon unerträglich lang vor. Nicht zuletzt, weil mir Arva immer wieder seltsame Blicke zuwarf. Die anderen Drachen ignorierten mich zum Glück konsequent. Ich hatte strikte Anweisungen mich von ihnen fernzuhalten und am Ausgang der Schule warteten eine Hand voll frisch angereister Jäger auf mich, die mich jederzeit nach Hause eskortieren würden. Dazu trug ich in meiner Hosentasche einen Peilsender, damit der Orden immer wusste, wo ich war. Grausam, ich kam mir vor wie bei Big Brother. Mischa und Leon waren mittlerweile in einen handfesten Streit übergegangen und zankten sich, ob der jeweils eine den anderen im Krankheitsfall im Stich lassen würde. Erstaunt sah ich zu Conny, die immer noch schmerzhaft still war.

»Ihr habt voll einen an der Waffel«, meldete sie sich schließlich zu Wort.

»Kann ich kurz mit dir alleine reden?«, fragte ich und flehte sie mit meinen Augen an. Ich konnte ihr vielleicht noch nicht die Wahrheit sagen, aber ich konnte wenigstens versuchen das zu retten, was mit meinen Möglichkeiten zu retten war. Sie nickte und wirkte erleichtert. Da Mischa und Leon uns nicht beachteten, gingen wir einfach ein paar Meter von ihnen weg.

»Also, was ist wirklich los?«, fragte Conny sofort. »Habt ihr euch gestritten oder getrennt? Bist du schwanger?«

Bei der letzten Frage musste ich lachen und mein Herz machte einen Satz vor Freude, als Conny mit einfiel.

»Nein, nichts von alledem.« Ich überlegte fieberhaft, was ich ihr sagen konnte. »Es gibt etwas über Ilian, was du noch nicht weißt.« Denk Lissy, denk! »Er ist Vater.«

BUMM! Das schlug wie eine Bombe ein und Connys Augen wurden riesig. »Was? Von wem – ich meine, wer ist die Mutter?«

»Kennst du eh nicht!« Ich konnte schlecht Arva benennen, da eine Schwangerschaft bei so einer schlanken Figur wie der des Drachenmädchens sicherlich aufgefallen wäre.

»Scheiße!«, raunte Conny.

»Ja, ich muss das auch erst mal alles verarbeiten.«

»Man, man, die Balaurs sind wie die Karnickel«, grübelte sie laut. Na toll und das von der Frau, die selber mal eine Großfamilie wollte.

»Es gibt da noch mehr, was ich dir sagen möchte, aber das würde ich gerne mit Ilian zusammen tun, wenn es dir recht ist?«

Meine beste Freundin wirkte ein wenig enttäuscht, aber nicht mehr wütend. Sie nickte seufzend.

»Ist er wirklich krank?«

»Ja und der Kleine auch, deswegen ist er zurzeit nicht da.« Die Lüge tat weh, war aber nötig, um Conny nicht noch mehr zu verärgern. Sie würde die Wahrheit bekommen und dann würde sie mir hoffentlich verzeihen und einsehen, dass ich ihr nicht ohne einen waschechten Drachen neben mir eröffnen konnte, dass es eben jene Fabelwesen wirklich gab.

»Sein Sohn lebt in einer anderen Stadt bei der Mutter.« Autsch, autsch, autsch, armer Roran. Es tat mir so leid, dass ich ihn da mit reinziehen musste.

»Ich bin sprachlos«, raunte Conny. »Jetzt verstehe ich auch, warum du so komisch drauf warst. Das hätte ich auch erst mal verdauen müssen.«

Wir schwiegen eine Weile.

»Trotzdem, warum rückst du erst jetzt damit raus?«

»Wegen der anderen Sache.« Ich sah sie entschuldigend an. »Bitte hab noch ein paar Tage Geduld, bis Ilian wieder da ist.«

»Es fällt mir schwer, aber ich bin froh, dass du endlich mit der Sache rausrückst.« Zumindest die Wut war aus ihrem Blick verschwunden und das war für heute mein ganz persönlicher Triumph.

»Bitte sag keinem etwas von dem Kind, erst recht nicht den Perfekten gegenüber, okay?«

Conny grinste böse. »Das wäre sicherlich sein Ausschluss aus der Gang, was?«

Ich versuchte mitzulachen, doch sie erkannte die Not in meinem Blick.

»Schon gut, Süße. Deine Geheimnisse sind bei mir sicher, das weißt du doch!« Sie zog mich in ihre Arme und ich hätte am liebsten geheult. Der Gong der Schulglocke rettete mich vor solch einem peinlichen Moment.

»Meinst du, bei den Perfekten herrscht Zölibat?«, scherzte Conny, als sie mit mir an meinem Arm eingehakt zum Eingang schlenderte.

»Ich glaube nicht, Ilian und Arva hatten Sex, das weiß ich.«

»Ein bewegter Mann, dein Ilian«, gluckste Conny.

»Ja, er ist wahrlich kein unbeschriebenes Blatt.«

Wir hielten an und meine beste Freundin drehte mich zu sich, um mir tief in die Augen zu sehen.

