Kapitel 6
»Scheiße!«, hauchte ich, als ich das blaue, schuppige Wesen musterte, welches mich aus weißen Augen mit schwarzer, geschlitzter Pupille ansah. Vorsichtig stand ich auf und ging näher heran. »Wie? Ilian?«
»Glaubst du uns jetzt?«, fragte mein Bruder mit amüsiertem Unterton. Ich muss gestehen, dass ich dafür keine Erklärung hatte. Da stand definitiv ein echsenartiges Tier vor mir.
»Ein Drache?«, fragte ich vollkommen perplex.
»Ja«, seufzte Kassandra. »Ein Drache.«
Irgendwie hätte ich mir einen Drachen ganz anders vorgestellt. Größer, haushoch – das Tier vor mir war vom Rumpf her nicht größer als Ilian selbst. Es war schwer zu sagen, da er auf allen vieren war. Das Einzige, was wirklich nach einem Drachen für mich aussah, waren seine Flügel, von denen jeder ausgefahren sicherlich riesig war. Zurzeit hatte er sie jedoch an der Seite seines alligatorähnlichen Körpers angelegt und irgendwie – wie soll ich es beschreiben? Gefaltet. Seine Beine waren allerdings nicht so kurz wie die eines Alligators und der Kopf hob sich durch einen Hals vom Rumpf ab. Das Gesicht hatte etwas unglaublich Schönes, Ehrfurchtgebietendes mit raubtierartigen Augen.
»Jetzt weiß ich, warum sie die Blauen so züchten müssen«, sagte Kassandra, die plötzlich neben mir stand. »Die Schuppen sind wirklich traumhaft schön.«
Ja, das waren sie wirklich. Das Blau reflektierte das Licht und ließ den Drachen in verschiedenen Schattierungen funkeln. Die merkwürdigen Augen beobachteten mich genau und versuchten in mir zu lesen. Leider konnte ich nicht dasselbe tun, denn der schuppige Kopf des Drachen blieb reglos. Ich fragte mich, wie wohl seine Zähne aussahen?
»Kann er Feuer spucken?«
»Das wird er uns HIER nicht demonstrieren!«, rief mein Bruder sofort.
»Also kann er es?«, schlussfolgerte ich richtig, denn Thomas nickte.
»Das können sie auch als Menschen«, sagte Kassandra, die vor Ilian in die Hocke ging und somit beinahe auf Augenhöhe mit ihm war. Der Drache war etwas größer, etwa Hüfthöhe bei einem durchschnittlich großen Mann.
»Ist dir noch nie Rauch in seiner Nähe aufgefallen?«, fragte sie.
Der Drache sah mich gespannt an, als ich den Kopf schüttelte. Wobei doch! Als ich Ilian geküsst hatte! Aber das musste weder mein Bruder, noch Kassandra wissen.
»Ich möchte nicht neben einem erkälteten Drachen stehen«, gluckste mein Bruder. »Brennbar zu sein, ist da nämlich nicht von Vorteil.« Thomas sah zum Fenster raus, da er anscheinend etwas gehört hatte. »Hoch mit ihm in dein Zimmer!«, rief er mir zu. »Carmen und Papa kommen mit dem Kuchen!«
Der Drache wirkte alarmiert. Ich raste ins Wohnzimmer, schnappte mir Ilians Klamotten und schoss die Treppe hoch, wohlwissend, dass er, gefolgt von Kassandra, hinter mir war. Sie hatte gerade die Tür hinter uns geschlossen, als ich hörte, wie mein Vater und Thomas sich überschwänglich begrüßten. Trulli und Egon flippten in ihrem Käfig total aus, als sie den Drachen sahen. Kassandra manövrierte Ilian in mein Bett und legte meine Decke über ihn. Gespannt sah ich zu, wie die Schuppen sich aneinanderdrückten und die Farbe wechselten. Es knackte und krachte, als sich seine Knochen zurückformten. Das klang so furchtbar und schmerzhaft, dass ich die Zähne fest aufeinanderbiss. Kopfschmerzen durchzogen sofort meine Schläfen. Die Augen des Drachens wirkten plötzlich, als würden sie brennen. Das Weiß begann rot zu glühen und es war mir, als hätte ich züngelndes Feuer und Funken darin erkannt, bis sie schließlich das vertraute, warme Braun annahmen. Mit jedem Knacksen seiner Knochen kam immer mehr von Ilian zum Vorschein. Ich bin wirklich nicht nah am Wasser gebaut, aber ihn so unter Schmerzen zu sehen, jagte mir fast die Tränen in die Augen.
