Kapitel 10

Ein Blick zum Wecker verriet mir, dass es viel zu früh war, um aufzustehen. Trulli und Egon jagten irgendwo über den Boden und verursachten dabei raschelnde Geräusche. Ich griff nach meinem Handy und versuchte zum hundertsten Mal, Ilian zu erreichen, aber wieder tapste ich in die Falle der Mailbox. Um mich zu trösten, rief ich mir Thomas' Worte in Erinnerung: Mit Sicherheit hatte Ilian Ärger von der Brutmutter bekommen, aber schon morgen würde er sich bei mir melden. Wenn ich mich einmischen würde, würde es nur schlimmer werden.

Ich atmete tief durch und sah mich in meinem dunklen Zimmer um. Alles wirkte so friedlich, und dennoch fühlte ich mich wie ein Tier in der Falle. Getrieben von Unruhe stand ich auf und ging neben meinem Bett auf und ab. Ich entschied mich meinen Laptop hochzufahren und ein wenig im Internet zu stöbern. Conny würde sicherlich schlafen, aber vielleicht konnte ich ja zumindest ein wenig bei Facebook nachlesen, was so bei meinen Mitschülern passiert war. Eine neue Freundschaftsanfrage erwartete mich und ich klickte sie gelangweilt an. Dann änderte sich meine Stimmung schlagartig. Mayla Balaur möchte mit dir auf Facebook befreundet sein, stand dort geschrieben. Ich bestätigte sofort und öffnete mich pochendem Herzen die drei neuen Nachrichten, die bei mir eingetrudelt waren. Die ersten zwei waren von Mischa und dann war da noch eine von Mayla.

Ich hoffe, du bekommst die Nachricht.

Ilian wird bei Elyra im Keller gefangen gehalten.

Sie haben ihm Estragon, auch als Drachenkraut bekannt, in Übermaßen gegeben, was ihn dazu zwingt in Seiryū zu bleiben. Mutter ist aus dem Krankenhaus gekommen, als sie davon gehört hat. Ich habe Angst, Lissy!

Was zum … ? Ohne weiter nachzudenken, stand ich auf und rannte zum Zimmer meines Bruders. Hektisch klopfte ich an und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten.

»Was ist los?«, fragte Kassandra verschlafen.

»Kommt, das müsst ihr lesen!«, flüsterte ich heiser, um Papa und Carmen nicht zu wecken. Thomas erhob sich mit wuscheligen Haaren und lautem Gähnen.

»Wehe, es brennt nicht«, brummte er und ließ sich von mir in mein Zimmer ziehen. Kassandra schlurfte müde hinterher. Thomas' Augen flogen über Maylas Zeilen und er grunzte amüsiert. Verstört sah ich ihn an.

»Und?«, drängte ich auf ihn ein.

»Diese Mayla hat Nerven! Was sollst DU denn da machen? In den Keller einsteigen und auf ihm davonfliegen?«

Ich gab Thomas einen sanften Schlag in den Nacken. »Die halten ihn gefangen!«

»Dazu hat die Brutmutter jedes Recht«, sagte mein Bruder und zuckte mit den Schultern.

»Hat sie nicht!«, kreischte ich fast. Ich konnte mich gerade noch an die Uhrzeit und unseren schlafenden Vater erinnern.

»Lissy, das geht uns nichts an.«

»Schön, aber mich!«, antwortete ich patzig und sah Hilfe suchend zu Kassandra. Mitleidig funkelten mich ihre Augen in der Dunkelheit an.

»Wenn ihr mir nicht helft, hole ich ihn alleine da heraus.« Damit stürmte ich zu meinem Kleiderschrank und riss die erstbesten Klamotten heraus.

»Lissy«, ermahnte mich Thomas müde. »Was hast du vor?«

»Die Balaurs wachklingeln.« Ich sah im Augenwinkel, wie Kassandra meinen Bruder mahnend ansah.