»Machst du dir so Sorgen, weil er bei seiner Ex ist?«

Shit, wieder lügen. »Wer würde das nicht?«

Damit war für Conny vorerst alles geklärt und auch sie ging, wie Mischa, dazu über, mich für den Rest des Tages zu betüddeln. Das schlechte Gewissen nagte an mir, aber das war mir lieber als ihre Wut ertragen zu müssen.

***

Es verging eine ganze Woche. Das Nest war, bis auf die Balaurs, wie leer gefegt. Die Drachen waren einfach verschwunden und auch in der Schule nicht mehr aufgekreuzt. Die Jäger durchsuchten die Häuser und fanden unterirdische Gänge, die die Keller untereinander verbanden und von denen einer nach gut einem Kilometer Entfernung in einem kleinen Waldstück endete. Die Balaurs schworen, nichts von den Gängen gewusst zu haben, zumal sich die Öffnung in ihrem Keller auch hinter einem großen Schrank befunden hatte, der wohl beim Einzug schon da gestanden hatte. Kassandra und Thomas war er bei ihren Streifzügen auch nie aufgefallen. Es war eben ein Schrank voller angebrochener Farbeimer und Arbeitsgeräte gewesen. Etwas, was sicher jeder Hausbesitzer hatte und nur selten verschoben wurde. Die Ordensjäger waren stinksauer, dass die Drachen einfach so verschwunden waren, und mit jeder Stunde, die über ihr Ultimatum von zwei Tagen herauslief, wurde die Stimmung angeheizter.

Ich verbrachte meine Nachmittage abwechselnd mit Conny (und einem heimlich folgenden Jägertrupp) in der Stadt oder mit Mayla bei den Balaurs. Irgendwann zerrte das alles so an meinen Nerven, dass ich beschlossen hatte, heute einfach zu Hause zu bleiben und zu lernen. Na ja, sonderlich erfolgreich war ich bisher nicht gewesen. Mein Referat über Bertolt Brecht hatte immerhin schon eine Anfangszeile: »Bertolt Brecht war ein …« Ende, mehr hatte ich noch nicht.

Trulli sprang auf meine Schulter und starrte mit mir gemeinsam Ilians Facebookprofil und insbesondere sein Foto darauf an. Mitschüler hatten ihm auf seiner Pinnwand Genesungswünsche dagelassen und fragten, wann er wiederkäme und was mit den anderen sei. Als seine Freundin übernahm ich sein Sekretariat, bedankte mich fleißig und teilte mit, dass es ihm noch nicht viel besser ginge. Die Fragen nach Arva und Co. ignorierte ich einfach. Offiziell hieß es, dass sie aus familiären Gründen früher in die Ferien gestartet wären. Na ja. Ich lehnte mich zurück und starrte ins Leere. So fühlte ich mich auch. Leer. Die Ungewissheit machte mich lethargisch. Ich hätte nur noch schlafen können, war antriebslos und einfach nur wie leergefegt. Immer und immer wieder kam ich an einen Punkt, wo ich dachte, ich könnte nicht mehr weiter. Meine Nerven waren dann schmerzhaft gedehnt und ich hatte das Gefühl, sie würden reißen, wenn nicht endlich die erlösende Nachricht käme.

Ich öffnete wieder mein Referat und vervollständigte meinen Satz: »Bertolt Brecht war ein Arsch, für den ich mich nicht die Bohne interessiere. « Seufzend drückte ich die Datei weg und erhob mich, um aus dem Fenster zu starren. Papa war im Garten beim Rasenmähen. Was ihn anging, so hatte ich Krach mit meinem Freund und Thomas war so viel unterwegs, weil er sich mit alten Kumpels aus dem Gymnasium traf. Alles in Butter auf dem Kutter. Carmen war von morgens bis abends in der Galerie und so in ihre Arbeit vertieft, dass sie gar nichts mehr mitbekam. Für sie war ich ohnehin ein unberechenbarer Teenie mit den dazugehörigen Launen. Mein Handy klingelte und riss mich aus den Gedanken. Ich zog es aus meiner Gesäßtasche und sah Connys Bild auf dem Display.

»Städtisches Gartenamt«, meldete ich mich, »hier können Sie das Gras wachsen sehen. Mein Name ist Lissy, was kann ich gegen Sie tun?«

»Ja, guten Tag Frau Lissy, mein Name ist Frau Conny. Ich rufe an, um den Termin für Ihren Freund in unserer Penisverlängerungsanstalt zu bestätigen.«

»Du bist eine blöde Kuh!«, schimpfte ich, konnte mir ein Schmunzeln aber nicht verkneifen.

»Dito.« Conny seufzte. »Hör zu, Arva steht hier gerade bei mir.«

Mein Herz setzte aus. Nein, nein, das konnten die doch nicht tun! Wollten Sie jetzt meine beste Freundin Ilian zum Fraß vorwerfen? Mir wurde schwarz vor Augen und ich hielt mich am Fenster fest.

»Conny, ruf deine Eltern und lass sie rausschmeißen. SOFORT! Geh nirgendwo hin mit ihr!«

»Lissy«, unterbrach sie mich. »Sie hat mir eine total wirre Geschichte erzählt.« Pause. »Von Drachen und dass Ilian entführt worden ist.«

»Okay«, brachte ich nur heraus, während meine Augen sicherlich aus ihren Höhlen vortraten.

