Kapitel 17
Wir machten Pause an einer Raststätte. Ich stieg aus dem Wagen und streckte meine Glieder. Es war angenehm warm, irgendetwas knapp unter dreißig Grad. Conny kam zu unserem Auto herüber und schnappte sich den kleinen Roran. Mit großen Augen starrte er über ihre Schulter hinweg zu seinem Vater. Ilian kniete auf dem Boden und band sich pfeifend seine Schuhe neu. Mischa tippelte aufgeregt auf der Stelle umher, während Leon eine Karte studierte. Ich sah hoch zum wolkenlosen Himmel. Das helle Blau und meine Freunde machten mir gute Laune. Wieso sollte ich mich eigentlich für alles verantwortlich fühlen? Ich saß weder in den höchsten Rängen des Ordens, noch hörte dort irgendjemand auf mich. Mein Bruder hatte sich herzlich wenig für meine Einwände interessiert, weil auch er an der Situation nichts ändern konnte und jetzt nur noch Ilian und mich sicher aufgehoben wissen wollte. Auch wenn es mir Magenschmerzen bereitete, alles herunterzuschlucken, entschied ich, dass ich wenigstens die paar freien Tage alles vergessen wollte. Zu Hause konnte ich mir wieder Sorgen machen. Ilian ergriff meine Hand und ging mit mir zusammen den anderen hinterher. Ich drehte mich um und sah Thomas direkt hinter uns. Er lächelte aufmunternd und zwinkerte mir kurz zu.
In dem kleinen Selbstbedienungsrestaurant suchte ich mir ein Käsebrötchen aus, da die Wurst irgendwie schon alt und ranzig aussah. Mischa und Ilian kauften sich beide Schnitzel, so dass Ilian zwei hatte und Mischa eine große Portion Pommes mit leicht welkem Salat.
»Schmeckt‘s?«, wollte Ilian wissen und grinste dabei wissend.
»Muffig«, brummte ich zur Antwort.
»Wusstet ihr, dass der Fachbegriff für Gänsehaut Piloerektion ist?«, fragte Leon, der sich irgendeine Nerd-Zeitung gekauft hatte und darin las. Den Namen konnte ich nicht erkennen. Ilian grunzte kurz, während Conny rüber zu André sah und ihm dabei vielsagende Blicke zuwarf.
»Kann die Haut geil werden?«, grübelte ich laut. Ilian lehnte sich zu mir herüber und legte seine Lippen an mein Ohr.
»Nein, aber ich«, flüsterte er. Ich boxte ihn auf den Oberarm.
»Männer«, seufzte Mischa und zog die Augenbrauen hoch. »Aber nach dem Sex wollen sie wenigstens schmusen.«
»Tja, dann ist der Druck abgebaut«, sagte mein Bruder und mir wurde schlecht. Es gibt Dinge, die will man echt nicht wissen.
»Du pennst dann eher ein«, schimpfte Kassandra und Ilian verschluckte sich vor Lachen.
»Lach nicht, du schläfst garantiert auch ein. Alle Männer!«, protestierte Thomas.
»Nein«, kam ich meinem Freund zur Hilfe. »Ilian ist ein postkoitaler Schmuser.« Ich lächelte ihn verträumt an. »Außerdem muss er auf Zack sein und die brennende Bettwäsche retten.«
Ilian stimmte mir, den Mund voll Schnitzel, nickend zu.
»Was haltet ihr davon, morgen ein wenig mit unserem kleinen Boot herumzufahren?«, wechselte Conny das Thema.
»Bitte nicht«, jammerte Ilian. »Ich werde seekrank.«
»Echt jetzt?«, staunte ich.
»Ich fliege«, flüsterte er leise in die Runde, »aber Seemannsbeine wurden mir nicht in die Wiege gelegt.«
»Geil«, freute ich mich. »Wer Ilian über die Reling kotzen sehen will, hebt die Hand!« Ich hob meine, Conny und Mischa ebenfalls. Die anderen hatten Mitleid mit Ilian.
»Na Danke, meine Freundin!«
»Och komm schon, wir sind ja nicht auf dem Meer. Auf einem See ist kaum Wellengang. Wenn es zu windig ist, dann lassen wir es.«
Ilian wurde jetzt schon grün um die Nase.
»Ich halte dir auch die Haare.« Ich zwinkerte ihm zu und er lachte ergeben.
»Schauen wir mal.« Er legte sein Besteck beiseite und erhob sich. »Ich muss mal für kleine Drachen.«
»Ich komme mit«, sagte André und ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht musste, sondern nur auf Ilian aufpassen wollte.
