Kapitel 16
»Oh Conny, wie konnte ich nur? Was war in mich gefahren?«, jammerte ich am Abend meiner besten Freundin ins Ohr. Ich saß auf ihrem Bett und raufte mir die Haare. Hatte ich Ilian wirklich mein Knie in die Familienplanung gerammt? Und wieso hatte ich ihn so angefahren? Ja, ich wollte nicht, dass noch mehr Leute sterben mussten, aber hätte ich das Ilian nicht sanfter beibringen können? Immerhin ging es um seine Familie.
»Blöde Zwickmühle«, seufzte Conny. Sie saß auf einem alten Bürostuhl, den sie irgendwann mit zwölf bekommen hatte, und drehte sich damit langsam um sich selbst. »Ich kann euch beide verstehen.«
»Ich ja irgendwie auch«, gab ich leise flüsternd zu. »Aber wieso reagiere ich so über? Wieso gehe ich auf Ilian los? Ich liebe ihn.« Wut auf mich selbst flammte in mir auf und ich kämpfte gegen das Brennen in meinen Augen an. »Herrgott, ich würde für den Kerl sterben!«
»Lissy, geh nicht so hart mit dir ins Gericht«, flehte mich Conny an und hörte einen Moment lang auf, sich zu drehen, um mir ernst ins Gesicht zu sehen. »Du und Ilian, ihr hattet eine verdammt harte Zeit. Die Nerven liegen blank, weil ihr von einer Scheiße in die nächste geratet. Da kann man schon mal ausrasten. Dazu könntest du mal eine ordentliche Mütze voll Schlaf gebrauchen.«
»Ja, aber muss sich das gegen ihn richten?« Ich atmete tief durch, um das Chaos in meinem Inneren ein wenig zu lichten, doch es nutzte nichts. »Ilian ist total verstört«, platzte ich heraus. »Man mag es ihm äußerlich nicht ansehen, aber es ist so. Er zuckt zusammen, sieht sich ständig um und hat geradezu panische Angst vor dem Keller.« In welchen ich ihn gestern noch geschickt hatte, ich Idiotin! »Conny, ihn so zu sehen, der Gedanke, dass man ihn mir wieder abnehmen könnte, … das verursacht mir Albträume.«
Meine beste Freundin erhob sich und setzte sich zu mir auf das Bett. Ohne ein Wort zu sprechen, zog sie mich an sich heran. Ich atmete tief ihren Duft nach CK One und Apfelshampoo ein.
»Eigentlich will ich ihn doch nur im Arm halten.«
»Ihr zwei braucht dringend mal ein paar Tage für euch«, stellte Conny fest und drückte mich kurz fester an sich.
»Unmöglich«, seufzte ich und fühlte mich todmüde. Sogar Teufel- und Engel-Lissy waren zu erschöpft, um sich zu äußern. Sie lagen beide auf Connys Bett und starrten die Decke an, während Teufel-Lissy mit letzter Kraft den Engel mit ihrem Dreizack piekste.
»Lissy?«
»Hmh?«
»Wenn es um deine Familie ginge, würdest du Audrinas Tod wollen?« Connys Frage traf mich unvorbereitet. Ich ließ sie lange in meinem Kopf umherwandern, bis ich schließlich eine Antwort gab.
»Ich weiß es nicht.« Das war die Wahrheit. »Keine Ahnung, wirklich.« Ich wollte doch nur nicht, dass noch jemand sein Leben verlor wegen dieser ganzen Drachenkacke. War ich deswegen ein schlechter Mensch?
»Echt krass, dass Mendel tot ist«, grübelte Conny laut. »Da sieht man jemand jeden Tag in der Schule und dann … boom, tot.«
»Ich habe auf ihn geschossen«, presste ich hervor.
»Ja, aber es war André, der ihn getötet hat, und ich kann ihm deswegen nicht böse sein. Er hat meine beste Freundin und ihren Freund gerettet.«
Ich lächelte sie an und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich bin auch nicht böse auf André«, sagte ich. Das war ich wirklich nicht. Mendel hatte uns angegriffen, aber Audrina – ihr einziger Fehler war es, dass sie als Drachenfrau geboren und aufgezogen worden war.
»Das ist alles so unfair«, hauchte Conny völlig in Gedanken. »Ich meine, ihr seid gerade so frisch zusammen. Ihr solltet euch ungestört lieben dürfen, die Magie der ersten Monate genießen. Stattdessen rennt ihr um euer Leben.« Ihre Worte schnürten mir die Kehle zu, doch bevor ich in Tränen ausbrechen konnte, klopfte es an der Tür. Kathy, Connys jüngere Schwester, öffnete sie und steckte ihren brünetten Schopf herein. Sie kicherte und ihre Wangen waren gerötet.
»Da ist ein total süßer Kerl in unserem Wohnzimmer«, sagte sie und sah nach hinten über ihre Schulter, wo eine Freundin von ihr leise lachte. »Er will zu Lissy.«
Ilian. Ich erhob mich und sah ängstlich zu Conny. Wie sollte ich ihm begegnen? Meine beste Freundin stand ebenfalls auf und nahm meine Hand. Gemeinsam mit ihr ging ich ins Wohnzimmer, wo nicht nur Connys Schwestern, sondern auch ihre Mutter meinen Freund anhimmelten. Er stand vom Sofa auf und sah mich unsicher mit seinen braunen Augen an. Nervös steckte er seine Hände einen Moment lang in seine Jeans und musterte seine Turnschuhe.
»Ilian, ich«, brachte ich hervor, da war er auch schon auf mich zugekommen. Vor den Augen von Conny und ihrer Familie packte er meine Haare am Hinterkopf und zog mich mit der anderen Hand an sich heran. Seine Lippen trafen hungrig auf meine. Der Griff an meinen Haaren wurde fester, als sein Kuss immer drängender wurde. Er hielt meinen Kopf nach hinten, damit sein Mund ungehindert an mich herankam. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich wäre nicht aus diesem Kuss herausgekommen. Als sich Ilians Tränen zu dem Geschmack seiner Lippen mischten, brach auch der letzte Widerstand in mir und ich drückte ihn an mich. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich nicht in Panik geriet, während jemand weinte. Ilian löste sich sanft von mir.