»Du sollst mir den Unsinn bestätigen. Sie will nicht eher gehen.«

»Gib bitte Arva kurz dein Handy!«

»Okaaaay, wenn du meinst.«

Ein kurzes Krachen.

»Lissy?«

»Okay, du dämliche Kuh, wo habt ihr meinen Freund versteckt und warum zur Hölle tust du nichts dagegen? Und verdammt nochmal: LASS DIE FINGER VON MEINER BESTEN FREUNDIN ODER ICH REISSE DIR DEN ARSCH AUF!« Gegen Ende war ich ziemlich laut geworden. Zum Glück mähte Papa draußen den Rasen und hörte praktisch gar nichts außer das Rumoren des Motors.

»Lissy, ich konnte mich nicht eher melden. Zuerst ging es nicht, weil man mich nicht aus den Augen gelassen hat und dann habe ich mich das erste Mal verwandelt. Du weißt, was das bedeutet.«

»Dass du siebzehn geworden bist?«, stellte ich mich doof. »Ja, ich weiß, du lagst wie vermöbelt im Bett. Ja und? Konntest du deine Finger nicht bewegen und mich anrufen?«

»Wie denn? Ich hatte deine Nummer nicht! Und zu deinem Haus habe ich mich nicht getraut – wegen den Jägern.«

»Und da dachtest du dir: Cool, erschrecke ich mal Lissys beste Freundin mit Märchen!«

»Du weißt, dass wir keine Märchengestalten sind«, zischte Arva wütend am anderen Ende.

»Ja«, keifte ich, »ach und herzlichen Glückwunsch nachträglich.«

Ich hörte sie seufzen. »Können wir uns jetzt darauf konzentrieren, Ilian da rauszuholen?«

»Wo ist er?«

»Die Brutmutter hat ihn zu einem Nest circa zweihundert Kilometer von hier gebracht.«

»Ist er noch immer ein Drache?«

»Nein«, Arva schluckte hörbar, »ich habe echt Angst, was die Weibchen des Nests alles mit ihm anstellen könnten.«

»Ihr mit eurem bekloppten Farbtick!«, schrie ich und begann hastig meine Sachen zusammenzusuchen und in meine Schuhe zu schlüpfen. »Wir holen ihn da raus, sofort.« Ich sah noch einmal zu meinem Vater aus dem Fenster. »Ich komme zu euch.«

***

Conny schleuste mich schnellstmöglich an ihrer Familie vorbei, die ich nur mit einem kurzen »Hi!« begrüßen konnte, und stopfte mich förmlich in ihr Zimmer, wo Arva bereits auf dem Bett saß und auf mich wartete.

»Conny, ernsthaft? Was macht das One-Direction-Poster da?«

»Ich finde die irgendwie süß«, gestand sie und wurde etwas rot.

»Gott stehe mir bei!« Ich wandte mich an Arva. »Also, wie lautet der Plan?«

»Sind dir Jäger gefolgt?«

»Sicher!« Ich sah mich um, als wäre einer mit im Zimmer. Was natürlich nicht der Fall war. »Die lassen mich neuerdings nirgendwo mehr alleine hingehen.« Ich überlegte gekünstelt. »Warum wohl?«

Arva sah für einen Moment peinlich berührt weg, doch dann nahmen mich ihre Augen wieder in den Fokus. »Hör zu Lissy, wir müssen uns auf den Weg machen.«

»Und wie überbrücken wir zweihundert Kilometer?«, wollte Conny wissen.

»WIR machen gar nichts, Conny. Du bleibst schön hier. Arva und ich gehen.«

Meine beste Freundin funkelte mich wütend an. »Ich komme mit. Wenn das alles, was Arva mir erzählt hat, wirklich stimmt«, sie lachte, als hielt sie uns für bescheuert, »dann gehst du nicht ohne mich.« Ich seufzte ergeben. Wir mussten Ilian dort herausholen, sofort. Da konnte ich nicht noch lange diskutieren.

»Conny, es ist alles wahr«, sagte ich mit fester Stimme. »Ich habe Ilian selbst mit eigenen Augen als Drachen gesehen.«

Conny runzelte ihre Stirn und ich konnte ihr ansehen, dass sie am Grübeln war.

»Was ich damit sagen will: Es wird gefährlich.«

»Egal«, plapperte sie schnell. »Ich lasse dich nicht alleine.«

Ich drückte ihre Hände und sah zu Arva. »Also, wie kommen wir da hin?«

»Dean Balaur ist auf dem Weg hierher. Er fährt uns.«

Ich nickte verstehend. »Ilians großer Bruder«, erklärte ich Conny. Moment mal … »Wieso hast du nicht schon früher Kontakt zu den Balaurs aufgenommen, Arva?«

»Es war einfach zu gefährlich, Lissy!« Ihre Augen flehten mich an. »Ich liebe Ilian, aber ich mag meine Haut auch ganz gerne und du weißt ja, was sie mit seiner Mutter angestellt haben.« Konnte ich ihr die Angst verübeln? Verdammt, ja. Im Moment schon. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen, und schluckte die Wut herunter. Vielleicht konnte ich sie besser verstehen, wenn ich Ilian in meinen Armen hielt und die Anspannung von mir abgefallen war.