»Gib mir eine halbe Stunde, ja?«, raunte Thomas schließlich und erhob sich. In Windeseile zog ich mir was über und band mir die Haare zum Dutt zusammen. Aus einem Impuls heraus öffnete ich eine SMS an Conny, drückte sie jedoch sofort wieder weg. Sobald wir Ilian zurückhatten, musste ich ihn bitten, meiner besten Freundin von der Sache erzählen zu dürfen, oder ich würde noch im Irrenhaus landen. Ich steckte mein Handy in die Hosentasche und verließ mein Zimmer. Mein Bruder telefonierte gerade, während seine Freundin sich schwarze hohe Stiefel anzog, wie man sie von der Bundeswehr kennt. Ihre Kleidung sah merkwürdig aus. Dunkelgrün und alles andere als modisch … wie Schutzkleidung.

»Thomas organisiert einen Transportwagen.«

»Wofür das denn?«, fragte ich verwirrt. »Wir wollen denen doch nicht die Bude ausräumen?!« Oder doch? Klaute der Orden öfter bei Drachen? Kassandra lachte leise.

»Nein, aber dein Freund ist in Drachengestalt. Wir werden ihn kaum auf den Rücksitz schnallen können.« Sie zwinkerte mir zu und schüttelte belustigt den Kopf.

»Er wird sich ja wohl zurückverwandeln?«

»Nein.« Kassandra seufzte und kämpfte mit einer Haarsträhne, die so frech gewesen war, sich sofort wieder aus dem Zopf zu lösen. »Er hat Estragon bekommen, wenn wir Pech haben, bleibt er die nächsten Tage in Drachenform.«

Ich riss die Augen erstaunt auf. »Wegen diesem Drachenkraut?«

»Ja«, seufzte sie und stand auf, um zu mir zu kommen. »Artemisia dracunculus bewirkt mit seinen Estragol im Drachenkörper eine Hitze, die ihn dazu zwingt, sich zu verwandeln. Wir müssen warten, bis es seinen Verdauungstrakt komplett verlassen hat.«

»Oder ihm eine Menge Eis geben, in der Hoffnung, dass es ihn von innen runterkühlt«, fügte mein Bruder hinzu, der gerade sein Handy in die Gesäßtasche steckte. »Ich habe einen Wagen.«

Nervös rieb ich mir die Hände und musterte meinen Bruder, der in dieser Schutzkleidung so fremd aussah. Gar nicht wie der Thomas, mit dem ich als Kind um das letzte Stück Kuchen gekämpft hatte.

»Bewaffnen wir uns«, sagte Kassandra entschlossen und zog eine Wäschetruhe unter dem Bett hervor. Doch statt hübscher Bettwäsche befanden sich darin Pistolen, Gewehre und sogar eine Armbrust. Ich deutete auf Letztere und sah meinen Bruder fragend an. Er schnappte sich die antike Waffe und grinste.

»Kennst du eine leisere Art, aus der Ferne zu töten?«, fragte er mich und ich bekam Angst.

»Hey, ich will niemand töten! Ich will nur meinen Freund wieder haben.«

»Dann bring uns zu den Balaurs«, sagte Kassandra in ruhigem Ton.

***

Frau Balaur öffnete die Tür, und obwohl es mitten in der Nacht war, war sie komplett angezogen. Hinter ihr stand ihr Mann Gerome und sah mich mit einer Mischung aus Erleichterung und Skepsis an. Die braunen Augen von Ilians Mutter musterten uns mit einer gehörigen Portion Angst.

»Lissy, was tust du hier?«, fragte sie, doch dann wirkte sie verwirrt. »Ich weiß, was du willst. Entschuldige. Aber zu der Uhrzeit? Ilian ist nicht hier.«

»Ich weiß, Mayla hat mir geschrieben, was passiert ist«, erklärte ich und Wissen blitzte in Frau Balaurs Gesicht auf. Gerome kam näher und stellte sich direkt hinter sie. Sein Blick musterte Kassandra und Thomas, deren Tattoos unter der Schutzkleidung nicht zu erkennen waren, dennoch schien den Dracheneltern in dem Moment ein Licht aufzugehen.