»Verzeih, Elisabeth«, flüsterte er heiser. Seine Stimme klang, als hätte er schon viele Stunden geweint. Ich sah in seine wässrigen, braunen Augen, die mich um Vergebung anflehten und verzweifelt versuchten, ihre Traurigkeit hinter einem kleinen Lächeln zu verbergen. Eine Träne löste sich aus Ilians rechtem Auge und rollte, da er sein Gesicht über meines gebeugt hatte, herunter über seine Nase, bis sie schließlich an deren Spitze hängenblieb. Ich stupste mit meiner dagegen und zauberte damit die kleinen Lachfältchen um seine Augen hervor.
»Es tut mir alles so leid«, sagte er leise. »Bitte rede mit mir.«
»Ich liebe dich mehr alles andere auf dieser Welt«, flüsterte ich. Ilians Mund fand wieder meinen. Sein Kuss war verzweifelt und voller Sehnsucht.
»Das ist echt ihr Freund?«, hörte ich Kathys Freundin ungläubig sagen.
»Wir sollten die zwei alleine lassen«, versuchte Conny ihre Familie aus dem Zimmer zu jagen. Das holte mich aus dieser warmen Trance, in die mich Ilians Kuss getrieben hatte, und machte mir wieder klar, dass uns ziemlich viele Leute zuschauten. Ilians Hände zitterten, als er mich kurz losließ, um sie mir dann um mein Gesicht zu legen.
»Bitte verzeih mir, dass ich dir solche Vorwürfe gemacht habe. Ich verstehe jetzt, dass du mich nur schützen wolltest, und bitte denke nicht, dass ich nicht sauer auf Arva bin.«
»Schon gut«, krächzte ich leise und sah zu Connys Mutter, die uns mit offenem Mund anstarrte. »Wir reden zu Hause.«
»Was Audrina angeht«, sprach Ilian einfach weiter, »haben wir doch sowieso kein Mitspracherecht. Das liegt alleine im Ermessen deines Bruders und seiner Vorgesetzten.« Er seufzte. »Wieso sollten wir uns also darüber streiten?«
Ich sah Ilians Wunsch nach Nähe in seinen Augen, bevor er ihn äußern konnte.
»Bitte Elisabeth, ich brauche dich jetzt!« Gänsehaut überzog ihn. Ich konnte sie an seinen Oberarmen fühlen und selbst seine Haare wirkten plötzlich irgendwie struppig. »Lass uns nicht mehr streiten.«
»Es tut mir so leid, Ilian. Bei mir ist einfach eine Sicherung durchgeknallt und ich habe die Kontrolle über mich verloren.« Oh mein Gott, steckte da Teufel-Lissy gerade ihre Zunge in Ilians Ohr?! Ich schüttelte mich, um das Bild loszuwerden und konzentrierte mich auf die Schokoladenaugen vor mir. Sie durchforsteten mich, tasteten ängstlich mein Gesicht ab, ob sie noch Wut darin finden konnten.
Ich lächelte ihn an. »Alles wieder gut?«
»Alles wieder gut«, wiederholte er und drückte mich an sich. Er roch nach Waschpulver, also hatte er sich wohl ein sauberes T-Shirt angezogen. Darunter lag der Geruch seiner verschwitzten Haut, der mich fast wahnsinnig vor Sehnsucht nach ihm machte. Obwohl ich ihn im Arm hielt, brachte mich der Wunsch nach seiner Nähe um den Verstand. Ich schob ihn sanft von mir weg, um dieser Duftfalle zu entkommen.
»Lass uns nach Hause gehen, ja?«, plapperte ich und Ilian nickte. Ich verabschiedete mich bei Conny mit einem Kuss und winkte den anderen zu, bevor ich meinen Freund vor die Tür zerrte. Draußen angekommen, atmete ich die schwüle Sommerabendluft ein und entdeckte das Fahrrad meines Bruders vor der Tür.
»Mylady«, raunte Ilian mit einem Lächeln auf den Lippen. »Ihr Gefährt!« Er machte eine Verbeugung und deutete auf den alten Drahtesel von Thomas. Die Versöhnung schien ihm einen riesigen Brocken vom Herzen genommen zu haben, denn er wirkte plötzlich wieder richtig fröhlich.
»Du willst nicht echt mit mir auf dem Ding da fahren, oder?«
»Entschuldigung, ich habe weder einen Führerschein, noch bin ich ein cooler Vampir mit tollem Auto!« Er spielte auf eins meiner Lieblingsbücher an.
Ich biss mir auf die Unterlippen und grinste. »Tja, ich habe nur den Drachen mit Fahrrad abbekommen«, sagte ich und seufzte übertrieben laut.
Ilians Augen funkelten verspielt. »Jeder, was er verdient!«, antwortete er frech und ich boxte ihn dafür auf den Oberarm.
»Du Sack!«, schimpfte ich lachend und forderte ihn damit nur noch mehr heraus. Er kam näher auf mich zu und grinste süffisant.
»Greif ihn dir, Baby!«, raunte er und brachte mich damit fast dazu laut loszubrüllen.
»Genau und dann rufen die Nachbarn die Polizei an, weil ein blauer Alien ein armes, blondes Mädchen vergewaltigt.«
Ilian schien einen Moment lang in seinem Kopfkino zu verschwinden. Ich boxte ihn erneut.
»Erkläre mir lieber mal, wo ich denn auf diesem Drahtesel Platz nehmen soll?!«
»Na hier, auf dieser … Stange!«
»Stange? Sehr fachmännisch«, gluckste ich. »Du scheinst dich mit Fahrrädern ja richtig auszukennen!?«
»Als ob du wüsstest, wie das heißt!«
»Ja!«, triumphierte ich. »Das ist das Oberrohr.«
»Oberrohr?«, wiederholte Ilian ungläubig. »Das hast du erfunden.«
»Nein! Echt jetzt, das heißt so.« Das war die reine Wahrheit.