»Gut, wie kommen wir zu ihm?«, fragte ich schließlich.

»Also, der Plan sieht so aus«, begann Arva zu erzählen. Sie wusste, dass die Familie, in deren Keller Ilian gefangen gehalten wurde, heute den ganzen Tag außer Haus sein würde. Bewacht wurde er nur von einem männlichen Drachen aus dem Nest, welcher wohl eine Schwäche für Arva hatte, seit er gehört hatte, dass es Probleme mit ihrem Wächter gab. Sie wollte ihm vorspielen fruchtbar zu sein und ihn damit in eins der Schlafzimmer locken. Ich konnte es kaum glauben, aber sie wollte wirklich mit dem Kerl schlafen, damit wir freie Hand hatten, in den Keller zu gelangen und Ilian herauszuholen. Arva hatte bewusst darum gebeten, dass so wenige wie möglich mitkommen, denn je mehr Leute dort herum trampelten, desto wahrscheinlicher war es, dass wir auffallen würden. Conny wurde deshalb kurzerhand dazu verurteilt, im Auto sitzen zu bleiben und mich anzuklingeln, wenn plötzlich jemand ins Haus kam. Dean und ich würden Ilian holen.

»Eine Frage hätte ich noch«, sagte ich schließlich. »Wieso muss ich dabei sein? Ich meine, versteht mich nicht falsch, ich bin froh, dass ich dabei sein darf, aber warum gehen nicht Dean und sein Vater mit?«

Draußen hupte jemand und der Blick aus dem Fenster verriet mir, dass Dean da war. Conny zog sich Turnschuhe an und schnappte sich ihr Handy. Gemeinsam verließen wir das Haus unter dem Vorwand shoppen zu gehen. Dean lud uns alle ins Auto, seine braunen Augen beäugten dabei besonders Conny kritisch.

»Was macht sie hier?«, wollte er wissen.

»Ich halte euch den Rücken von draußen frei!«, gab meine beste Freundin patzig zurück. »Ich habe Lissy auf der Schnellwahltaste, verstanden?«

Dean nickte und setzte sich hinter das Steuer. Arva nahm vorne Platz und drehte sich zu mir um.

»Lissy, ich habe Ilian gestern gesehen. Er ist verstört und panisch. Du bist dabei, weil ich glaube, dass du die Einzige bist, die ihn da herausführen kann, ohne dass er schreit oder um sich schlägt.«

Meine Augen füllten sich binnen weniger Sekunden mit Tränen. Was hatten sie mit Ilian gemacht? Bevor wir losfahren konnten, wurde die Tür aufgerissen und ein Jäger griff nach mir.

»Stopp!«, rief ich. »Ich werde nicht entführt!«

Blaue Augen sahen mich fragend an. Hey, der Kerl war ja richtig süß. Braune, wuschelige Haare und ein süßes Gesicht mit unglaublich scharfen Augen. Sein Oberkörper war wirklich nicht von schlechten Eltern, da machte sein eng anliegendes, olivfarbenes T-Shirt kein Geheimnis draus. An seiner Haut erkannte man, dass er viel draußen war, denn sie hatte eine gesunde Bräune.

»Wo bringt ihr die Mädchen hin, Drachen?«, fragte er und sah zwischen mir und Conny hin und her. Seine Augen blieben etwas länger auf meiner besten Freundin kleben. Ich rückte durch in die Mitte.

»Steig ein!«, befahl ich ihm und er tat es. »Fahr los, Dean.«

»Na toll«, schimpfte Arva. »Das wird ja immer besser. Wollen wir nicht doch gleich ganz Köln mitnehmen?«

»Er kann draußen bei Conny bleiben«, schlug ich vor. »Wie heißt du eigentlich?«

»André«, antwortete er und fummelte an seiner Hose herum, wo ich eindeutig das Ende einer Pistole erkennen konnte. Der Kerl hatte einen leichten Akzent, den ich noch nicht ganz zuordnen konnte.

»André du wirst mit meiner besten Freundin«, seine Augen wanderten wieder zu Conny und ich kam mir plötzlich ein wenig unsichtbar vor, »draußen bleiben. Sie wird uns warnen, falls einer reinkommt, und du kannst uns zu Hilfe eilen.« Hörte der mir überhaupt zu? »Okay?« Anscheinend nicht. »Hallo?«

»Ja, ja, machen wir«, sagte er und zog ein Handy hervor. Im ersten Moment hatte ich schon gedacht, dass er die Knarre rausholen wollte.

»Was machst du da?«, wollte Arva wissen, die ihn immer noch wütend anstarrte.

»Den Orden informieren.«

»Nimm ihm das Handy ab!«, rief mir Arva zu. Ich versuchte es, doch es gelang mir nicht. André nahm das Handy runter und sah die Drachenfrau skeptisch an.

»Du kannst die Armee informieren, wenn wir fertig sind«, sagte sie.