»Das hier ist mein Bruder Thomas und seine Freundin Kassandra.«

Frau Balaur nahm auf einmal eine abwehrende Haltung ein, schien sich förmlich vor den Eingang ihres Hauses zu stellen, um alle die darin lebten, zu beschützen.

»Soldaten des Ordens?«, fragte sie und sah mich enttäuscht an. »Du bringst den Orden in unser Haus?«

»Rabiya«, raunte Gerome von hinten, »vielleicht wollen sie uns helfen?«

»Wir sind gekommen, um den Freund meiner Schwester zu befreien«, erklärte Thomas mit fester Stimme. »Er hat Lissy das Leben gerettet und wir schulden ihm noch einen Gefallen.«

»Nicht mehr, nicht weniger«, fügte Kassandra fast gelangweilt hinzu.

Ungläubig musterte Ilians Mutter die drei Personen, die da in tiefschwarzer Nacht vor ihrer Haustür standen.

»Wo wohnt die Brutmutter?« Thomas' Stimme war ein glasklarer Befehl zur Antwort. Mit Leichtigkeit hob er die schwere Armbrust mit einer Hand an. Ich hatte beide gebraucht um sie im Auto auf die Ladefläche zu legen und dabei gestöhnt und geächzt wie eine Achtzigjährige.

»Was wollt ihr denn tun?«, fragte Frau Balaur und tauschte einen kurzen Blick mit ihrem Mann aus.

»Wir laden ihn in unseren Transporter und bringen ihn vorerst in Sicherheit«, antwortete Kassandra und ich sah die Angst in den braunen Augen, die Ilians so ähnlich waren.

»Ich passe auf ihn auf«, versprach ich. »Außerdem können Sie ihn ja jederzeit sehen.« Ich überlegte. »Na ja, außer Papa oder Carmen laufen Gefahr, ihn zu sehen.« Wir hatten vor Ilian in unsere nicht genutzte Garage zu stecken, bis er wieder ein Mensch war. Papa ging dort nie rein, weil dort Mamas Sachen lagerten und ich vermutete, dass ihm der Anblick ihrer Kleidung und der Duft ihres Geruchs, den diese immer noch in dem kleinen Raum verströmten, immer noch zu weh taten.

»Ich komme mit«, sagte Frau Balaur und straffte die Schultern.

»Gut«, meinte Kassandra und machte Anstalten aufzubrechen. Ilians Mutter kam heraus, drehte sich aber noch mal kurz zu ihrem Mann um.

»Denk daran, das Ei zu drehen!«

Gerome nickte, Angst in seinen Augen. Ich tat mich immer noch schwer mit der Vorstellung eines Babys im Ei. Lag bei den Balaurs tatsächlich ein Ei im Feuer, in welchem Ilians jüngstes Geschwisterchen schlummerte? Mir fiel ein, dass Frau Balaur ihren Mann wirklich liebte, im Gegensatz zu den anderen Drachenweibchen. Hatten sie deswegen so viele Kinder? Weil sie sich ihm gerne hingab? Der Gedanke wärmte einen Moment mein Herz, bis mich die Realität wieder einholte und Ilians Fehlen meine Haut mit einer eiskalten Schicht der Angst belegte. Frau Balaur führte uns über den kleinen Hof, an der Schaukel der Kinder vorbei, zu einem kleinen Haus mitten auf der Wiese.

»Überlasst mir das Reden«, befahl Thomas, als wir auf den Eingang zusteuerten.

»Wieso haben sie ihm eigentlich dieses Zeug gegeben?«, flüsterte ich leise in Frau Balaurs Ohr.

»Als Strafe.«

Ich sah sie fragend an. Sie tauschte einen kurzen Blick mit meinem Bruder aus, bevor sie antwortete.

»Wir können nur wenige Stunden in unserer Drachenform bleiben, ansonsten bekommen wir Hunger.«

Na toll, jetzt war ich noch verwirrter.