»Okay Lissy«, sagte Ilian. »Würdest du bitte auf meinem«, er lachte dreckig, »Oberrohr Platz nehmen?«
Den Kopf schüttelnd setzte ich mich vorsichtig hin, während Ilian das Fahrrad festhielt. Elegant schwang er ein Bein über den Sattel.
»Halt dich an mir fest«, bat er mich, bevor er in die Pedale trat. Als er etwas schlenkerte, krallte ich mich an ihn.
»Wenn ich hier runterfalle, kille ich dich!«, kreischte ich und er begann Schlangenlinien zu fahren. Ich schrie und lachte, traute mich aber nicht, ihn auch nur für eine Sekunde loszulassen.
»Fahr anständig, du Irrer!«, rief ich. Die Leute, an denen wir vorbeikamen, sahen uns schon eigenartig an, aber das machte mir nichts aus. Lachend hörte Ilian auf und fuhr geradeaus. Ich entspannte mich etwas.
»Du solltest das Radel mal mit einem Radio tunen«, stichelte ich. Leider war ich da zu mutig gewesen, denn Ilian begann zu singen.
»I’m blue dabedi dabedei…« Der Eiffel65-Song, mit dem ich ihn mal aufgezogen hatte. Nur konnte Ilian noch schlechter singen als ich.
»Stopp, hör auf«, flehte ich. Doch er sang gnadenlos weiter.
»Bluten meine Ohren?«, jammerte ich, als wir in meine Straße einbogen. »Ich glaube schon – es ist so feucht in meinem Nacken.«
»Nein«, unterbrach Ilian seinen … äh … Gesang … oder die Vergewaltigung meiner Ohren, das traf es wohl besser. »Das bin ich, wenn du mir so nah bist, muss ich immer sabbern.« Er hechelte mich wie ein Hund an, während er kräftig in die Pedale trat. Ich lachte lauthals, als wir vor meinem Zuhause ankamen. Mit Beinen aus Pudding hüpfte ich vom Fahrrad und wartete, bis Ilian es in der Garage verstaut hatte.
»Woher wusstest du eigentlich, wo ich war?«, fragte ich, als er zurückkam.
»Conny«, gestand er und zwinkerte mir zu.
»Und wieso hast du dich nicht von einem Jäger fahren lassen?« Wieso war er ganz alleine gefahren? Das war zurzeit verdammt gefährlich.
»André meinte, es wäre okay, auf offener Straße wird mir niemand etwas tun und ganz ehrlich? Ich konnte die Zeit für mich gerade gut gebrauchen.«
Mein Handy vibrierte und ich öffnete eine SMS von Conny.
Spontaner Pärchen-Kurzurlaub auf dem Campingplatz meiner Eltern?
Nur die Clique und André. Wir könnten morgen schon los?
Was sagt ihr? Bitte! Ich brauche die Zeit mit André ;-)
xoxo, Conny
Ich zeigte Ilian die Nachricht. Er las noch, als eine weitere SMS folgte.
Von mir aus auch Thomas und Kassandra!
Ilian und ich sahen uns fragend an. Jeder wartete darauf, dass der andere dazu zuerst etwas sagte.
»Du bist der, der im Moment mit Ängsten zu kämpfen hat«, sagte ich und strich ihm über die Wange. »Entscheide du. Ich will nicht, dass der Trip für dich eine einzige Panikattacke wird.«
»Lass mich darüber nachdenken, ja?«
Ich nickte und nahm ihn an der Hand. »Gehen wir rein.«
Zum Glück war es im Haus recht still. Sicherlich legte Rabiya gerade die Kleinen hin, also schlichen Ilian und ich hoch zu mir ins Zimmer. Nachdem ich die Tür hinter uns zugemacht hatte, atmete ich tief durch. Ich wollte etwas sagen, aber Ilian zog mich sofort wieder an sich heran. Sein Herz klopfte kräftig gegen meine Brust, als er mich fest umschlang.
»Lass uns nie wieder streiten«, flüsterte er in meine Haare und ich brummte leise zustimmend. »Jetzt habe ich auch kapiert, dass ich dir immer erst Zeit zum Abkühlen geben muss.«
»Sorry, Ilian. Ich weiß, dass du es gerne sofort ausdiskutiert hättest. Aber ich bin zurzeit so gestresst und einfach nur müde. Es tut mir so leid, dass ich das an dir ausgelassen habe.« Ich fühlte seine Lippen auf meinem Scheitel.
»Legen wir uns hin«, schlug er vor und zog mich sanft zu meinem Bett herüber. Die Frettchen begannen im Käfig zu knurren. Sie würden sich wohl nie an einen Drachen in ihrer Nähe gewöhnen. Ich ließ mich von Ilian zudecken und kuschelte mich unter der Decke in seine Arme.
»Wollen wir den Trip machen?«, fragte ich und konnte die Hoffnung in meiner Stimme nicht verbergen. Ich hatte Lust auf einen kleinen Urlaub. Grillen, in der Sonne liegen, mit Freunden quatschen – von mir aus auch ganz viel Fahrrad fahren, solange Ilian nur bei mir war.
»Wenn dein Bruder und Kassandra mitkämen, dann würde ich mich wohler fühlen.«
»Das dürfte kein Problem werden«, freute ich mich.
»Ich muss das nur erst mit meiner Familie besprechen.«
»Hmmh, okay.« Meine Gedanken listeten mögliche Gründe für ein Verbot seitens Rabiya und Gerome auf, als ich feststellte, dass die meisten davon auch von Papa und Carmen kommen könnten. Aber sie konnte ich vielleicht mit Thomas' Anwesenheit beruhigen. An eine Sache hatte ich jedoch nicht gedacht, dafür aber Ilian.