»Wie geht es ihm?«, wollte Mischa wissen, als die zwei außer Hörweite waren.
»Wer? Wieso?« Hatte ich was verpasst?
»Na ja, nach der Sache mit dem Keller – das ist doch sicherlich nicht leicht für ihn, oder?!«
»Ach so, es geht ihm gut. Denke ich.« Sicher konnte ich mir da nicht sein, denn wir redeten nur wenig darüber. Jetzt, wo Mischa mich mit ihrer sanften Art danach fragte, fiel mir auf, wie ignorant ich gewesen war. Was Ilian da durchgemacht hatte, war traumatisch für ihn gewesen, und ich zwang ihn, aus Angst vor Schwäche und Tränen, die Angst zu kontrollieren. Aber vielleicht sollte ich auch nicht ganz so hart mit mir ins Gericht gehen. Immerhin hatte ich ihm mehrfach angeboten mit mir darüber zu sprechen.
»Er redet nicht viel darüber«, schloss ich meine Antwort.
Mischa nickte. Als Ilian und André zurück kamen, wirkten die beiden alarmiert.
»Was ist los?«, fragte ich verwirrt angesichts ihrer Körperhaltung.
»Ich bin mir ziemlich sicher, Sven gesehen zu haben«, sagte Ilian und wechselte einen kurzen Blick mit André. »Als ob es nicht reichen würde, dass er Lissy in Spanisch nervt und meine Schwester auf dem Schulhof angräbt. Jetzt rennt der auch noch hier rum!«
»Was sollte der denn hier wollen?«, fragte Conny.
»Vielleicht fährt er auch in Urlaub?« Leon. Unser Verstandsmensch.
»In die gleiche Richtung und zur gleichen Zeit wie wir?«, fragte ich und zog die Augenbrauen hoch. »Und das, nachdem er Ilians Schwester so bedroht hat?« Ich sah im Augenwinkel, wie mein Bruder und Kassandra aufwachten.
»Was?«, zischte Thomas und begann sich umzusehen. »Wie sieht der Kerl aus?«
Ich beschrieb meinem Bruder diese Pestplage, so gut es ging, und zog Ilian neben mich auf den Stuhl.
»Wir sollten weiterfahren«, schlug Kassandra vor, »und dabei die Augen aufhalten, ob ein Auto uns verfolgt.«
»Würdet ihr Roran mit in euer Auto nehmen?«, fragte Ilian meine Freundin Conny, die seinen Sohn immer noch im Arm hielt. Der Kleine lugte über ihre Schulter hinweg zum Nachbartisch, wo eine freundliche, alte Frau ihm immer wieder zulächelte und winkte. Pampers-Flirtmaschine!
»Klar«, sagte Conny und zuckte mit den Schultern.
»Gute Idee«, stimmte mein Bruder zu. »Wenn, dann wollen sie was von euch zwei«, er sah mich und Ilian an, »und dann ist es besser, der Kleine ist im Auto der Normalos.«
»Hallo?«, raunte Conny. »Wir sind das Kompetenzteam, ja?«
»Kompetenz für was?«, gluckste ich.
»Die Tatsache, dass du fragen musst«, belehrte sie mich spielerisch und wir erhoben uns alle vom Tisch, »zeigt schon, dass du es sowieso nicht verstehen würdest.« Ne, wahrscheinlich nicht.
***
Da wir nun kein Baby mehr im Auto hatten, drehte mein Bruder die Musik voll auf. Kassandra fuhr und Thomas sah sich um. Ilian und ich hatten uns wieder auf der Rückbank breit gemacht und massierten jeweils die Füße des anderen. Wobei Ilian mehr kitzelte als alles andere. Sein Tagebuch klemmte im Fahrersitz vor mir und ich überlegte, ob ich weiterlesen sollte. Vielleicht erfuhr ich ja etwas darüber, wie es ihm zurzeit ging. Leider kam ich mir alleine beim Gedanken wie eine heuchlerische Verräterin vor, also schob ich die Idee zur Seite. Ich sah zu ihm herüber und direkt in seine braunen Augen. Liebevoll musterten sie mich und wirkten trotz des Lärms der Autobahn und des Radios sehr ruhig und gelassen. Offensichtlich schätzte Ilian Sven nicht als große Gefahr ein, also tat ich es auch nicht. Der Wunsch mit ihm alleine zu sein, wurde übermächtig, als er mich anlächelte und seine Augen dabei funkelten. Er hörte auf meine Füße zu massieren und lehnte seinen Kopf entspannt gegen die Lehne der Rückbank. Ich tat es ihm nach und sah ihn weiter dabei an. Liebevoll zwickte er mich in die Wade und machte eine Kopfbewegung, die so viel heißen sollte wie: Was ist los? Ich zuckte mit den Schultern und strich sanft eines seiner Schienbeine hoch und runter.