»Auf Menschen«, führte Kassandra das Gespräch zum Kernpunkt und erklärte somit alles. »Außerdem wird es so schwer für ihn zu fliehen. Er passt kaum durch die Türen und draußen würden Menschen ihn sehen.

»Und da ist noch etwas«, sagte Frau Balaur und blieb stehen. Kassandra, Thomas und ich starrten sie an.

»Sie will verhindern, dass Ilian sich an eine Menschenfrau bindet wie mein ältester Sohn. Ich wollte am Morgen zu euch kommen, um euch zu warnen. In drei Tagen hat Elyra geplant, Lissy zu entführen und sie meinem ausgehungerten Sohn vorzuwerfen, um das Problem für immer zu beseitigen und damit Ilians Willen zu brechen.«

Mir wurde einen Moment schwarz vor Augen. Deswegen hatte Thomas die ganze Zeit von einem Kühlwagen geplappert, den er am Vormittag besorgen wollte. Um Ilian dabei zu helfen sich zu verwandeln und ihn und uns damit vor seinem Hunger auf Menschenfleisch zu bewahren. Ich sah zu Thomas, dessen Miene plötzlich voller Wut war. Offensichtlich hatte er ebenfalls nicht damit gerechnet, dass man mich da mit hineinziehen wollte.

»Dieser Gedanke hat mich nicht schlafen lassen«, flüsterte Frau Balaur und sah über die Wiese hinweg zu ihrem Haus.

»Okay«, sagte mein Bruder mit schneidender Stimme. »Jetzt wird es persönlich.« In der Dunkelheit wirkten seine Augen pechschwarz, was ihn selbst für mich gefährlich aussehen ließ. Entschlossenen Schrittes ging er zur Tür und klingelte Sturm. Kassandra donnerte währenddessen mit der Faust gegen ein nahe liegendes Fenster. Es dauerte ein paar Minuten, bis Elyra mit fuchsteufelswildem Gesicht die Tür öffnete. Sie erkannte mich sofort und sah dann zu Frau Balaur.

»Rabiya?«, knurrte sie. »Was soll das?«

Thomas stellte sich vor Frau Balaur und zog den Ärmel seines Pullovers hoch. Die Augen der Brutmutter weiteten sich.

»Der Orden? Rabiya, du schleppst den ORDEN hier an?«

»Es sieht eher so aus, dass wir die Drachenfrau hier angeschleppt haben«, erklärte Thomas und hatte somit endlich die Aufmerksamkeit der Brutmutter, die es nicht gewöhnt war, einen Mann als Ansprechpartner zu haben. »Leutnant Schmidt«, stellte er sich knapp vor. »Spreche ich mit der Brutmutter dieses Nests?«

Elyra nickte mit funkelnden Augen.

»Ich muss Sie auffordern, den Gefangenen Drachen Ilian Balaur an uns zu übergeben.«

Die Brutmutter sah zu mir. »Woher kennst du den Orden, du kleines Miststück?!«

HALLO? Wütend krempelte ich den Arm meiner Jacke hoch und zeigte mein Tattoo. Geschockt sah Elyra zu Frau Balaur.

»Wusstest du das?«

Ilians Mutter sah sich unsicher um. »Nicht von Anfang an«, antwortete sie wahrheitsgemäß.

»Rabiya, du hast mich schon mit deinem Dean auf die Palme gebracht und da wagst du es, mir DAS zu verschweigen?«, fauchte Elyra und ich hätte schwören können, kleine Rauchwölkchen aus ihrem Mund aufsteigen gesehen zu haben.

»Elyra, ich lag im Krankenhaus«, wollte sich Frau Balaur gerade verteidigen, als mein Bruder eine Pistole aus seinem Gürtel zog und in die Luft schoss. Ich zuckte am ganzen Körper zusammen. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ein Schuss so laut sein konnte!