»Was ist mit Roran?«, fragte er. »Ich habe gerade erst vor Mama durchgesetzt, dass ich sein Vater sein will, und schon haue ich ein paar Tage ab?« Ilian sah mich forschend an.
»Na, der kommt natürlich mit!«
Das Gesicht meines Freundes hellte sich auf. »Das wäre wirklich okay für dich?«, hakte er nach.
»Ja, na klar, wenn das für Rabiya in Ordnung geht?«
Ilian zuckte mit den Schultern. »Das finden wir nachher raus. Ich frage sie.« Ohne Vorwarnung gab er mir hastig einen dicken Kuss.
»Wofür war der denn?«, fragte ich überrascht.
»Dafür, dass du einfach du bist!«
»Ich bin gerne ich«, sagte ich lachend. »Aber ernsthaft, was ist los?«
»Es freut mich einfach nur, dass Roran mitkommen darf.«
»Er gehört zu dir«, gluckste ich amüsiert. »Natürlich darf er mit.«
»Ja, aber er wird uns schon irgendwie stören – ich meine, er will nachts noch trinken, manchmal schreit er stundenlang, weil … keine Ahnung, vielleicht ist es Babyfrust?! Jedenfalls ist er verdammt anstrengend.«
»Wir werden das Kind schon schaukeln.« Ich grinste. »Und nachts stehst du auf, Papa!«
Ilian lächelte und küsste meine Nasenspitze. »Wir werden sehen, was Mama dazu sagt. Vielleicht rückt sie ihn auch gar nicht heraus.«
Ich musterte die Mimik meines Freundes. Er wollte es probieren. Er, Roran und ich auf uns alleine gestellt. Der allererste Feldversuch als Familie. Zum Glück war ich zu müde, um ernsthaft in Panik auszubrechen.
***
Wir waren eng umschlungen auf meinem Bett eingeschlafen, obwohl es noch nicht mal zwanzig Uhr gewesen war. Etwas verwirrt wachte ich am nächsten Morgen auf. Die Tatsache, dass ich noch meinen BH trug, machte mich total kirre. Ich fühlte mich eingeengt, also setzte ich mich auf und zog mein Top über den Kopf. Noch vollkommen verschlafen, blieb ich zunächst stecken, schaffte es dann aber mich heraus zu kämpfen. Mit einem Griff nach hinten öffnete ich meinen BH und bemerkte erst jetzt, dass mein Freund wach war. Er sah mich mit einem Höhö,-Titten!-Gesichtsausdruck an. Den verloren Männer wohl nie, egal wie alt sie wurden. Sobald sie ein paar Hupen sahen, trat dieses selige Grinsen mit vor Verlangen brennenden Augen in ihr Gesicht.
»Der Schlaf hat wirklich gut getan«, sagte ich, als ich mir mein Top wieder über den Kopf zog. Ilian war noch immer mit seinen Gedanken bei meinen Brüsten, denn er beobachtete die Nippel unter dem Stoff meines Oberteils.
»Hmh«, brummte er. Es klopfte an unserer Tür und er war ganz plötzlich wieder Herr seiner Sinne. Rabiya kam herein und sah Ilian mit hochgezogenen Augenbrauen und mütterlich wütendem Blick an.
»Wolltest du dich nicht gestern Abend noch ein wenig nützlich gemacht haben?«, fragte sie.
»Oh Mist«, jammerte Ilian. »Sorry, wir sind einfach eingeschlafen.«
»So, so.«
»Wirklich, Mama!«
»Ja, na klar, dann leg jetzt los«, sagte Rabiya und lächelte wieder.
»Womit?«, wollte ich wissen.
»Wir wollen deinen Eltern etwas zur Hand gehen und Ilian hatte versprochen das Wohnzimmer zu putzen.«
»Putzen?«, wiederholte Ilian geschockt. »Gestern war noch nur von Saugen die Rede!«
»Ja, und da du das vergessen hast, wirst du jetzt nach dem Saugen auch noch Putzen.« Rabiya freute sich schelmisch, als Ilian seufzend das Gesicht verzog und sich erhob. Er gab mir einen Kuss, bevor er zur Tür heraus verschwand.
Als ich am Frühstückstisch saß, kam Ilian frisch geduscht herein und lächelte mich an.
»Du warst duschen?«, fragte Rabiya. »Du solltest doch putzen.«
»Äh ja«, stammelte Ilian. »Ich wollte wirklich putzen! Nur bin ich auf dem Weg ins Badezimmer geblitzt worden und jetzt ist der Lappen weg!«
Rabiya stand lachend auf und schüttelte den Kopf. »Was mache ich nur mit diesem Kind?«, seufzte sie. »Ich hole dir alles, was du brauchst.« Damit verschwand sie und ich biss grinsend in mein Käsebrot.
»Oh Baby«, raunte ich mit vollem Mund. »Wirst du nackt für mich putzen?« Ich hob die Augenbrauen hoch und hatte nicht meinen Vater bemerkt, der plötzlich hinter mir stand.
»Du kannst ihm helfen, … Baby!«, sagte er und gab mir einen Klaps in den Nacken. Scheiße! »Und wenn ich hier eine nackte Nudel sehe«, richtete er das Wort an meinen Freund, »dann gibt’s heute Mittag Salat. Nudelsalat!«
»Danke, ich bin satt«, rief ich und schmiss das Käsebrot auf mein Biene-Maja-Frühstücksbrettchen. »Jetzt werde ich nie wieder Nudelsalat essen können, ohne dabei an Ilians Schwanz denken zu müssen. Danke, Vater!«
»Kein Ding«, meinte er und schüttete sich etwas Kaffee in seine Milka-Weihnachtstasse. Die war das ganze Jahr im Einsatz. Herrje, wie setzte ich am besten an wegen dem Campingurlaub zu fragen? Jedenfalls nicht am Morgen, das war ungünstig. Am besten abends, wenn er mit einem Bier vor dem Fernseher saß. Ja, das war gut. Dann hatte Rabiya auch die Kleinen im Bett und würde die nötige Ruhe haben, darüber nachzudenken. Als Ilians Mutter mit Putzutensilien in die Küche kam und sie ihrem Sohn in die Hand drückte, ergriff ich schnell das Wort, damit auch Ilian von meinem Plan Wind bekam.