»Lissy?«, rief mein Bruder und drehte danach das Radio herunter. Sehr logisch. »Schau mal bitte unauffällig zum Fenster hinten raus und schau dir die beiden jungen Männer in dem silbernen Opel Astra an.«
»Äh?«, machte ich. Da waren viele silberne Autos. Ilian lachte und sah ebenfalls heraus.
»Das ist er nicht«, gab er Entwarnung und mein Bruder drehte das Radio wieder lauter. So ging das noch mehrere Stunden.
***
Ilian und ich bekamen mit Roran das Schlafzimmer von Connys Eltern im Wohnwagen. Thomas und Kassandra funktionierten die Essecke zu einem Bett um und meine Freunde machten es sich mit André im Anbau in den Kinderzimmern bequem.
Müde und erschöpft ließ ich mich auf das Bett fallen. Roran quengelte und maulte. Sicherlich war er es leid, in diesem Kindersitz zu liegen, also nahm ich ihn heraus und legte ihn neben mich. Protestierend kaute er auf seinem Schnuller herum.
»Ich mache ihm eine Flasche«, sagte Ilian und ließ mich mit dem Baby und den Koffern alleine.
»Wat is, Kompadre?«, scherzte ich, aber Rorans braune Augen funkelten mich nur vorwurfsvoll an. »Ja, Papi macht ja Happi!« Gott, hatte ich das gerade echt gesagt? Ich rollte das Baby auf den Bauch und Roran hörte auf zu maulen, denn er war damit beschäftigt, seinen Kopf hochzuhalten. Unter seinen wachsamen Augen begann ich meinen Koffer auszuräumen und meine Klamotten in den kleinen Einbauschrank zu zwängen. Irgendwie ließ mich die Tatsache, dass Ilian meinte, Sven gesehen zu haben, nicht so richtig los. Ich wollte mich ja wirklich freuen, jetzt hier zu sein. Ja, und ich wollte auch vergessen, dass in meiner Abwesenheit zu Hause Blut vergossen wurde, aber wie sollte ich das schaffen, wenn ständig was Neues dazu kam, was mir Angst machte? Thomas steckte seinen Kopf zur Tür herein.
»Ich fahre mit Conny zum Supermarkt Grillfleisch holen. Willst du was Besonderes?«
»Nein, das Übliche!« Mehr brauchte ich meinem Bruder nicht sagen. Er wusste genau, was ich mochte.
Während Ilian seinem Sohn die Flasche gab, machte ich mich gemeinsam mit Mischa daran, die Gartenstühle und den großen Tisch abzuwaschen. Sie waren schon mehrere Monate nicht mehr benutzt worden. Leon baute einen großen Ampelschirm auf, der uns vor der noch immer sehr warm scheinenden Sonne abschirmte. Danach ging er zum Grill und schrubbte ihn sauber. Im Herbst war einiges an Laub darauf gefallen.
»Echt schön hier, oder?«, seufzte Mischa und hielt einen Moment inne, um die Bäume und Blumen um uns herum in sich aufzunehmen.
»Ja, traumhaft«, sagte ich und beobachtete Ilian, der mit einem Babyphone aus dem Wohnwagen kam. Er sah auf seine Armbanduhr.
»Der dürfte jetzt erst mal bis Mitternacht schlafen«, sprach er von Roran und ließ sich in einen der sauber gewischten Stühle fallen.
»Ilian!«, quietschte ich. »Der war noch nass!«
»Mir egal.« Er grinste und Mischa lachte laut auf. André kam zwischen zwei Bäumen hervor und sah sich noch einmal um, bevor er sich zu uns stellte.
»Alles sauber«, berichtete er knapp. »Ist für fliegende Gestalten schwer zugängliches Gelände.«
Ilian sah sich um und hoch in die Baumwipfel. »Hmh«, brummte er zustimmend. Der kleine Campingplatz lag mitten im Wald und war nur über einen sehr ruckeligen Waldweg zu erreichen.