»Ich wiederhole mich nur ungern«, schrie mein Bruder fast. »Geben Sie den Gefangenen Balaur heraus oder ich sehe mich gezwungen, andere Maßnahmen zu ergreifen.«

»Niemals«, fauchte Elyra. »Ich werde Seiryū nur über meine Leiche an den Orden übergeben.«

Thomas seufzte gespielt. »Können Sie haben, zumal uns zu Ohren gekommen ist, dass sie einen Mordanschlag auf ein Ordensmitglied geplant haben.«

Elyra funkelte Frau Balaur an. »Judas!«, zischte sie.

»Konzentrieren Sie Ihre Wut lieber auf uns«, sagte Kassandra mit einem beißenden Lachen. »Die Balaur-Drachenfrau war nur klüger als Sie und hat uns gesagt, was wir hören wollten.«

In der Dunkelheit hinter der Brutmutter erschien eine zierliche Person, die sich schließlich im Licht der kleinen Lampe neben der Haustür als Audrina entpuppte.

»Lissy?«, krächzte sie verschlafen und trat vor ihre Mutter, um mich genauer anzusehen. Doch ehe die Brutmutter reagieren konnte, hatte Kassandra Audrina an sich gezogen und hielt sie im Schwitzkasten, eine Pistole direkt an ihrer Stirn. Ich konnte mich so gerade zurückhalten, laut NEIN zu rufen. Stattdessen sah ich Kassandra warnend an. Audrina war meine Mitschülerin, und auch wenn ich sie nicht mochte, wollte ich sie dennoch nicht tot sehen!

»Gebt mein Kind frei«, schrie Elyra und wollte sich auf Kassandra stürzen, doch mein Bruder war schneller und hielt ihr die Armbrust direkt auf die Brust.

»Ein Millimeter weiter und ein Pfeil steckt in Ihrer Brust«, brummte er mit tiefer, bedrohlicher Stimme. Oh je, das artete hier ja total aus! Thomas wandte sich an Ilians Mutter, ließ aber Elyra nicht einen Moment aus den Augen. »Holen Sie Ihren Sohn heraus und bringen Sie ihn zu unserem Wagen. Der Laderaum ist offen.«

»Wo sind die Schlüssel der Kellertür, Elyra?«, fragte Ilians Mutter mit zittriger Stimme. Die Brutmutter versprühte förmlich Gift mit ihren Augen.

»Im Küchenschrank rechts neben der Dunstabzugshaube«, antwortete sie zähneknirschend. Als Frau Balaur das Haus betrat, zischte sie noch hinterher: »Dafür wirst du brennen!«

Einen Moment war ich verwirrt. Feuer konnte Drachen doch nichts anhaben? Es musste also für etwas anderes, Gemeines stehen. Frau Balaur rannte hinein und ich sah, wie Kassandra sich mit Audrina im Arm neu positionierte. Weiter weg von der Brutmutter.

»Kommen Sie ja nicht auf die Idee sich zu verwandeln«, warnte sie. »Ich habe Ihrer Tochter eine Kugel in den Kopf gejagt, bevor Sie überhaupt die Möglichkeit haben, mich anzugreifen oder Feuer zu speien.«

»Feuerwaffen sind die schlechteste Erfindung von euch Menschen«, knurrte Elyra und brachte damit meinen Bruder zum Lachen.

»Das ist die klassische Win-Win-Situation. Ihr brennt uns das Gesicht weg, wir schaffen es aber noch mit einer kleinen Bewegung unseres Fingers euch zu erschießen.«

Ich sah mich in der Gegend um, ob der Schuss von eben nicht irgendwelche Leute geweckt haben könnte, doch ich sah niemanden. Alle Häuser, die hier in der Gegend standen, schienen den Drachen zu gehören. Sie hatten sich hier wirklich ein kleines Nest geschaffen.

Wenige Minuten, die mir aber wie Stunden vorkamen, vergingen, dann kam Frau Balaur wieder heraus. Alleine. Ängstlich starrte ich sie an.