»Können wir euch heute Abend in Ruhe etwas fragen?«
»Hmh«, brummte mein Vater und nahm einen Schluck Kaffee.
»Worum geht es?«, wollte Rabiya wissen.
»Heute Abend, ja?«, flehte ich sie um Geduld an. Rabiya nickte und setzte sich zu meinem Vater an den Tisch. Ich dagegen stand auf, um Ilian unter die Arme zu greifen. Dieser wirkte jedoch, als hätte er einen Riesentopf voll mit sauren Gurken gegessen. Mit verzogener Miene quälte er den Staubsauger, indem er ihm brutal das Kabel aus dem Leib riss. Plötzlich kam mir eine Idee. Ich verschwand schnell nach oben und kramte in meinem Schrank. Da war es tatsächlich noch! Conny und ich waren Karneval mal als Waschweiber gegangen und das Kostüm war noch da. Schnell zog ich mir den Kittel über, wickelte mir das Kopftuch um und trug ein schrilles Makeup auf. Haha, ich sah klasse aus! Ich schlüpfte noch schnell in ein paar ausgelatschte Hausschuhe und stürmte die Treppe herunter.
»Äh, Lissy?«, hörte ich Thomas rufen, doch ich ignorierte ihn. Zielstrebig ging ich ins Wohnzimmer, wo Ilian gerade das Sofa absaugte. Ich schnappte mir das Staubtuch und begann die untersten Ablagen des Schranks zu wischen. Dass mein Hintern in Ilians Richtung gestreckt war, war absolute Absicht!
»Das bisschen Haushalt«, begann ich das Lied von Johanna von Koczian zu singen, als Ilian den Staubsauger ausstellte, »macht sich von allein, sagt mein Mann. Das bisschen Haushalt, kann so schlimm nicht sein, sagt mein Mann. Wie eine Frau sich überhaupt beklagen kann, ist unbegreiflich, sagt mein Mann.«
»Elisabeth?« Ilians Stimme klang amüsiert und verblüfft.
»Was?«, fragte ich, drehte mich herum und sah ihn mit meinem schrill geschminkten Gesicht an. Ilian prustete los.
»Sag mal«, japste er vor Lachen, »wer hat das Brot gebacken, das du eben gegessen hast? Da waren doch Drogen drin, oder?«
»Gefalle ich dir nicht als Hausfrau?«, fragte ich und schob meine Hüfte etwas vor. Der schicke blaue Kittel mit den vielen bunten Blumen darauf sah einfach nur zum Schreien aus.
»Oh doch, ich nehme dich gleich hier, auf dem Wohnzimmertisch«, gluckste Ilian und schüttelte lachend den Kopf. Ich spitzte meine überschminkten, roten Lippen.
»Wenn ich die küsse, sehe ich danach aus, als hätte ich Ausschlag um den Mund.«
»Schamhaar-Föhner«, brummte ich.
»Lissy«, japste Ilian. »Wie kommst du immer nur auf diese herrlichen Weichei-Synonyme?«
»Keine Ahnung, du Saftverdünner.«
Ilian sah mich einen Moment lang gespielt wütend an. »Du suchst Streit, oder?«, neckte er mich. »Pass auf, ich habe hier«, er sah sich um und entdeckte den Staubsauger in seiner Hand, »ein Rohr, … das kann saugen!«
»Und was willst du damit tun?«, fragte ich lachend, als mein Vater hereinkam. Er sah mich an, stutze kurz über meine Aufmachung und deutete dann auf die Blume neben mir, auf dem Wohnzimmerschrank.
»Gebt der Wasser, wenn ihr schon mal dran seid. Die sieht durstig aus.«
»Ach, die simuliert nur«, sagte ich und winkte die Sache ab.
»Lissy, ich simuliere hier gleich auch was«, schimpfte Papa und nahm sich seine Zeitung aus dem kleinen Ständer neben dem Sofa. Er ging also mal für längere Zeit aufs Klo. Lächelnd blickten Ilian und ich ihm hinterher.
»Dein Vater ist so abgebrüht«, stellte mein Freund freudig fest.
»Er hat quasi alleine zwei Kinder großgezogen.« Ich grinste. »Und nicht irgendwelche Kinder, wir reden hier von mir und Thomas. Das härtet ab.«
»Thomas kenne ich nur ernst, aber wenn er nur halb so irre ist wie du, dann kann ich mir vorstellen, dass deinen Vater deine Aufmachung wirklich nicht im Geringsten irritiert hat.«
Ich schmiss mein Tuch nach Ilian. Er fing es in der Luft auf, musste aber wegen dem ganzen Staub, den ich damit weggewischt hatte und der nun aufgewirbelt in der Luft flog, ein paar Mal niesen.
»Ha!«, triumphierte ich.
»Unfair«, näselte Ilian und schmiss das Tuch zurück.
»Das meinte ich nicht«, stellte ich klar. »Du bist wieder gut drauf.«
Lachend schüttelte er den Kopf. »Du bist einfach der Wahnsinn, weißt du das?«
»Ja«, sagte ich ernst und Ilian griff sich an die Stirn.
»Ich bin im Irrenhaus«, murmelte er.
»Oh ja«, stimmte ich zu und ging zur Musikanlage meines Vaters. Er war ein absoluter Fan der Achtzigerjahremusik, weshalb Peter Schillings Major Tom das Wohnzimmer erfüllte. Tanzend machte ich mich wieder an die Arbeit und auch Ilian schaltete wieder den Staubsauger ein. Sicherlich, um das Lied zu übertönen.