»Im Grunde ist das hier der perfekte Drehplatz für einen Horrorfilm«, sagte ich. »Wie gut, dass das Monster bei mir im Bett liegt.«
Ilian lachte mich vielsagend an und stieß dabei ein klein wenig Rauch aus. Mischa hingegen gackerte wie ein kleines Huhn und ging dann in den Wohnwagen. Etwas später kam sie mit Geschirr wieder. Ilian und ich halfen ihr den Tisch zu decken, während André und Leon versuchten den Grill anzuzünden. Leider war der Anzünder wohl schon ziemlich alt oder die zwei einfach zu doof, jedenfalls wollten die Kohlen nicht richtig anfangen zu brennen. Ilian stellte sich zu den Kerlen und räusperte sich. André und Leon waren so in Fachsimpeleien vertieft, dass sie Ilian gar nicht bemerkten. Dieser kreuzte die Arme vor der Brust und wartete ab, ob die beiden Vollprofis von selbst auf die Idee kamen den feuerspuckenden Drachen mal dranzulassen. Es war einfach köstlich zu sehen, wie André und Leon ihre Köpfe in den Grill steckten, während Ilian neben ihnen stand und geduldig wartete. Mischa lachte neben mir und ich ließ mich anstecken. Sie war richtig gut drauf und das riss mich irgendwie mit. Kassandra stellte sich auf meine andere Seite und pfiff zwischen zwei Fingern. André und Leon drehten sich um.
»Hey, Ernie und Bert«, sagte sie. »Lasst doch mal jemand dran, der sich mit Feuer auskennt.« Sie deutete auf Ilian, der die beiden Jungs mit hochgezogenen Augenbrauen abwartend ansah. Leon kratzte sich am Kopf und machte Platz, während André ein wenig stinkig aussah. Es dauerte keine zwei Sekunden und die Kohlen glühten. Mit vor Stolz geschwellter Brust drehte Ilian sich zu uns um.
»Ich, Mann!«, grunzte ich. »Ich, Feuer gemacht!« Ich nahm die Haltung eines Höhlenmenschen ein und trommelte mir wie ein Affe auf die Brust.
Ilian kam auf mich zu und zwickte mich liebevoll in den Bauch, bevor er mich in seine Arme zog. »Nicht den Drachen verärgern«, raunte er mir belustigt ins Ohr.
»Was passiert denn, wenn ich es trotzdem tue?« Ich sah ihn mit großen Augen an, während er zu überlegen schien.
»Vielleicht röste ich dich dann heute Abend ein wenig?«
»Ganz, ganz miese, fantasielose Antwort, Herr Balaur«, sagte ich kopfschüttelnd. »Das können Sie besser!«
»Ich gelobe Besserung.« Sein Blick wurde sanft und flehend. »Kannst du mir noch mal verzeihen?«
Ich hob meine Hände und strich ihm über die Wangen. »Dir würde ich alles verzeihen«, platzte es aus mir heraus. »Na ja, nicht alles«, korrigierte ich mich schnell. »Ich könnte es zum Beispiel nicht ausstehen, dich zu teilen.«
»Schade«, seufzte Ilian gespielt traurig und ich boxte ihn dafür auf die Brust.
»Du Arsch«, sagte ich lachend, »geh, hau ab und ruf bei DHL an, um zu fragen, wann die Sendung mit der Maus kommt.«
Es dauerte einen Moment, bis Ilian in seinem Kopf den Begriff »Sendung« mit DHL und dem Namen der Kinderserie in Verbindung brachte. Dann lachte er herzhaft.
»So ein Blitzmerker«, seufzte ich, doch bevor ich ihn weiter aufziehen konnte, rollte das Auto mit Conny und meinem Bruder über den Schotterweg an. Beide sahen irgendwie verbissen aus.
»Was ist los?«, fragte Kassandra, die den Gesichtsausdruck meines Bruders schon genauso gut deuten konnte wie ich.
»Ich habe Sven gesehen«, antwortete Conny, bevor Thomas den Mund aufmachen konnte. Ich fühlte, wie Ilian sich anspannte, und ich sah ängstlich hoch in seine Augen. Er bemerkte meinen Blick nicht und schien in Gedanken zu sein.
»Jetzt weiß ich wenigstens auch, wie der Kerl aussieht«, sagte mein Bruder und schwang zwei Beutel mit Lebensmitteln auf den Tisch.
Mischa machte sich daran die Sachen auszuräumen und reichte Leon das Fleisch, der sich daranmachte, es für den Grill vorzubereiten.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Er ist nur ein Mensch«, seufzte Thomas. »Wir Jäger werden die Augen aufhalten und ihn zur Rede stellen, sollte er sich in unsere Nähe wagen.«
André nickte meinem Bruder verbissen zu und Conny wirkte extrem genervt. Sicher hatte sie sich erhofft, mit ihrer Flamme hier die Ruhe genießen zu können, und jetzt musste er arbeiten.