»Ich nehme keine Befehle von Drachen an.«

»Jetzt gerade schon!«, keifte ich dazwischen. Oh Mann, das konnte ja eine tolle Autofahrt werden. Zweihundert Kilometer! Je nachdem, wie voll Autobahnen und Straßen waren, konnten das amüsante zwei Stunden werden. André legte, vollkommen überstimmt, das Handy beiseite. Dean fädelte das Auto in den Stadtverkehr ein und ich lehnte meinen Kopf seufzend zurück.

»Woher kommst du, André?«, wollte Conny wissen. »Du hast einen leichten Akzent.«

»Luxemburg«, antwortete er.

»Aha, daher dieses leicht Französische.« Conny musterte ihn ganz genau. »Du hast ja das gleiche Tattoo wie Lissy und ihr Bruder!«, rief sie erstaunt aus. »Ist das irgendwie gerade voll modern oder so?«

»Wer will Conny vom Drachenjägerorden berichten?«, fragte ich in die Runde. Es meldete sich keiner freiwillig, also tat ich es, so gut es ging. So konnte ich ihr auch endlich erklären, wie es zu dem Missverständnis auf der Jahrgangsstufenfeier gekommen war.

»Deswegen wollte Mendel also die Scheiße aus dir rausprügeln?!«, grübelte Conny laut und ich nickte. »Scheiße, Mann, Lissy, man informiert sich doch, bevor man sich was in die Haut brennen lässt!«

»Ach, jetzt bin ich Schuld?«, kiekste ich.

Conny und ich lachten uns an.

»Du bist so eine Doofnase«, seufzte sie und strich mir über den Kopf.

»Wer im Glashaus sitzt, sollte im Keller bumsen!«, erinnerte ich sie.

»Dir werden deine blöden Witze vergehen, wenn du Ilian siehst«, brummte Arva wütend von vorne. Es brachte meine Sicherungen fast zum Durchknallen.

»Liebe Arva, ich versuche hier nicht die Nerven zu verlieren und wenn ich das durch blöde Witze schaffe, dann sollte dir das verdammt nochmal recht sein, denn wenn ich mich vergessen sollte, wird das unschön!«

Conny erkannte an meiner Stimme, wie ernst das gemeint war, und legte sanft eine Hand auf meine Schultern. »Beruhig dich, Süße. Wir sind alle gestresst.« Ihre Augen wanderten an mir vorbei zu André. Na toll.

»Soll ich Platz machen, damit ihr füßeln könnt?«, fragte ich und die zwei fühlten sich ertappt. Conny kniff mich in die Seite.

»Aua!«

Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, André dabei zu beobachten, wie er abwechselnd die Drachen wütend, mich besorgt und meine Freundin Conny begierig anstarrte.

»Man könnte meinen, du wirst in einem Kloster gefangen gehalten«, flüsterte ich ihm in den Nacken. An sein Ohr kam ich nicht ran, der Kerl war ein Riese!

»Wir haben Frauenmangel«, erklärte er und nickte vor sich hin, als wollte er sich selbst zustimmen. Gott, er war mit Sicherheit ein guter Kämpfer, aber sozial total inkompetent. Ich drehte mich Conny zu. Also von der Körpergröße her würden die zwei echt gut zusammen passen. Ich kam mir vor wie eins von den ZDF-Mainzelmännchen. Dabei war Conny nur zwei Zentimeter größer als ich. Vielleicht lag es an meiner zusammengesackten Haltung?

»Gut’n Aaaaabend!«, krächzte ich vor mich hin und Conny sah mich mit aufgerissenen Augen und gerunzelter Stirn an. Ich lehnte mich näher an sie heran. »Der ist geil auf dich«, flüsterte ich.

Sie biss sich auf die Unterlippe und lachte. »Lissy«, zischte sie leise.

»Was denn? Ist doch nicht schlimm?«, sagte ich laut. Ich lehnte meinen Kopf an ihre Schulter, um gemeinsam mit ihr etwas zu schweigen und meine Augen daran zu hindern, einen Sturzbach an Tränen herauszulassen.

***

»Das ist es?«, fragte ich, als wir ungefähr drei Häuser vor dem Gebäude anhielten, auf welches Arva deutete. »Oh mein Gott, ich hoffe, Ilian ist wirklich wieder ein Mensch.« Hier war eine recht belebte Straße mit kleinen Geschäften und Laufkundschaft. Ganz anders als das Nest der Balaurs. André lehnte sich neben mir interessiert nach vorne und suchte mit seinen Augen die Gegend ab.

»Haben die Keller dieses Nests ebenfalls eine unterirdische Vernetzung?«, wollte er wissen. Arva überlegte.

»Ich habe keinen Ausgang, außer den nach oben, im Keller gesehen.« Ihr Gesicht wirkte angestrengt, während sie sich den Raum erneut ins Gedächtnis rief. »Nein, ich glaube nicht.«

Dean schnallte sich ab und drehte sich zu uns um.

Arva seufzte zittrig. »Okay, ich gehe dann rein.«

»Du willst echt mit dem vögeln?«, fragte ich erstaunt.

»Haben wir eine andere Wahl ihn abzulenken?«

»Töten?«, schlug der Jäger neben mir vor.