»Völlig losgelöst von der Erde, schwebt das Raumschiff…«, begann ich laut mitzusingen, als endlich der Refrain kam. Es dauerte nicht lange und Ilian sang mit. Wir stellten das Lied sogar auf Dauerschleife, und weil wir gerade so schön dabei waren, machten wir auch gleich die angrenzende Küche mit. Rabiya staunte nicht schlecht, als sie uns dabei beobachtete, wie wir singend und lachend die Küchenzeile wischten und die letzten Spuren des Frühstücks beseitigten. Als wir fertig waren, riss ich die Arme hoch und drehte mich um mich selbst. Ilian fing mich auf, bevor ich fallen konnte, und drückte mich an sein Herz.
»Unglaublich, mit dir macht sogar der Haushalt Spaß«, staunte er.
»Tja, wir sollten uns bald mal dein Zimmer vornehmen.«
»Gerne«, sagte er und seine Augen begannen zu leuchten, »aber nur, wenn du wieder dieses heiße Outfit anziehst.«
»Oh ja, und dann male ich mir auch mit blauem Filzstift Krampfadern auf die Waden.«
»Oh Lissy«, stöhnte Ilian gespielt, »du machst mich total scharf!«
»Baby, ich weiß doch, worauf du stehst!«
»Wenn du mir jetzt noch sagst, dass du dir Lockenwickler in die Haare machst, komme ich sofort in meine Jeans.«
Ich konnte nicht mehr, ich lehnte mich in seiner Umarmung zurück und lachte.
»Danke Lissy«, meinte Ilian schließlich ernst.
»Das ist meine Art mich zu entschuldigen.«
»Ich liebe dich.«
»Ich dich noch viel mehr!«
***
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist?!«, meinte Rabiya am Abend und sah unsicher zu meinem Vater und Carmen. Die beiden überlegten noch.
»Was denkst du, Thomas?«, sagte mein Vater.
»Wenn Kassandra, André und ich mitkommen, ist das vielleicht gar nicht so verkehrt.« Irgendetwas gefiel mir an meinem Bruder nicht. Er verbarg etwas. »Im Grunde finde ich es ganz gut, wenn Lissy und Ilian eine Weile durchatmen.« Es passte ihm in den Kram. Hatte der Orden einen Beschluss gefasst? Würde er nicht mehr länger warten? Und die größte aller Fragen: Wollte ich wirklich wissen, was sie vorhatten? Ilian, der neben mir auf dem Sofa im Wohnzimmer gesessen hatte, stand auf und ging hinüber zu seiner Mutter, die in einem der Sessel saß. Er hockte sich auf die Lehne neben sie und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Ja, Schatz«, sagte sie schließlich. »Gerome wird mit Mayla und Felicia mit den Kleinen sowieso zu Bekannten nach Ungarn fliegen. Ich muss hierbleiben, aber wenn Thomas das für sicher hält, ist es mir nur recht, wenn Roran mit dir geht.« Rabiya wusste es! Was auch immer geschehen sollte, sie war eingeweiht und schaffte die Kinder aus der Schusslinie. Ich musste Conny unbedingt fragen, ob vielleicht sogar André sie auf die Idee mit dem Kurztrip gebracht hatte. Für das Erste hielt ich es jedoch für klug, meinen Mund zu halten und zu beobachten. Irgendetwas in mir sagte mir, dass ich es vielleicht gar nicht wissen wollte. Aber dennoch – eine Angst klammerte sich an meinen Nacken und hielt ihre Arme um meinen Hals, bereit jederzeit zuzudrücken. Ilian lächelte mich glücklich an. Ihm war es anscheinend noch nicht aufgefallen, aber er kannte auch Thomas noch nicht so gut und die Tatsache, dass seine Geschwister weggeschafft wurden, konnte man mit vielen anderen, logischen Gründen erklären. Zum Beispiel mit dem Angriff auf uns am Rhein. Als Ilian jedoch meinen Gesichtsausdruck sah, stutzte er. Ich gab ihm zu verstehen, dass wir später reden würden.
»Wir sollten packen«, schlug Thomas vor. »Am besten wir starten gleich morgen Abend.« Er hatte es eilig. Noch ein Hinweis darauf, dass die ganze Geschichte gar nicht so zufällig war.
»Na dann, Thema erledigt«, meinte mein Vater und sah zu Carmen. »Da haben wir hier bald mehr Ruhe, als uns lieb ist.«
Ich nahm Ilians Hand und zog ihn mit der Ausrede, dass wir packen gingen, aus dem Zimmer.
»Irgendetwas haben die vor«, sagte ich, als wir die Treppe hochgingen. Ilian wartete, bis wir in meinem Zimmer waren.
»Wie meinst du das?«, wollte er wissen.
»Es war Thomas total recht, dass wir wegfahren, und deine Mutter hat zwar zunächst gezögert, sicher weil sie dich gerne persönlich beschützen wollte, aber deine anderen Geschwister werden auch in Sicherheit gebracht.« Ich wusste nicht, ob ich mich verständlich ausgedrückt hatte, da mein Kopf bereits weiterratterte und sich nicht mit dem Wiederholen von bereits Durchdachtem abgeben wollte. Zum Glück war Ilian nicht auf den Kopf gefallen.
»Hm, du hast Recht. Es ist schon irgendwie merkwürdig.«
»Der Orden wird bestimmt angreifen, Ilian. Wir müssen Arva warnen!«
Ilian nickte und griff mit zittrigen Händen nach seinem Handy. Er telefonierte nur kurz mit seiner besten Freundin und sprach die ganze Zeit in der fremden Sprache, doch er wirkte glücklich, als er auflegte.