»Keine Sorge«, sagte Kassandra. »Das wird mit jeder Verwandlung besser. Irgendwann kennen seine Knochen und Muskeln den Vorgang und wissen, was zu tun ist.«
Woah, Hilfe. Das konnte man sich nicht mit ansehen. Ich war heilfroh, als es aufhörte und nur noch Ilian da in meinem Bett lag. Langsam ging ich zu ihm herüber und sah in sein Gesicht. Genau wie seine Arme war es grün und blau, als hätte man ihn übel zusammengeschlagen. Das erklärte natürlich sein Aussehen damals, als ich ihn besuchen war.
»Alles klar?«, fragte ich mit gerunzelter Stirn. Ilian war anscheinend noch nicht fähig zu sprechen und stöhnte nur gequält. Kassandra legte mir eine Hand auf die Schulter.
»Wir müssen ihm etwas zu fressen besorgen, dass wird ihm Kraft geben.«
Ihre Wortwahl irritierte mich. »Zu fressen?«, wiederholte ich patzig. »Er mag vielleicht ein Drache sein – oder was auch immer, aber er ist doch kein Tier!«
Kassandra zog amüsiert die Augenbrauen hoch, als ich sie fragend ansah. »Du hast ihn gerade als Drachen gesehen und sagst mir, dass er kein Tier ist? Des weiteren möchte ich dich darauf hinweisen, dass Drachen sich auch in Menschengestalt ausschließlich von Fleisch ernähren.«
Was? Oh Mann, also doch keine Trennkost. Das erklärte so einiges. Es lag also nicht daran, dass die Perfekten nicht dick werden wollten, wenn sie Geburtstagskuchen ausschlugen. Es war einfach nicht ihr Ding.
»Trotzdem«, blieb ich hart. »Auch Fleisch ist Essen und kein Fressen.«
»Was habt ihr denn an Fleisch da?«
»Schinkenwurst.«
Kassandra lachte. Ja was denn? Wir konnten ihm ja schlecht das Hundefutter von Prinzessin geben.
»Lass uns runter gehen und deinen Geburtstagskuchen essen. Wir holen ihm später etwas.«
Es fiel mir unheimlich schwer, ihn hier zurückzulassen, doch sie hatte Recht. Ich konnte nicht riskieren, dass Papa hier im Zimmer auftauchte, und als Geburtstagskind war meine Anwesenheit nun mal gefragt.
***
Als ich nach einer endlosen Stunde mit Carmen, meinem Vater, Thomas und Kassandra allein wieder in mein Zimmer kam, schien Ilian gerade aufzuwachen.
»Hey!«, flüsterte ich und sah zu Trulli und Egon, die grummelnd im Käfig saßen und Ilian böse anfunkelten. »Die zwei mögen dich nicht.«
»Das tun die wenigsten Tiere«, antwortete Ilian mit kratziger Stimme. Er drehte sein Gesicht ins Kissen und raufte sich die Haare. Mann, hatte der Kerl Muckis in seinen so dünn wirkenden Armen. Holla, die Waldfee! Mir wurde bewusst, dass er splitterfasernackt in meinen Laken lag. Jammi, Balaur-Nudel meets Lissys Matratze. Da ging es meinem zerschundenen Gesicht doch gleich besser.
»Du musst mir echt ein paar Dinge erklären, bevor ich noch irre werde!«, sagte ich und setzte mich neben ihn auf mein Bett. Na toll, jetzt konnte ich nur daran denken, dass sein Ding irgendwo da lag, wo sonst mein Hintern sich bettete. Mensch Lissy, konzentriere dich, schimpfte ich mich innerlich selbst.