»Er ist unschuldig«, lenkte Dean ein. »Er tut nur, was die hiesige Brutmutter ihm sagt.«

»Das nennt man Beihilfe zum Verbrechen«, brummte André und ich musste ihm zustimmen, auch wenn ich einen Mord für ungerechtfertigt hielt. Mehr als Nicken traute ich mich jedoch nicht mit zwei wütenden Drachenaugenpaaren auf die Rückbank gerichtet.

Arva seufzte erneut und schnallte sich ab. »Ich klingele Dean an, wenn ich den Kerl im Schlafzimmer habe.« Damit stieg sie aus. Ich mochte vielleicht nicht Arvas Freundin sein, aber mir fiel ihr unsicherer Gang auf, als sie in Richtung des Hauses ging, in dem Ilian gefangen gehalten wurde. Obwohl sie auf Frauen stand, wollte sie mit einem wildfremden Kerl schlafen, um ihren besten Freund dort herauszuholen. Das würde ich ihr wohl nie vergessen, egal wie unsympathisch sie mir manchmal war. Vielleicht war ich auch einfach nur zu eifersüchtig, weil sie ein Kind mit Ilian hatte? Ziemlich sicher sogar, wenn ich dem wütenden Grummeln in meinem Bauch bei dem Gedanken daran glauben durfte.

»Sobald wir gehen, setzt du dich ans Steuer«, befahl Dean dem Jäger. »Und du gehst auf den Beifahrersitz, Conny, damit Lissy und ich mit Ilian auf die Rückbank können.« Er rieb sich durch das Gesicht. »Wir fahren dann sofort los.«

»Und Arva?«, fragte ich besorgt.

»Die wird die Biege machen, wenn sie mit dem Kerl fertig ist.« Dean lachte leise. »Der wird sich nicht bewegen können.«

»Ich will mir gar nicht vorstellen, was sie für Ilian da auf sich nimmt«, flüsterte Conny neben mir und ich brummte zustimmend. »Wenn wir das hier geschafft haben, habe ich circa tausend Fragen, die mir irgendwer beantworten muss.«

Ich versuchte mich an einem Lächeln und drückte ihre Hand.

»Du kannst mich fragen, während wir warten«, schlug André vor und seine blauen Augen funkelten ein klein wenig.

»Ihr konzentriert euch schön darauf, auf die Tür zu achten«, knurrte ich. »Flirten könnt ihr, wenn ich meinen Freund in den Armen halte.« Ich sah zu Dean, der sein Handy in der Hand hin und her drehte.

»Wenn ich meinen kleinen Bruder nicht gleich wiederbekomme, brenne ich diese Hütte nieder.«

»Gewalt ist keine Lösung«, blubberte ich vor mich hin.

Conny gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich gehe schon mal nach vorne und mache den Weg frei.«

»Okay«, seufzte ich.

»Komm mir ja heil da raus, hörst du?« Sie sah mir tief in die Augen und ich konnte ein wässriges Glitzern darin erkennen.

»Wehe, du heulst!«, warnte ich sie. »Ich brauche gleich eine gute Sicht.«

Mit einem Grinsen stieg sie aus und glitt dann elegant auf Arvas Platz. Ich rutschte zum Fenster und starrte gemeinsam mit Dean auf das Handy in seinen Händen.

»Was machen wir, wenn sie es nicht schafft, ihn wegzulocken?«, fragte ich nervös, doch das Handy begann zu vibrieren und für den Bruchteil einer Sekunde versank ich in Deans erschrockenen, braunen Augen.

»Los!«, hauchte er kaum hörbar, aber dennoch bestimmend. Wir stiegen aus und ich warf noch einen Blick zu Conny, deren Augen mich voller Angst musterten. Ich wischte mir meine schweißnassen Hände an der Hose ab und sah zu Dean, der zu mir herumkam. Im Augenwinkel erkannte ich André, der ans Steuer des Autos ging. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass wir ganz schnell wieder, mit Ilian zusammen, in diese Karre steigen würden. Dean nahm meine Hand in seine. Die Wärme, die mich dadurch empfing, beruhigte mich ein klein wenig.

»Komm!«, sagte er und wir gingen die paar Meter zum Eingang des Hauses. Ich wollte gerade fragen, wie wir denn hineingelangen sollten, da stieß er bereits die Tür sanft auf. Arva hatte sie nur angelehnt.

Drinnen empfing uns ein recht dunkler Flur, der in einem großen Zimmer am anderen Ende mündete. Zwei Türen, eine links, eine rechts, führten noch hinaus, waren aber verschlossen. Von oben hörten wir ganz eindeutige Geräusche. Arva schien extra Lärm zu machen, um uns zu übertreffen.

Dean ging voran und zog mich vorsichtig hinter sich her. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Er öffnete zunächst die Tür links, doch die führte in eine kleine Küche mit Plastikmöbeln Marke Gartenstuhl. Wer immer hier wohnte, Geschmack war für die ein Fremdwort. Dann schlich er mit mir zur anderen Seite und drückte die Klinke der rechten Tür. Verschlossen. Dean sah mich mit großen Augen an und deutete still auf die Türe vor ihm. Er stellte pantomimisch einen Schlüssel nach und ich verstand sofort. Gemeinsam suchten wir den Flur ab und fanden recht schnell eine kleine Ablage mit vielen, verschiedenen Schlüsseln. Dean rollte verzweifelt mit den Augen, als er die Ansammlung sah.