»Es muss nichts bedeuten«, versuchte er meine beste Freundin zu trösten. »Vielleicht macht er tatsächlich hier nur Urlaub?«
»Nachdem er versucht hat, sich an meine Schwester heranzumachen?«, fragte Ilian mit eiskalter Stimme. »Ich glaube nicht. Mit Sicherheit hat Audrina ihn angestiftet, sich an unsere Fersen zu klemmen.«
»Du meinst, die wissen jetzt, wo wir sind?«, fragte ich und Mischa ließ vor Schreck eine Schale mit Kartoffelsalat fallen. Zum Glück war sie aus Plastik und es gab nur wenig Verlust des Inhalts. Sie hob die Schale wieder hoch und stellte sie auf den Tisch.
»Meine Eltern kennen Svens Eltern«, sagte Leon mit dem Fleischwender in der Hand. »Soll ich mal daheim anrufen und sie bitten, dort mal anzufragen, wo Sven ist?«
Wir starrten alle Leon an, der sich im Mittelpunkt sichtlich unwohl fühlte.
»Ja, bitte. Sofort«, bellte mein Bruder wie einen Befehl.
Leon ließ alles stehen und liegen und zückte sein Handy. Wir alle lauschten seinen Worten, bis er auflegte.
»Jetzt müssen wir warten. Mama fragt nach und meldet sich dann.«
Ich nickte vor mich hin und sah zu Ilian, der ganz still geworden war.
»Es tut mir so leid«, sagte er dann plötzlich in die Runde. »Ich wollte euch alle nicht in Gefahr bringen.«
»Hey«, hauchte ich und drückte fest seine Hände. »Wir sind alle freiwillig hier, schon vergessen?«
»Ja, Ilian«, half mir Conny. »Jeder hier war sich der Gefahr bewusst.«
Mein Freund schluckte und löste sich von mir. »Ich mache mich auf die Suche nach Sven und versuche herauszubekommen, was er vorhat.«
»NEIN!«, kreischte ich fast. »Du gehst alleine nirgendwo hin.«
»Ich begleite ihn«, sagte mein Bruder und klopfte Ilian auf die Schulter. »Komm, wir fahren dahin, wo wir ihn eben gesehen haben.«
Ich sah Ilian an, als wäre er irre. Das konnte er doch nicht tun? Ich schüttelte immer wieder meinen Kopf, doch er drückte mir nur mit einem flehenden Gesichtsausdruck das Babyphone in die Hände.
»Ich bin spätestens um Mitternacht zurück, okay?«
»Nein«, zischte ich und funkelte ihn böse an. Am liebsten hätte ich ihm das Babyphone ins Kreuz geworfen, als er mit meinem Bruder wegging und sich zu ihm ins Auto setzte. Conny ergriff neben mir meine Hand und drückte sie fest.
»Sven kann ihnen nichts tun, Lissy«, versuchte sie mich zu beruhigen, doch irgendwie half das gar nichts. »Komm, essen wir was.«
***
Um halb elf riss mich das Babyphone aus den Gedanken. Ich saß mit meinen Freunden um den Tisch und versuchte immer noch, etwas Essbares hinunterzubekommen. Innerlich dankte ich Roran dafür, dass er mir die weitere Tortur ersparte, also sprang ich auf und ging zu dem Baby in den Wohnwagen.
»Hallo Scheißerchen«, sagte ich in einem Baby-Sing-Sang. »Dein Papa kommt gleich nach Hause, keine Angst, Tante Lissy ist ja da.«
Als seine braunen Augen mich erkannten, wurde er ruhiger. Ich schnappte mir seinen Schnuller, der neben seinem Kopf lag und steckte ihn ihm wieder in den Mund. Leise schimpfend begann er daran zu saugen, bis er schließlich ganz still wurde. Nur noch seine Ärmchen, mit kleinen, zu Fäusten geballten Händchen, ruderten herum.
»Ne Runde Boxen?«, fragte ich amüsiert und hob ihn hoch, an meine Schulter. »Sollen wir mal gucken, ob dein Papa noch was von deinem Futter stehen gelassen hat?« Ich drehte mich gerade herum und wollte das kleine Schlafzimmer verlassen, da blockierte plötzlich jemand die Tür. Als ich erschrocken aufschreien wollte, erkannte ich Ilians liebevolle, braune Augen. »Mann!«, schimpfte ich. »Kannst du nichts sagen?«
»Entschuldige«, nuschelte er. »Rorans Essen ist schon im Fläschchenwärmer.« Damit nahm er mir den Kleinen ab und küsste ihn liebevoll auf die Stirn.