»Er ist nicht hier!« Ihre Stimme bebte vor Angst und Sorge um ihren Sohn. Elyra lachte laut auf.

»Wo ist er?«, zischte Kassandra und ließ die Pistole an Audrinas Kopf klicken. Elyra schien das nicht zu stören, sie grinste weiter, als sich plötzlich etwas von oben auf Kassandra stürzte, die augenblicklich Audrina losließ und um sich schlug.

»DRACHE!«, rief Thomas und schoss auf das Tier, welches Kassandra in seinen Krallen hielt. Audrina und Elyra rannten jedoch ins Haus und schlossen die Tür hinter sich zu. Dann fiel ein Schuss und Kassandra prallte auf die Wiese. Thomas eilte zu ihr, als knapp neben mir ein brauner Drachenkörper zu Boden ging.

»Der Wächter der Brutmutter«, hauchte Ilians Mutter, die mich panisch an sich gerissen hatte. Ihre Hände verkrampften sich an meinen Oberarmen. »Ich will wissen, wo mein Sohn ist!«, schrie sie gegen die verschlossene Tür. »Gib ihn mir wieder oder wir verlassen noch in dieser Stunde das Nest!«

Ich sah zu Thomas, der Kassandra auf die Beine half. Sie hinkte ein wenig, wirkte jedoch ansonsten unverletzt. Mein Bruder zog sein Handy hervor und sprach ein paar Worte hinein.

»Dieses Nest hat dem Orden offen den Krieg erklärt«, rief er schließlich zum Haus hin. »Ihr habt zwei Tage Zeit, den Gefangenen herauszugeben und Rabiya Balaur als neue Brutmutter einzusetzen. Andernfalls werden wir jeden Drachen dieses Nests ausrotten!«

Die Tür flog auf und Elyra erschien. Wutentbrannt fixierte sie Thomas.

»Der Orden hat sich nicht in unsere Angelegenheiten einzumischen!«

»Wenn ihr Jäger angreift, sehr wohl«, konterte mein Bruder eiskalt, ohne auch nur eine Spur von Angst zu zeigen. Damit drehte er sich um und gab uns mit einer kurzen Geste seiner Hand zu verstehen, dass wir ihm folgen sollen.

***

Mayla saß mit Tränen in den Augen neben mir am großen Esstisch der Balaurs. Rabiya Balaur erhob seufzend ihren Kopf von der Tischplatte und nahm einen großen Schluck frisch aufgebrühten Kaffee, den mein Bruder und Kassandra noch kühl pusteten.

»Du könntest also Brutmutter werden?«, fragte Gerome.

»Ich habe meinem Chef alles geschildert und das sind die Forderungen des Ordens«, quatschte Thomas dazwischen.

Frau Balaur nickte müde. »Ich habe keine Zeit, mich über den Gedanken zu freuen, solange unser Sohn noch in den Fängen dieses Monsters ist.«

Ich sah zu Mayla, die gegen Schluchzer ankämpfte und dabei in einen Schluckauf geriet. Felicia saß mir gegenüber. Ihre Augen waren ängstlich aufgerissen und musterten die Tischplatte. Ehe ich wegsehen konnte, fing sie meinen Blick auf.

»Ich hätte nie gedacht, dass Elyra einem Drachen so etwas antun würde«, sagte sie und ich nickte. »Nicht mal dann, wenn er so dumm ist, sich mit Menschen einzulassen.« Na ja, das hatte ich dann mal überhört.

»Schon seltsam«, nuschelte Kassandra. »Da sitzen wir bei Drachen am Tisch und trinken Kaffee.«

Thomas sah sie an und beide lächelten einen Moment ungläubig, bevor jeder wieder für sich begann mit einem Löffel in der Tasse zu rühren.

»Zwei Tage sind viel zu lang!«, protestierte ich.