»Ich kann es mir schon fast denken«, begann er und drehte sich unter Ächzen und Stöhnen auf die Seite. »Arva und Roran, hmh?«
»Oh ja, zum Beispiel!«
Er seufzte und rieb sich über die Stirn. »Es gibt nicht mehr viele Drachen auf der Welt. Wir sind nicht mal mehr im dreistelligen Bereich. Aus dem Grund verlangen die Brutmütter von uns, dass wir frühzeitig anfangen uns fortzupflanzen.«
»Deswegen bist du jetzt schon Papa?«
»Na ja, es ist schwer zu erklären, aber du darfst das nicht mit menschlichen Maßstäben messen. Bei Kindern haben wir kein Gefühl von deins oder meins, sondern nur unser. Ich fühle, so hart sich das für Menschenohren auch anhören muss, für Roran nichts anderes als das, was ich auch für meine Geschwister fühle. Drachenkinder werden im Verbund großgezogen. Nur nach außen hin mimen wir ein menschliches Familienleben.« Gott, war das kompliziert. »Von daher ist es durchaus schon immer üblich gewesen, dass auch die Eier von noch recht jungen Drachenweibchen, die sich noch gar nicht verwandelt haben, befruchtet wurden.« Das Thema schien ihm unangenehm zu sein und er errötete irgendwo unter den blauen Flecken. »Es gibt keine Schwangerschaften bei uns. Das Ei wird gelegt und, wie dein Bruder schon richtig erklärt hat, im Feuer aufbewahrt, wo es früher oft zusammen mit vielen anderen Eiern reifte. Damals konnte man nachher gar nicht mehr sagen, welches von wem war. Bei Roran weiß ich es so genau, weil er alleine im Feuer lag.« Er zuckte mit den Schultern und bereute es sofort schmerzvoll. »Er ist für mich nichts anderes als ein Kind meines Nests, welches es zu schützen gilt.«
»Ja, aber ich finde das schon alles ein wenig krass. Ich meine, ihr Männer dürft nur ran, wenn die Olle rollig ist, oder wie?«
»Ähm ja, so könnte man es beschreiben.«
»Und du musst immer springen, wenn es bei Arva so weit ist?«
»Das klingt so grausam«, gluckste er. »Ich wurde Arva bereits bei ihrer Geburt zugeteilt, wir wuchsen zusammen auf, sind beste Freunde geworden.« Daher also das Bild an seiner Wand. »Arva und Milda sind ein Paar, sie lieben sich und ich – ich passe auf die zwei auf.«
»Was?«, kreischte ich fast. »Milda musst du auch besteigen?«
Ilian lachte und kam dadurch ins Husten. »Nein, Mildas Wächter war mein großer Bruder Dean.«
Ich seufzte verzweifelt. Das war alles ein schlechter Traum.
»Deswegen wohnen wir alle dort so nah beieinander. Wir passen gegenseitig auf uns auf und beschützen die Brut. Es mag für Menschen furchtbar klingen, aber für mich ist das normal.«
»Aber Dean ist doch jetzt verheiratet?!«
»Richtig.« Ilian wirkte verbittert. »Du hast ihn damals im Supermarkt getroffen, als er Fleisch für die Hochzeit gekauft hat, oder?«
Ich nickte.
»Er sagte mir, dass du ihn gefragt hast, warum er das nicht in der Metzgerei von Mildas Eltern geholt hat?«
»Ja, er sagte, dass sei eine lange Geschichte und ich glaube, ich weiß jetzt warum! Ist Dean jetzt nicht mehr Mildas Wächter?«
Ilian schüttelte seinen Kopf. »Die Brutmutter ist fuchsteufelswild deswegen und nur die Tatsache, dass die Balaurs einen blauen Drachen hervorgebracht haben, hält sie davon ab, uns zu verstoßen. Den Denkzettel hat natürlich meine Mutter stellvertretend für die Familie bekommen. Frauen haben bei uns nicht nur alle Rechte, sondern auch alle Pflichten und müssen für ihre Brut geradestehen, sofern man nachvollziehen kann, wessen Kind Mist gebaut hat. Je kleiner die Nester wurden, desto einfacher wurde dies jedoch über die Jahre.«
»Also habt ihr doch irgendwie einen Familienverbund?«
»Irgendwie schon, ja. Zu sagen, dass es uns nicht beeinflusst hat, so lange unter Menschen zu leben, wäre gelogen.«
»Und was ist mit Audrina? Wieso hat Arva vor ihr Angst? Und wieso hat Arva deswegen ihr Kind – ach ja, ihr habt ja kein Mama- und Papi-Gefühl, aber wieso ist er angeblich ein Kind deiner Eltern?«
Ein merkwürdiges Funkeln ging durch Ilians Augen und er wich meinem Blick aus. »Darf ich bei der Frage vorerst noch passen?«
Ich nickte, denn ich hatte noch genügend andere Dinge, die mir durch den Kopf schossen. »Und ihr esst nur Fleisch?«
»Als Kinder essen wir auch noch andere Dinge, aber spätestens kurz vor der Verwandlung fangen wir an, nur noch Fleisch zu essen. Die Jäger behaupten, wir würden Menschen fressen, das ist aber schlichtweg gelogen.« Seine braunen Augen sahen mich flehend an. »Bitte glaube den Mist nicht, Lissy. Ich weiß, Thomas ist dein Bruder, aber er ist im Orden und wird glauben, was dort über Drachen propagiert wird.«
Ich sah ihn einfach nur an, denn das konnte ich ihm nicht versprechen. Thomas war mein Bruder und wie könnte ich ihm nicht glauben, wenn er mir etwas aus tiefster Überzeugung sagen würde?