»Und?«, fragte ich. »Ihr seid ja so früh wieder zurück.« Ich versuchte nicht allzu sauer über Ilians Verschwinden zu sein, da ich ihn ansatzweise verstehen konnte und ich uns nicht den Abend verderben wollte.
»Wir haben ihn erwischt.«
»Echt?« Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Leons Mom hatte zurückgerufen, als Ilian und Thomas fort gewesen waren, und gesagt, dass Sven angeblich mit Freunden an der Nordsee sein sollte. Von dort waren wir allerdings einige Kilometer entfernt.
»Ja, wir haben Glück, dass er noch dämlicher ist, als er ohnehin schon aussieht.«
Ich legte fragend meinen Kopf schief.
»Audrina hat ihn angewiesen, sich mit uns anzufreunden und ihr alles zu berichten, was wir so treiben. Das Angraben von Mayla war unter anderem ein Versuch von ihm, Freundschaft zu schließen.« Ilian rollte mit den Augen. »Er hat Audrina berichtete, dass wir wohl in Urlaub aufbrechen, aber mehr auch nicht. Anscheinend wollte er uns hier rein zufällig über den Weg laufen und versuchen, mit uns gemeinsam etwas zu unternehmen. Erst dann wollte er sich, mit Ergebnissen, bei Audrina melden.«
»Oh Mann«, seufzte ich.
»Dein Bruder hat sein Handy gecheckt. Alles in Ordnung. Der letzte Anruf bei Audrina war heute Morgen, bevor wir losgefahren sind, und die SMS waren komplett sauber. Thomas hat ihm sein Handy weggenommen und ihm mit einer Waffe gedroht.« Ilian lächelte bitter. »Der hat sich, und das meine ich wörtlich, vor Angst in die Hosen gemacht und geschworen, nie wieder mit Audrina zu sprechen. Wir haben ihn dann nach Hause geschickt.«
»Und wenn er doch mit Audrina spricht?«, fragte ich.
Ilian sah mich an und schluckte hörbar. Der Fläschchenwärmer meldete sich mit einem Piepen, doch bevor Ilian zu ihm in die Küche ging, nuschelte er noch leise »Falls sie überhaupt noch lebt«, vor sich hin.
Roran schlief nach der Flasche zufrieden in seinem improvisierten Kinderwagen-Bett. Wir hatten einfach die Wanne des Wagens abgemacht und neben unser Bett gestellt, so hatten Ilian und ich etwas Raum für uns. Zumindest für ein paar Stunden. Ich lag in seinen Armen, während wir einen Film auf meinem Laptop sahen. Da Ilian das Essen verpasst hatte, stopfte er sich die kalten Reste hungrig rein.
»Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du das fettige Fleisch von meinen Haaren fernhältst«, schimpfte ich leise.
Durch Ilians Brust ging ein lautloses Lachen. »Wieso? Das verleiht doch den gewissen Glanz.«
»Bleib mir bloß mit deinen Fettgriffeln weg!« Ich hörte, wie er sich die Finger ableckte.
»Hach«, seufzte er zufrieden. »Satt.«
»Schön für dich«, gluckste ich.
»Und jetzt?«
Ich hob meinen Kopf und sah ihn fragend an. »Wie und jetzt? Wir gucken gerade einen Film.«
Ilian sah zwischen mir und dem Laptop hin und her, auf dem gerade der Zombie R mit ein paar Kumpels herumstolperte. »Nach dem Essen sollst du rauchen oder eine Frau gebrauchen.«
»Hast du beides nicht zur Hand, wichs dir einen fürs Vaterland«, beendete ich seinen Vortrag.
»Elisabeth«, raunte Ilian gespielt geschockt. Die Flammen in seinen Augen brachten das Schokoladenbraun seiner Iris zum Schmelzen.
»Was? Du hast mit diesem dummen Spruch angefangen.«
»Aber – aber, ich bin doch Nichtraucher! Und außerdem sagt man heute nicht mehr dumm, Lissy. Das ist politisch unkorrekt.«
»Sondern?«
»Geistig unbewaffnet, bildungsresistent, verbal inkompetent und kognitiv suboptimiert.«
»Du bist auch kognitiv suboptimiert! Woher hast du den Scheiß?«
»Facebook.«
Wir lachten.
»Wie erwachsen«, gluckste ich und sah hinüber zu dem schlafenden Roran. Der arme Kerl hatte verloren – er hatte einen Vater, der sein Wissen ausschließlich aus Facebook holte.
»Pff, ich bin erwachsen!« Ilian stand auf. »Und jetzt fahre ich mit meinem Bobbycar zu meinem Musik-Töpfchen.« Damit verließ er das Zimmer, brummend wie ein Auto, und ich musste so lachen, dass ich mir das Kissen vor das Gesicht presste, um Roran nicht zu wecken.