Thomas sah mich müde an. »Jetzt, wo wir erfahren haben, dass sie dich töten wollen, ist es Ordensangelegenheit geworden, und wir sind gezwungen, dem Protokoll zu folgen. Dieses besagt, dass wir ihnen zwei Tage Zeit lassen müssen, um sich zu beraten und zu sammeln.«

Das klang für mich alles nur nach Blabla. Ich wollte meinen Ilian wieder haben.

»Wo könnten sie ihn hingebracht haben, ohne dass wir es bemerkt haben?«, grübelte Gerome und strich dabei Mayla über den Kopf. »Ich meine, wir wohnen nun wirklich nicht weit von Elyra entfernt und einen Transporter hätten wir doch gehört?«

Frau Balaur zuckte mit den Schultern. Ein mechanisch klingender Schrei riss mich aus den Gedanken. Erst jetzt bemerkte ich das Babyphone auf der Arbeitsplatte der Küche. Roran war wach. Zum Glück konnte der kleine Wurm noch nicht verstehen, was mit seinem Papa war. Frau Balaur verschwand und kehrte kurze Zeit später mit Roran im Arm zurück. Sie setze sich wieder hin und gab dem Kleinen die Flasche.

»Es ist Fleischbrühe«, sagte sie schwach lächelnd, als sie meinen Blick bemerkte. Deswegen war Rorans Milch so bräunlich gewesen – von wegen Medizin. Ilian, der alte Lügner. Apropos Lügner, was das Menschenfleisch anging, hatte er mir auch nicht die Wahrheit gesagt. Oder hatte er es selbst nicht gewusst? Immerhin war er noch ein blutjunger Drache?! Ich beobachtete seine Mutter, wie sie sanft über Rorans Mahlzeit wachte.

»Ist es nicht merkwürdig, das eigene Enkelkind großzuziehen?«, platzte es aus mir heraus. Frau Balaurs warme, braune Augen beäugten mich geduldig.

»Nein, ich habe auch oft andere Drachenkinder hier. Wir sind da nicht so pingelig wie die Menschen. Selbst wenn Arva ihn großziehen würde, hätte ich ihn sicherlich auch sehr oft im Haus.« Sie küsste Rorans Köpfchen. »Er ist mein Fleisch und Blut.«

»Ja, das sieht man«, stimmte ich zu. Roran schlug genau wie Ilian nach Rabiya Balaur. Wenn ich sie so beobachtete, dann konnte ich mir gut vorstellen, dass sie eine gute Brutmutter wäre. Zumindest das Wort Mutter erfüllte sie so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Leider hatte meine lieber Drachen gejagt. Ich sah zu Thomas und las in seinen Augen ähnliche Gedanken, bevor er wieder zur Tagesordnung überging.

»Kassandra und ich schauen uns mal die Gegend an«, sagte er und erhob sich. Seine Freundin nahm noch einen Schluck vom Kaffee und folgte ihm.

»Wir sind spätestens in einer Stunde wieder da.« Er sah zu mir. »Kann Lissy kurz hier bleiben?«

Frau Balaur nickte und ich war erstaunt. Über meinen Bruder. Er ließ mich bei Drachen? Hatte er jetzt etwa doch kapiert, dass man den Balaurs trauen konnte? Mann, Mann, Mann.

»Lasst ihr mich mit Lissy kurz alleine?«, bat Ilians Mutter, nachdem mein Bruder und Kassandra weg waren. Die Balaurs nickten und erhoben sich.

»Ich will meinen Bruder zurück«, weinte Mayla leise, als sie sich von ihrem Vater aus der Küche führen ließ.

»Das wollen wir alle«, war die geflüsterte Antwort. Ich bekam Gänsehaut und atmete tief durch. Frau Balaur bat mich näher zu kommen. Da sie am Kopfende mit Roran saß, setzte ich mich auf einen Stuhl seitlich daneben. Angespannt sah ich die Drachenfrau an und wartete, bis sie das Wort ergriff.