»Sie und Milda fahren ein paar Tage weg. Sie wird Audrina sagen, dass sie Zeit braucht, um mit Milda Schluss zu machen.«
»Ihr geht also davon aus, dass der Orden Audrina und die anderen töten wird?«, fragte ich und schluckte. »Weil Arva diese Lüge auftischt?«
»Lissy«, lenkte Ilian sanft ein und zog mich in seine Arme. »Ich weiß, dass dir das alles zuwider ist. Aber bitte denk dran, dass dies weder deine, noch meine Schuld ist. Nicht mal dein Bruder kann etwas für die Befehle, die er von ganz oben bekommt. Zumindest wird er nicht dabei sein.«
»Der Orden wird also angreifen?«
»Davon gehe ich aus. Die Brutmutter hat schon viel zu viel Zeit zum Nachdenken bekommen.«
Ich schluckte erneut. »Das gefällt mir nicht.« Ich stieß Ilian von mir weg. »Was ist mit den anderen Kindern in deinem Nest? Werden sie zu Waisen gemacht, nur weil die Brutmutter und ihre Tochter falsche Entscheidungen getroffen haben?«
In Ilians braunen Augen trat einen Moment lang Panik. »Ich glaube nicht, dass Mama das zulassen wird«, sagte er schließlich, schloss einen Moment die Lider und atmete tief durch. »Nein, Mama wird niemals über Leichen gehen wollen.«
»Sie kann auch nichts machen, wenn der Orden das entscheidet!«, erinnerte ich ihn und er begann sich die Haare zu raufen.
»Wir sollten packen«, meinte er plötzlich ganz abwesend. »Ich hole Sachen für Roran.«
***
Neun Stunden später saß ich im Auto mit Thomas, Kassandra und Ilian. Wir fuhren André, der mit Conny, Mischa und Leon im Auto vor uns die Autobahn Richtung Süden entlangdüste, hinterher. Der Kofferraum war gerappelt voll mit unseren Sachen. Gut fünfzig Prozent davon gehörte dem fünften Fahrgast in unserem Auto, Roran. Er lag friedlich schlummernd in seiner Babyschale neben Ilian, der sich heldenhaft auf den mittleren Sitz der Rückbank gequetscht hatte. Thomas und Kassandra waren guter Laune und sangen mit dem Radio mit. Sicherlich freuten sie sich, dass alles vorbei sein würde, wenn wir zurückkamen. Ich, für meinen Teil, wollte schreien. Ganz laut! Um das nicht zu tun, beschäftigte ich mich damit, Conny per Facebook auf den neusten Stand zu bringen. Sie hingegen berichtete mir, wie Mischa und Leon den guten André über Drachen ausfragten. Ilian saß neben mir und hielt sein Tagebuch in der Hand. Er schrieb zwar nicht, schien aber in Gedanken zu sein. Vielleicht überlegte er, was er schreiben sollte? Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und genoss den Duft seines Deos. Teufel-Lissy ließ bereits ihre Hand an der Innenseite seines Oberschenkels nach oben wandern. Gott, was alleine der Geruch dieses Kerls mit mir anrichtete.
»Lissy?«, flüsterte er in meine Haare.
»Hmh?«
»Ich würde dich gerne etwas aufmuntern.«
Ich hob meinen Kopf hoch und sah ihn fragend an, als er mir sein Tagebuch hinhielt.
»Magst du lesen?«
In meinen Fingern begann es zu jucken und Teufel-Lissy riss bereits heftig an dem blauen Buch.
»Bist du dir sicher?«, fragte ich und nahm es ihm ab. Er nickte lächelnd und deutete an, dass ich anfangen soll. Ehrfürchtig strich ich über das Buch, welches Ilians privateste Gedanken enthielt. Und er vertraute sie mir an. Ich schluckte einen Kloß im Hals herunter und begann zu lesen.
Liebes Tagebuch,
so fängt man doch ein Tagebuch an, oder?
Die Frage ist nur, wieso man ein Buch anspricht?
Im Nachhinein frage ich mich auch, warum ich es überhaupt gekauft habe? Vielleicht weil ich etwas loswerden muss, worüber ich mit niemandem reden kann?
Es geht um Arva. Meine beste Freundin. Da es um sie geht, kann ich nicht mir ihr darüber sprechen.
Wir haben miteinander geschlafen.
Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte?! Sie liebt Milda. In einem Moment schauen wir noch zusammen fern, im nächsten küsst sie mich. Und ich konnte nicht wiederstehen. Es ging nicht. Ich war physisch nicht in der Lage, mich von ihren drängenden Küssen loszureißen. Jetzt fühle ich mich schlecht. Nicht zuletzt, weil sie mir den Arm gebrochen hat. Es ist unglaublich, was die Weibchen für eine Kraft entwickeln! Ich bin noch zu jung und es wird dauern, bis es verheilt ist. Zum Glück war es der linke, so dass ich noch schreiben kann.
Ich bin müde und mir tut alles weh. Wie soll ich Arva jetzt nur begegnen? Sie meidet mich, weil sie ein schlechtes Gewissen hat.
Ich gehe jetzt schlafen … sofern ich das mit den Schmerzen überhaupt kann. Mama meint, dass bei Jungdrachen die gemahlenen Knochen nicht helfen. Da muss ich jetzt wohl durch.
I.
Ich sah Ilian an, doch er war damit beschäftigt dem schlafenden Roran über die Wange zu streicheln, also las ich weiter. Es folgten zwei weitere Einträge, in denen er einen Streit mit Arva beschrieb, und er tat mir in dieser Situation unheimlich leid. Ihm fehlte seine beste Freundin, der gebrochene Arm tat ihm weh und er wusste nicht, wie er mit der ganzen Situation umgehen sollte. Der Eintrag danach ließ mein Herz schneller pochen.
Liebes Tagebuch,
Arva hat mir ein Ei gebracht. Was haben wir da nur getan? Sie will nicht, dass Audrina etwas davon erfährt. Aus irgendeinem Grund hat sie panische Angst davor, dass sie unsere Brutmutter werden könnte. Vielleicht war es auch nur eine Ausrede, weil SIE keine Mutter werden wollte? Mama hat das Ei an sich genommen und es mit mir ins Feuer gelegt. Wir werden sagen, dass es ihres ist.
Ich habe die letzten Stunden damit verbracht, ins Feuer zu starren. Es ist nicht richtig so zu fühlen.