»Du hast also noch nie einen Menschen gefressen?«
»Nein«, Ilian schüttelte den Kopf, »ich kenne keinen Drachen, der das je getan hätte. Wirklich nicht, Lissy!«
Danach würde ich Thomas fragen müssen, aber ich bin ganz ehrlich: Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen! Mein süßer Ilian mit den Schokoladenaugen und den so verführerisch duftenden Haaren (Gott, roch der Kerl geil) sollte einen Menschen fressen? Neeeee! Um ihm zu beweisen, dass ich ihm vertraute, legte ich mich neben ihn. Na ja und in der Hoffnung ihm vielleicht etwas näher zu kommen. Ilian lächelte mich an, doch dieser Gesichtsausdruck verstarb sofort wieder, als er mein Gesicht genau betrachtete.
»Hast du Ärger bekommen, weil du mir zur Hilfe gekommen bist?«, fragte ich. »Danke übrigens dafür.«
Ilian musterte die Bettdecke. »Nein, nein, nicht wirklich. Dank meiner Färbung habe ich so eine Art Idiotenfreischein.«
Ich sah ihm an, dass er darüber nicht weiter sprechen wollte, sicherlich aus dem gleichen Grund, warum er über Audrina schwieg.
»Jedenfalls darf ich mir mehr erlauben als manch anderer.«
Ich lächelte ihn an und kuschelte mich an ihn heran. Etwas überrascht sah er mich an und legte dann einen Arm um meine Taille.
»Du erstaunst mich!«, gab er zu.
»Ich bin zusammengeschlagen worden und du kamst zu meiner Rettung. Drache hin oder her, ich habe das Bedürfnis, jetzt bei dir zu sein.«
»Ja, aber das ist nur passiert, weil ich dich verraten habe.« Er klang frustriert und von Selbsthass zerfressen. Ich strich vorsichtig über seinen Arm.
»Lass uns über was anderes sprechen«, seufzte ich.
»Worüber?«
»Du könntest mir einen Witz erzählen«, schlug ich vor. »Wenn es geht, einen versauten.«
Ilian brach neben mir in Gelächter aus. »Ich kenne keine Witze und erst recht keine versauten!«
»Als ob«, spottete ich. »Jeder Sackträger kennt anzügliche Witze!«
»Ich aber nicht.«
»Wieso? Hast du keinen Sack?« … Darf ich mal nachsehen?
»Ähm doch, aber …«
»Na dann, her mit einem Witz!«, unterbrach ich ihn.
»Mir fällt nur einer ein und der ist nicht wirklich versaut. Der geht nur in die Richtung.«
»Ilian, weniger rausreden, mehr Witze erzählen!«, brummte ich.
»Okay. Treffen sich ein Elefant und ein Kamel. Fragt der Elefant: Wieso trägst du deine Brüste auf dem Rücken? Sagt das Kamel: Dumme Frage für jemanden, der seinen Schwanz im Gesicht trägt!«
Ich schnappte mir eins meiner kleinen Kissen und schlug es ihm sanft ins Gesicht. »Ilian! Das war total schlecht!« Dennoch lachten wir beide.
»Hab ich doch gesagt«, verteidigte er sich.