Als Ilian zurückkam, summte er »Alle meine Entchen« vor sich hin. Liebevoll schmiss ich mein Kissen nach ihm.
»Was ist ein Musik-Töpfchen?«, fragte ich leise lachend.
»Wenn man da reinstrullert, macht das Musik.« Ilian grinste. »Als Pippa da das erste Mal drauf gewesen ist, hat sie sich so erschrocken, dass sie schreiend weggerannt ist.« Er erinnerte sich an die Szene und es schien ihm teuflische Freude zu machen. »Das Badezimmer sah aus!«
»Was spielt es denn?«
»It’s raining men, hallelujah«, sang er und ich stieß ihn in die Seite.
»Ernsthaft!?«
»Nein, so eine Art Siegesfanfare – wie damals bei Super Mario, wenn man es ins Ziel geschafft hat und der kleine, dicke Italiener gegen die Stange gesprungen ist. Datatadaaaa!«
»Wie geil, ich will auch ein Musik-Klo haben.«
»Ich kaufe dir eins im Internet.«
»Mein Held«, gluckste ich und zog ihn zu mir herunter. Sachte ließ ich mich rückwärts fallen und Ilian folgte mir, bis er schließlich auf mir lag. Er schenkte mir ein kleines Lächeln, bevor seine weichen Lippen auf meine trafen. Sein rauchiger Geschmack kitzelte meine Zunge und feuerte etwas tief in mir drin an. Ilian ließ von mir ab und vergrub kurz sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Etwas Rauch kribbelte über meine Kopfhaut und stieg nach oben ins Zimmer.
»Entschuldige«, flüsterte er, doch bevor ich antworten konnte, waren seine Lippen wieder auf meinen.
»Iliamm … Iaam?«, versuchte ich ihn während unseres Kusses abzulenken. Es funktionierte und er hielt inne. Mit flammend brennenden Augen musterte er mein Gesicht, Nasenspitze an Nasenspitze.
»Geht es dir gut?«, flüsterte ich. »Ich meine, wegen allem, was passiert ist, und so?«
Er lächelte und seine Augen funkelten mich an. »Ja, Lissy. Es geht mir gut.« Für einen Moment wich er meinem Blick aus und verschränkte die Finger seiner Hände mit meinen. »Versprich mir nur, für immer bei mir zu bleiben, ja?«
»Ja«, hauchte ich und presste meinen Mund auf seinen. Ich verließ ihn nur kurz, als wir unsere Oberteile auszogen und Ilian mich auf seinen Schoß zog. Seine warme Haut traf auf meine. Sie war noch immer so weich und rosig wie die eines Menschen und ich genoss es, zärtlich über seinen Bauch und seine Brust zu streicheln. Ich erwartete, dass er sich jeden Moment erhitzen und verändern würde, doch es blieb aus. Stattdessen zog mich Ilian immer fester in seine Umarmung. Bauch an Bauch, Brust an Brust, klammerten wir uns aneinander und küssten uns sanft, aber leidenschaftlich. Er löste eine Hand aus der Umarmung und fuhr mir damit den Rücken hinauf über den Nacken in die Haare. Ich spürte seinen Herzschlag an meiner Brust. Das regelmäßige, ruhige Klopfen, welches ihn so menschlich erscheinen ließ.
Ilian hob mich sanft an und legte mich wieder zurück auf das Bett, wobei er keinen Zentimeter von mir wich. Auf dem Rücken liegend, schlang ich meine Beine fest um seine Taille und hieß sein Gewicht auf meinem Körper willkommen. Sein Küssen wurde drängender und sein Herzschlag kräftiger. Ich antwortete ihm, indem ich meine Finger sanft in seinen Rücken krallte. Seine Haut wurde heißer, doch sie veränderte sich noch nicht. Sein Mund verließ meinen und arbeitete sich in meinen Nacken vor, bevor er schließlich ganz von mir abließ.
Ohne ein Wort zu sagen, wich er von mir zurück und zog mir vorsichtig meine Schlafanzughose und die Unterwäsche aus. Er selbst behielt seine an, als er sich wieder auf mich legte und mich mit sehnsüchtigen Augen ansah. Ich ertrug diesen Blick nicht – er wirkte irgendwie leidend. Hastig legte ich meine Hände um seinen Kopf und zog ihn wieder zu einem Kuss herunter, doch er rückte etwas zur Seite, so dass er mit einer Hand meine Brüste berühren konnte. Seine Finger jagten mir einen blitzartigen Schauer über meine gesamte Haut. Vom Kopf bis hinunter zu meinen Zehen schien alles Ilians Namen zu summen. Ein wenig unbeholfen verformte ich ihn so, dass ich mich auf ihn legen konnte. Als ich mich kurz aufsetzte, um ihn anzusehen, begann es in meinen Augen zu brennen, denn in seinen stand etwas geschrieben, was mir die Kehle zuschnürte.