Nervosität stieg in uns beiden auf. Mein Blick glitt ängstlich zur Haustür. Was wäre, wenn doch jemand nach Hause käme, bevor wir mit Ilian heraus waren? Dean testete bereits die ersten Schlüssel. Ich hielt währenddessen die fest, die eine Niete gewesen waren. Es dauerte quälende Sekunden, bis schließlich endlich einer passte und sich drehen ließ.

Ich konnte mein Herz in der Kehle pochen fühlen. Dean ging zuerst hinein und beschleunigte schließlich seinen Gang. Der Grund dafür saß dreckig und nackt in einer Ecke. Himmel, sie hatten ihm anscheinend nicht mal erlaubt, auf Toilette zu gehen! Wie ein wildes Tier, das man zu oft verprügelt hatte, blickte Ilian auf und begann am ganzen Körper zu zittern.

»Ilian«, begann Dean leise auf ihn einzureden, doch es schien fast so, als wäre sein kleiner Bruder in einer komplett anderen Welt. Ich kniete mich in weiß der Himmel was, neben meinen Freund und nahm sein Gesicht in meine Hände.

»Wir holen dich hier raus«, brachte ich hervor, ohne laut loszuschluchzen. »Du musst jetzt ganz leise sein, okay?«

»Lissy?«, krächzte er und versuchte verzweifelt mich mit seinen braunen Augen in den Fokus zu nehmen. Es gelang ihm nicht.

»Kannst du laufen?«, wollte Dean wissen und zog seinen Bruder auf die Beine. Der schwankte aber so stark, dass er ihn tragen musste.

»Scheiße!«, fluchte Dean, »lass uns schnell abhauen.« Er sah mich an. »Geh vor!«

Ich nickte, vollkommen betäubt von Angst, und musste mich auf der Treppe daran erinnern, mich leise zu bewegen. Oben angekommen war außer den Geräuschen von oben alles still. Ich griff nach einer Jacke am Haken und legte sie über Ilian in Deans Armen.

»Weg hier!«, hauchte Dean und wir eilten zur Haustür. Draußen starrten uns sofort alle Leute an. Ein Mann auf der anderen Straßenseite beschleunigte seinen Schritt.

»Halt!«, rief er.

»Scheiße!«, knurrte Dean und wurde schneller. Ich sah, wie Conny aus dem Auto stieg und die hintere Tür öffnete. Panik ergriff mich, doch ich rannte neben Dean zum Auto. Er schmiss Ilian förmlich ins Auto und stieß mich unsanft hinterher. Der Mann auf der anderen Straßenseite rannte fast vor ein Auto. Dean knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Conny drückte geistesgegenwärtig vorne auf einen Knopf, der das ganze Auto abschloss. Der Mann schlug wild gegen Andrés Fenster. Was er schrie, konnte ich nicht verstehen, da er es in dieser fremden Drachensprache tat. André fädelte das Auto ohne Rücksicht auf den fremden Drachen in den Stadtverkehr ein und ich begann zu weinen. Die umstehenden Leute starrten uns verwundert hinterher, bis wir aus ihrer Sicht verschwunden waren.

Conny sah besorgt nach hinten. »Oh mein Gott, wie sieht der denn aus?«

Ich atmete tief durch und nahm mir jetzt, wo wir die nötige Ruhe dafür hatten, die Zeit, meinen Freund genau anzusehen. Seine Haut wies frische Wunden auf, die noch nicht verheilt waren. Er war dreckig und stank furchtbar, aber das war mir total egal. In meinem inneren Ohr hörte ich Mischas Worte widerhallen: Ilian braucht jetzt ihre Nähe, um schnell wieder gesund zu werden. Ich lehnte meine Beine gegen den Sitz vor mir und zog Ilians Kopf in meinen Schoß. Ich drückte ihn fest an meine Brust und küsste seine vor Dreck starrenden Haare. Das Zittern verließ ganz langsam seinen Körper. Dean nahm seine Beine und legte sie hoch auf seine. Ilian drehte sich mit dem Gesicht zu mir.

»Du bist in Sicherheit«, flüsterte ich ihm zu. Er versuchte seine Augen zu öffnen, doch das Licht blendete ihn zu sehr. Diese Schweine schienen ihn wirklich die ganze Zeit in einem Keller festgehalten zu haben. Nicht mal das Licht hatten sie ihm angemacht. Wut brodelte in mir und ich las in Deans Augen genau die gleiche Emotion. Sie standen in Flammen. Vorsichtig drapierte er mit verbissener Miene die gestohlene Jacke über Ilians Mitte. Auch wenn wir nun in Sicherheit waren, wurde mir dennoch plötzlich ganz schwindelig. Es war, als würde mich der ganze Stress der letzten Stunden und Tage auf einmal einholen. Übelkeit kochte in mir hoch und Ilians Geruch half nicht gerade dabei. Ich kurbelte das Fenster ein klein wenig runter, zog meinen Freund jedoch näher an mich heran. Mit meinen Beinen stütze ich meine Arme ab, die seinen Kopf hielten.