»Gib dir ein bisschen mehr Mühe!« Ich rückte wieder etwas näher heran und mir wurde heiß. Zur Abwechslung lag das aber nicht an seiner Nähe alleine. »Strahlst du Hitze ab?«
»Ja, wir sind nach einer Verwandlung sehr heiß.«
ICH KONNTE NICHT ANDERS! Entschuldigung, aber – hallo? Steilvorlage! »Oh Ilian, du bist heiß?«, schnurrte ich gespielt lasziv. »Da kann man doch Abhilfe schaffen.« Ich wurde aus seinem Gesicht nicht schlau, aber zwei Gedanken schienen in seinem Kopf Ping-Pong zu spielen. Nummer eins: Oh mein Gott, rammel sie! Nummer zwei: Das war ein Witz, die verarscht dich! Er entschied sich für einen Mittelweg und lachte mich mit einem unglaublich anziehenden (oder eher ausziehenden) Blick in seinen Augen an. Vorsichtig lehnte er sich mit seinem Oberkörper mir entgegen, so dass unsere Nasenspitzen sich fast berührten.
»Du solltest es dir gut überlegen, bevor du einen Drachen steigen lässt«, raunte er mir entgegen. Ich spürte das Glühen seiner Haut auf meiner, obwohl wir uns kaum berührten. Mein Herzschlag legte heftig an Tempo zu, als ich ihn verwirrt ansah. Er zwinkerte mir zu.
»Oh mein Gott, ist das so eine Art Drachen-Insiderwitz für eine Latte?«
»Nein Elisabeth, mit Kaffee hat das nichts zu tun.« Der zog mich auf! Da lachte der mir frech ins Gesicht – in meinem Bett!
»Wenn ich so nackt wäre wie du, dann wäre ich vorsichtig damit, wen ich verarsche!«
»Warum bist du eigentlich nicht so nackt wie ich?« Das war ja wohl …! »Was ist los, Lissy? Du bist doch sonst so schlagfertig?!«
»Da wusste ich auch noch nicht, dass du ein Drache bist!«
Er legte seinen Kopf schief.
»Nachher beißt du mich oder so was.«
»Ihr Mädels guckt definitiv zu viel Vampirkram im Fernsehen. Und bevor du fragst: Nein, man kann nicht zum Drachen werden. Weder durch Biss oder sonst etwas. Und nein, wir sind nicht unsterblich. Wir leben und altern wie Menschen.«
»Woah, du sonderst eine Hitze ab, Herr Balaur!«
»Entschuldigung.« Damit zog er sich zurück. Leider.
»Oh Mann«, seufzte ich und starrte an die Decke. »Das war alles ein wenig viel die letzten Tage.«
»Das tut mir wirklich sehr leid, Lissy.«
»Hör auf dich zu entschuldigen.« Ich sah ihm in die Augen. »Es gibt jetzt nur eine Menge für mich zu verarbeiten. Nicht nur Mendels Rechte, sondern auch dass es Drachen gibt und meine Mutter und mein Bruder …« Ich traute es mich nicht so recht es in seiner Gegenwart auszusprechen, doch er nickte verständnisvoll.
»Ich glaube, ich kann mich schon wieder ganz gut bewegen. Wenn du möchtest, mache ich mich aus dem Staub.«
»Nein, nein, schon gut. Erst wenn du dir sicher bist, dass du es heil heim schaffst.« Wenn er nicht so vermöbelt aussähe, hätte Carmen ihn sicher gefahren, aber so konnte ich ihn ihr nicht zeigen.
»Danke, Lissy.« Er lächelte. »Würdest du mir mal meine Unterhose geben? Ich würde mich wohler fühlen, wenn zumindest meine Geschlechtsteile nicht nur von deiner Decke bedeckt wären.«
Jetzt musste ich lachen, erfüllte ihm aber den Wunsch. Dankbar nahm er das Kleidungsstück entgegen und zog es sich unter der Decke an. Schaaaaade, dachte ich.
»Hast du Hunger?«, fragte ich um das Schweigen zu brechen. »Kassandra meinte, du bräuchtest Fleisch, um wieder fit zu werden?«
Das schien ihn zu amüsieren. »Es hilft mir nicht beim Heilen, aber Hunger habe ich so gut wie immer.«
»Okay, Fleisch also. Ich glaube, im Kühlschrank ist nur Schinkenwurst?! Aber so ohne Brot?«
»Die kann man wunderbar rollen und als Snack essen.«
Oh Mann, ich musste mich wirklich an so einiges gewöhnen. »Warum esst ihr eigentlich in der Kantine, wenn ihr achtzig Prozent eurer Mahlzeit stehen lassen müsst?«
»Das war nicht immer so, erst als ich auf meinen siebzehnten Geburtstag – da verwandeln wir uns zum ersten Mal – zusteuerte, kam der Hunger nach Fleisch.«
Ich schluckte.