Mit mir stimmt etwas nicht.
I.
Nein, Ilian. Mit dir war alles in Ordnung gewesen. Du hattest einfach damals schon das Herz am richtigen Fleck sitzen gehabt.
Liebes Tagebuch,
Ich war heute wieder in der Schule.
Müde und mit pochenden Schmerzen im Arm bin ich in den Spanischunterricht. Der Streit mit Arva, das Ei im Feuer meiner Eltern, … das alles war zu viel für mich. Ich fühlte mich haltlos, doch dann geschah etwas Eigenartiges.
Rechts neben mir sitzt ein blondes Mädchen namens Elisabeth, aber alle nennen sie nur Lissy. Wir haben eigentlich noch nie ein Wort miteinander gewechselt, wenn ich mich richtig zurück erinnere?! Jedenfalls ist sie wohl das, was man als ausgeflippt und lebensfroh bezeichnet. Sie scheint immer eine freche Antwort parat zu haben und nimmt generell kein Blatt vor den Mund. Doch heute Morgen war etwas anders an ihr. Sie sah mir direkt ins Gesicht, als ich hereinkam. Ihre blauen Augen, sonst immer so verspielt und stets auf der Lauer, wirkten einen Moment lang traurig und besorgt. Als sie mich jedoch sah, schien sich Erleichterung in ihrem Gesicht breitzumachen. Sie musterte meinen Gips und Mitgefühl blitzte in ihren Augen auf. Verwirrt von dem, was ihr Mimikspiel mit mir anrichtete, setzte ich mich hin und vermied es sie weiter anzusehen. Was war dieses Kribbeln in meinem Bauch?
I.
Mir fehlten die Worte.
Liebes Tagebuch,
wir haben heute in Spanisch ein Liebesgedicht (Poema XV) von Pablo Nerudo übersetzt. Es ist merkwürdig, denn alles, was ich von der Stunde noch weiß ist, dass Elisabeth sich rege beteiligt hat. Ihre Worte hallen jetzt noch in meinem Kopf nach. Besonders eine Zeile: »Und ein Kuss hat, so scheint es, dir den Mund verschlossen.« Wieso beschäftigt mich das so? Wieso höre ich immer wieder ihre Stimme in meinem Kopf? Wieso muss ich immer noch über ihre bissigen Randbemerkungen zu dem Liebesgedicht lachen?
In der Pause habe ich sie auf dem Schulhof gesehen. Sie stand dort mit ihre Clique und ich hörte, wie sie der großen Freundin, mit den dunklen, kurzen Haaren zurief: »Eres la razón por la cual me levanto sonríendo cada mañana!« Du bist der Grund, warum ich jeden Tag lächelnd erwache. Eins weiß ich, sie wird der Grund sein, warum ich morgen lächelnd erwache.
I.
»Ilian, wenn ich das doch nur geahnt hätte«, flüsterte ich meinem Freund ins Ohr. Er lächelte und küsste sanft meine Nasenspitze. Ich las weiter und musste immer wieder über Szenen aus dem Familienleben der Balaurs lächeln, als wieder ein Eintrag kam, in dem es um mich ging.
Liebes Tagebuch,
ich stand heute in der Kantine hinter ihr. Ich glaube, sie hat mich nicht mal registriert, da sie mit ihrem Kumpel Leon herumflachste. Ich muss jetzt noch über einen ihrer Sprüche lachen. »Du drehst bei Tetris auch das Viereck, oder?« Ich konnte mich kaum noch zurückhalten!
Arva und ich reden wieder. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es zwischen uns nie wieder so wird, wie es mal war. Sie will mit mir nicht über das Ei reden, was in unserem Feuer gedeiht.
Ich sitze jeden Tag bei ihm/ihr. Mama meint, ich soll das lassen, aber ich kann nicht anders. Es ist falsch, dieses Besitz-Gefühl. Ich bin ein Drachenmännchen. Ich sollte nicht so fühlen.
I.
Hätte ich damals gewusst, dass er hinter mir gestanden hat, ich hätte sicherlich kein Wort herausgebracht.
Liebes Tagebuch,
es tut so weh.
Sie liebt diese große Dunkelhaarige. Sie sind ein Paar.
Wieso macht mich das so fertig?
Ich weiß, dass ich sie niemals haben könnte. Meine Aufgabe ist es Arvas Wächter zu sein … auch wenn Dean … nein, ich kann das meiner Familie nicht auch noch antun.
Und selbst wenn, … es würde sie nicht interessieren.
Mir ist kalt.
I.
Ich musste lachen, auch wenn es für ihn damals gar nicht lustig gewesen zu sein schien.
Liebes Tagebuch,
ich habe heute zwei Stunden vor dem Feuer gesessen und darüber nachgedacht, ob man jemanden lieben kann, ohne auch nur ein Wort mit der Person gewechselt zu haben? Ich bin zu keinem Ergebnis gekommen.
I.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Wieso hatte er nie etwas gesagt? Oder mir irgendein Zeichen gegeben?
Liebes Tagebuch,
sie bewegt sich so anmutig. Ich glaube, das weiß sie nicht mal selbst. Es erscheint mir so natürlich und kein bisschen gekünstelt. Sie ist so wunderschön. Wonach wohl ihr blondes Haar duftet?
Arva hat mir heute böse Vorwürfe gemacht, weil ich mich auf Sex mit ihr eingelassen hatte. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll und fühle mich mies. Ich habe sie enttäuscht und auch … das EI.
I.
Mein armer Ilian!
Liebes Tagebuch,
die Antwort lautet: Sommer. Sie riecht nach Sommer.
I.
Ich zog Ilians Kopf zu mir herüber und küsste ihn.
»Danke«, hauchte ich. »Danke, dass du das mit mir teilst!«
Er sagte nichts, sondern sah mich nur mit seinen unglaublich schönen Augen an. Ein Lächeln umspielte seinen Mund, als er mich erneut küsste.