»Wie geht es ihm?«, wollte Conny wissen, die sich immer wieder besorgt umdrehte. André sah ebenfalls gelegentlich in den Rückspiegel.

»Na ja, so wie du sein Gesicht in die Titten drückst, sicherlich ganz gut.«

Ich sah herunter und erschrak. Gott, ich schnürte ihm ja fast die Luft ab! Vorsichtig nahm ich mich etwas zurück, damit sein Mund frei lag. Mit einer zittrigen Hand strich ich ihm über die Wange und den kleinen Bart, der ihm in der Zeit gewachsen war. Ich sah zu Dean, der vor Wut gegen den Innenraum des Autos geschlagen hatte. Das Geräusch hatte uns alle erschrocken.

»Sorry«, brummte er. Das Braun seiner Augen schien zu Lava verschmolzen zu sein.

»Krass!«, staunte Conny über den Anblick. Ja, diese ganze Situation war … krass. Es waren Ilians warme, liebe Augen, die mich davon abhielten, jetzt ebenfalls die Nerven zu verlieren. Sie sahen mich halb zusammengekniffen an, deswegen versuchte ich mich an einem kleinen Lächeln, während mir Tränen die Wangen hinunterliefen.

»Du machst aus mir eine Heulsuse«, flüsterte ich ihm zu. Vorsichtig hob Ilian seinen Oberkörper an. Dann tat er etwas, was ich ihm für den Rest meines Lebens hoch anrechnen würde. Er setzte sich auf und zog mich in seine Arme, damit ich mich an seiner Schulter ausweinen konnte.

***

Ich saß in unserem Wohnzimmer auf dem Boden. Vor mir lag Roran auf dem Rücken und lächelte mich an. Ilian war mehr oder weniger sofort in die Arme seiner Mutter gestürzt, als wir ihn ins Haus gebracht hatten. Offensichtlich hatte mein Bruder ein paar der Balaurs hergeholt, nachdem André ihn über unseren Erfolg informiert hatte. Dean half Rabyia gerade dabei, Ilian vom Dreck zu befreien. Ich hatte ihn nur ungern aus meinen Armen freigegeben, aber Dean hatte mich daran erinnert, dass es sicherlich in seinem Sinn war, wenn die Familie ihn sauber schrubbte. Dem konnte ich nichts entgegenbringen. Conny saß mir gegenüber und schielte immer wieder zu André, der Kassandra und Thomas über jedes Detail der Mission aufklärte.

»Hat Arva sich gemeldet?«, fragte ich Conny, die wegen mir im Minutentakt auf ihr Handy starren musste.

»Nein, immer noch nicht«, antwortete sie ganz geduldig zum hundertsten Mal. »Mein Handy ist auf laut geschaltet, du hörst es, wenn ich eine Nachricht bekomme.«

Ich nickte und kitzelte Roran am Bauch.

»Süßer kleiner Bruder«, sinnierte sie und sah mich dabei eingehend an. Sie ahnte etwas.

»Er ist Ilians Sohn«, sagte ich ihr endlich die ganze Wahrheit. Ich erzählte ihr von Arva und ihrer Angst vor Audrina. Conny nickte die ganze Zeit mit gerunzelter Stirn, lächelte aber dann Roran an, als ich fertig war.

»Man sieht, dass er Ilians Baby ist.«

»Alle Balaurs sehen so aus!«, hielt ich gegen.

»Okay, mit der Hintergrundinfo, dass Ilian Papa ist, sieht man, dass er von ihm ist.«

Ich seufzte ergeben. Die Haustür wurde geöffnet und wieder geschlossen.

»Thomas?«, rief mein Vater. »Schmeiß den Grill an, ich war beim Metzger.« Papa kam durch das Wohnzimmer mit einer raschelnden, weißen Tüte. »Unsere besonderen Gäste brauchen was zu essen.« Papa sah kurz erschrocken zu Conny, als hätte er ihre Anwesenheit gerade erst registriert.

»Conny weiß Bescheid«, brummte ich. Doch dann … Moment mal … ich sah zu Thomas, der nickte. Er hatte Papa und anscheinend auch Carmen aufgeklärt, denn diese folgte Papa auf den Fersen. Vollkommen verwirrt widmete ich mich wieder Roran und bekam erst gar nicht mit, dass meine beste Freundin mit einem Blick voller Freude und Mitleid über meine Schulter hinweg starrte.

»Wenn wir gleich zu deinem Papa dürfen, dann werden wir den abknutschen und so lange knubbeln, bis er keine Luft mehr bekommt. Machst du mit?«

Roran lachte sabbernd und quietschte laut auf, als er jemand hinter mir entdeckte. Ich sah hoch zu Conny und dann hinter mich. Ilian kniete, in einen Jogginganzug gekleidet und frisch rasiert hinter mir.

»Ich bin dabei«, flüsterte er und lehnte seine Stirn an meine. Ich schloss die Augen und versank im Duft seines Aftershaves.