»Außerdem gaukelt es Normalität vor.«
Langsam erhob ich mich und ging zur Tür. »Kannst du gar nichts anderes essen?«
»Schon, aber es schmeckt mir nicht mehr.«
»Nicht mal ein ultraleckeres Stück Geburtstagskuchen?«
Er sah mich entschuldigend an.
»Schon gut, Schinkenwurströllchen also.«
Kennt ihr diesen Moment, wenn ihr in einem Laden seid, nichts kauft und dann zur Tür heraus an diesen Diebstahlsicherungen vorbeigeht und denkt: Woah, jetzt bloß nicht kriminell aussehen! Ungefähr so fühlte ich mich, als ich in die Küche ging, wo Carmen gerade die Spülmaschine einräumte
»Alles klar, Lissy?«
»Hmmmh«, fiepste ich viel zu hoch. Zum Glück schien Carmen in Gedanken zu sein. Schnell schnappte ich mir die Schinkenwurst, doch als ich gerade zur Küche hinaus wollte, hielt Carmen mich an.
»Was willst du denn mit der Wurst, Lissy?«
»Äh«, geriet ich ins Straucheln. »Auf mein Auge legen, wir haben ja kein Steak da, also dachte ich, die Dinger tun es auch.«
»Die gute Wurst! Nimm dir doch einen Kühlakku!«
»Ich esse die nachher dann auch«, rief ich und stürmte los, die Treppe nach oben. Im Zimmer blieb ich einen Moment hinter der Tür stehen und horchte, ob Carmen hinterher kam, um mir die Wurst abzunehmen. Aber es blieb still im Treppenhaus. Ilian sah mich mit einer Mischung aus Belustigung und Verwirrtheit an. Ich legte mich wieder neben ihn und reichte ihm meine Beute.
»Hmmh«, brummte er grinsend. »Abgepackte Wurst, Mensch Lissy, du hättest doch nicht gleich die gute Wurst holen müssen.«
Ich knuffte seinen Oberarm und er jaulte kurz auf. Geschah ihm recht.
»Entschuldigung, wir haben keine Freunde, denen eine Metzgerei gehört und ja, wir kaufen öfters mal abgepackte Wurst. Problem?«
»Nein, Elisabeth!« Dafür fing er sich noch eine. »Aua!«
»Iss deine Wurst, du Undankbarer!«
»Ja, Herrin!« Damit schnappte er sich eine Scheibe und stopfte sie sich komplett in den Mund. Oh Mann …
»Musst du Arva so ansprechen?«
Er verschluckte sich fast und hielt sich die Hand vor den Mund. Seine Augen funkelten amüsiert, als er den Kopf schüttelte. Vorsichtig setzte er sich auf und ich tat es ihm gleich.
»Nein«, sagte er, nachdem er runtergeschluckt hatte. »Du wirst es mir nicht glauben aber ich nenne sie – Arva!«
»Nein? Echt jetzt? Arva? Wie kommst du denn da drauf?«, stieg ich auf ihn ein. Irgendetwas in seiner Mimik sagte mir, dass ihm das gefiel.
»Keine Ahnung, ich habe mal nachts so herumgesessen und da dachte ich mir so: Arva! Mensch, das ist doch mal ein geiler Name!«
»Hast du nachts nichts Besseres zu tun? Schlafen? Masturbieren?«
»Nein, aber jetzt weiß ich, was du nachts so treibst.«
»Tjaha, stell dir vor, ich schlafe nachts.«
»Ich auch!« Er steckte sich wieder etwas Wurst in den Mund.
»Und wann masturbierst du dann?«
Er kaute und überlegte kurz. »Na, wenn ich in Spanisch neben dir sitze!« Der Schalk sprühte mir aus seinen Schokoladenaugen nur so entgegen.
»Dann machst du was falsch, denn ich habe noch nie verzückte Geräusche von dir neben mir gehört.«
»Vielleicht kannst du mir ja mal Nachhilfe geben?!« Er zog die Augenbrauen hoch und ich hätte ihn am liebsten geknutscht.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach diesen Moment, gerade als es überall anfing in meinem Körper zu kribbeln. Mein Bruder kam herein und sah Ilian und mich mit gemischten Gefühlen an.
»Kannst du wieder laufen?«, kam er gleich zur Sache.