»Lissy«, begann sie schließlich und hielt einen Moment lang inne, »ich möchte wissen, wie ernst du es mit Ilian meinst?« Was war das denn für eine seltsame Frage? Ich zog meine Stirn kraus und überlegte, wie ich der Mutter meiner großen Liebe klarmachte, dass ich ohne ihren Sohn nicht mehr sein wollte?!

»Ich frage nur«, setzte sie weiter an, »weil er … wir … eine Menge riskieren.«

Ah, daher wehte der Wind.

»Ich glaube eine Garantie gibt es nie, aber ich liebe Ilian. Von ganzem Herzen. Er war schon das ganze letzte Jahr mein heimlicher Schwarm.«

Frau Balaur grinste mich fröhlich an, bevor sich die Sorge wieder in ihr Gesicht stahl.

»Nachdem ich ihn dann richtig kennengelernt habe«, ich atmete tief durch, »ich will ihn um keinen Preis verlieren.«

Sie nickte verstehend und sah zufrieden zu dem kleinen Baby, welches gerade von der Flasche abließ.

»Möchtest du ihn klopfen?«, fragte sie, nachdem sie meinen sehnsüchtigen Blick gesehen hatte. Nur galt der mehr der Tatsache, dass Roran für mich gerade ein Stück weit Ilian war. Sein Sohn, ein Teil von ihm, den ich an mein Herz drücken konnte. Ich nickte und nahm ihr etwas ungeschickt das Baby ab, um es an meine Schulter zu legen. Der kleine Körper schmiegte sich an mich und ich genoss den Gedanken, Ilian in meinen Armen zu spüren. Das Bäuerchen ließ nicht lange auf sich warten und holte mich in die Realität zurück. Ilian würde wohl kaum in meinen Armen so – wobei, vielleicht doch. Ich musste ein wenig lachen.

»Ilian hat mir erzählt, wie du Roran ansiehst«, sprach Frau Balaur weiter. Sie hatte den Kopf schief gelegt und musterte mich. »Es ist schwer zu verstehen, was?«

»Ja, ich werde wohl nie wieder den kleinen Bruder in ihm sehen.«

»Ich schätze, dass Ilian das auch nicht tut.« Sie sah weg zum Fenster hinaus. »Er machte Andeutungen.«

»Welche?«, hakte ich neugierig nach.

»Nun, ich denke dass du ihm mit deinen Blicken auf den Kleinen Mut gemacht hast.«

»Wie jetzt?«

»Hast du mit ihm darüber gesprochen, dass er selbst Roran großziehen soll?«

Ich schüttelte meinen Kopf. Oder hatte ich das doch? »Vielleicht habe ich ihm gesagt, dass Roran seinen echten Vater braucht?« Meine Stimme war mit jedem Wort leiser geworden und ich erwartete schon von Ilians Mutter beschimpft zu werden, doch sie lächelte. »Mir ist nur aufgefallen, dass er«, ich sah zu dem Baby, »auf ihn reagiert.«

»Ich danke dir für diesen Denkanstoß, Lissy«, sagte Frau Balaur zu meiner Überraschung. »Wenn du es jetzt noch schaffst, ihm etwas Ordnung anzuerziehen, möchte ich, dass du sofort meine Schwiegertochter wirst.« Sie zwinkerte mir zu und wir lachten gemeinsam.

»Frau Balaur?«

»Bitte Lissy, nenn mich Rabiya.«

»Okay, Rabiya, glauben – glaubst du, dass die Brutmutter auf die Forderungen eingehen wird?«

Ilians Mutter legte mir eine Hand auf den Oberarm und strich mir beruhigend darüber. »Ich weiß es ehrlich nicht. Elyra war schon immer schwer einschätzbar.« Sie überlegte einen Moment. »Aber Lissy, glaubst du, dass dein Bruder wirklich jeden Drachen des Nests auslöschen will, wenn sie nicht … ?!« Sie traute sich nicht den Satz zu Ende zu bringen.

»Ich werde dafür sorgen, dass hier niemand gekillt wird.«

»Danke«, sagte Rabiya und lächelte unsicher.