»Ich liebe dich«, flüsterte ich, indem ich meine Lippen ganz sanft an sein Ohr legte. Ich hörte, wie er schluckte, und spürte, wie mein zitternder Körper wieder in seine warme Umarmung gezogen wurde. Sicher. Zuhause. Liebe. Das alles waren Worte, die mir in diesem Moment zusammenhanglos durch den Kopf schossen. Ich ballte die Hand, in der er vor einiger Zeit sein Liebesbekenntnis geschrieben hatte zur Faust. Es war mir, als würde die Haut an der Stelle, an der der Kugelschreiber sie berührt hatte, kribbeln.
»Ich liebe dich so sehr, Ilian«, krächzte ich noch einmal heiser.
Er gab ein ersticktes Stöhnen von sich, bevor er mich fest packte und wieder herumwirbelte, so dass er auf mir lag. Dieses Mal jedoch pochte sein Herz ganz wild und sein Atem ging unregelmäßig. Als sein Becken gegen meins zu drängen begann, veränderte sich seine Haut in ein nachtleuchtendes Blau. Drachenaugen funkelten mich fragend an. Ich ergab mich ihnen und nickte.
In den frühen Morgenstunden wurde Roran wach und Ilian holte ihn zu uns hoch ins Bett. Er umklammerte das kleine Wesen so fest, dass Roran nicht mehr zappeln konnte. Den Nucki kräftig saugend sah er mich kurz mit kleinen braunen Augen an, bevor sie sich wieder schlossen und er noch einmal einschlief. Lächelnd rückte ich näher an die beiden Balaurs heran und strich Ilian sanft über den Kopf. Seine Haare waren verschwitzt, doch das störte mich nicht im Geringsten. Mein Freund seufzte leise im Schlaf und auch ich schloss noch einmal die Augen, worauf mich sofort die Bilder der Nacht wieder einholten. Es war, als fühlte ich Ilian wieder in mir – sah in seine fiebrigen Augen und roch seinen würzigen Rauch. Ich atmete tief durch und schlief wieder ein.
Gegen sechs Uhr hatte Roran dann keine Lust mehr und Kohldampf. Ilian erhob sich wie ein Achtzigjähriger und stolperte hinaus zur Küche. Ich hörte die verschlafene Stimme meines Bruders und das Geschepper von Tassen. Offensichtlich wurde zu dieser unchristlichen Zeit schon Kaffee gekocht. Ich nahm den meckernden Roran auf dem Arm und strich über den kleinen Haarflaum auf seinem Kopf.
»Komm Mini-Ilian, wir schauen mal, was so geht«, nuschelte ich müde und verließ das Schlafzimmer.
Kassandra lag noch im Bett, sie hatte aber bereits einen Tablet-PC in der Hand und schien etwas zu lesen. Ilian und Thomas standen vor der kleinen Kochnische und starrten Kaffeemaschine und Fläschchenwärmer an, die sich um die Wette erhitzten und blinkten.
»Schon was Neues von daheim?«, fragte ich und überging das Guten-Morgen-Ritual.
Mein Bruder schüttelte den Kopf, aber er sah mich dabei nicht an.
»Du verheimlichst mir was!«, protestierte ich.
»Ja«, sagte Kassandra, ohne von ihrem Tablet aufzusehen.
»Lissy, hör zu«, begann mein Bruder sanft.
»Wer ist tot?«
***
Liebes Tagebuch,
Sven hat mir ein wenig leidgetan. Er hatte es noch nie mit einem Drachenweibchen zu tun und ich bin mir ziemlich sicher, dass Audrina ihm mit ihrer Autorität Angst eingejagt hat. Oder wie hatte sie ihn sonst überreden können, uns zu folgen? Was für eine Lüge hatte sie ihm aufgetischt? Diese Fragen waren mir alle erst später eingefallen.
Mein Nest hat sich in der Nacht verschanzt, als die Jäger angriffen. Im Moment hat der Orden ein Haus heimlich umstellt, so dass keiner der Passanten etwas bemerkt. Ich bete zu Gott, dass sie den Kindern nichts tun.
Das könnte ich mir nie verzeihen.
I.