Ilian nickte. »Ja, ich denke schon. Angenehm wird es nicht sein, aber es wird gehen.«
Oh nein, ich wollte nicht, dass er schon ging! Meine Freunde würden zwar gleich kommen, aber ich wollte einfach dass er blieb.
»Dann ist jetzt die Gelegenheit! Carmen und Papa sind bei den Nachbarn.«
Ilian setzte sich mit vor Schmerzen verzerrtem Gesicht in Bewegung. Ich holte seine Sachen und gab sie ihm. Nur mit großer Mühe schaffte er es, sich anzuziehen.
»Kannst du ihn nicht fahren?«, fragte ich Thomas, der gleichzeitig mit Ilian auflachte.
»Das wird er kaum wollen«, meinte mein Bruder und Ilian nickte. Da ging mir ein Licht auf. Klar, wieso sollte Ilian wollen, dass ausgerechnet ein Jäger ihn zu seinem Nest fuhr?
»Dann gehe ich mit ihm!«
»Lissy!«
»Nein Thomas, er ist mein Mitschüler, verdammt. Ich lasse ihn doch nicht so alleine durch die Stadt wanken!«
»Das geht schon, Lissy!« Ilian sah mich mit einem so himmlischen Lächeln an, dass meine Knie zu Pudding wurden. Oh mein Gott, ich hätte nicht gedacht, dass es noch schlimmer hätte werden können, aber Scheiße verdammt, ich war ihm hoffnungslos verfallen.
»Ach ja«, sagte er plötzlich, nachdem seine Jeans wieder da saß, wo sie hingehörte und griff in seine Hosentasche. Er holte etwas kleines, in bunt getupftes Geschenkpapier verpacktes heraus. »Herzlichen Glückwunsch.«
Ich nahm das kleine Bonbon-Geschenk entgegen und sah ihn erstaunt an. »Danke, aber das war doch nicht nötig, Ilian!« Herrje, ich hatte doch auch nichts für ihn gehabt. Mann, war mir das peinlich!
»Doch, in gewisser Weise schon.« Er sah zu Thomas. »Dein Bruder wird es dir erklären.«
Wie jetzt?
»Ja ja«, drängte mein Bruder. »Und jetzt raus mit dir, und ab sofort lassen du und deine Freunde die Finger von meiner Schwester oder ich erkläre euch alle für Freiwild.«
»Thomas!«, kreischte ich entsetzt. »Jetzt führe dich hier mal nicht wie Papa auf.« Wobei mein Vater so etwas nie getan hätte. Der war cool drauf im Gegensatz zu meinem Bruder.
»Schon gut«, sagte Ilian. »Aber leider kann ich dir das nicht versprechen, Jäger.« Er sah mir tief in die Augen. »Allerdings schwöre ich, dass ihr niemand mehr wehtun wird.«
Thomas sah mit einem wütenden Gesichtsausdruck zwischen mir und Ilian hin und her. Letzterer kam näher und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
»Bis Morgen, Geburtstagskind!«
Thomas und ich waren platt. Ilian lächelte triumphierend und verschwand durch die Tür.
»Was war das?«, fragte mein Bruder, doch ich konnte kein Wort sagen, weil in meinem Körper alles freudig kribbelte. »Und was ist in dem Geschenk?«
Ach ja, da war ja was. Ich öffnete vorsichtig die Stelle, an der das Papier mit einem kleinen Klebestreifen geklebt war. Ein Anhänger kam zum Vorschein. Es sah aus wie eine kleine, blaue Phiole, um die sich ein silbriger Drache wand.
»Ach du heilige Kacke«, raunte mein Bruder und betrachtete das Schmuckstück voller Ehrfurcht.
»Was ist es?«
»Lissy, du hast ja keine Ahnung!« Er sah sich um und nahm es mir dann vorsichtig aus den Händen. »Alleine der Anhänger ist ein Vermögen wert, aber für den Inhalt der Phiole könntest du dir ein großes Haus mit Garten, Pool und einer Garage für deine drei Luxusschlitten kaufen und dann würdest du immer noch mehr als genug Geld haben, um von den monatlichen Zinsen zu leben.«
»Häh?«
Er schraubte vorsichtig den Verschluss der Phiole auf. »Blaues Saphirglas, was nach Diamanten das zweithärteste Mineral ist und ein Drache aus Titanium. Man könnte den Anhänger getrost hinwerfen und dem kostbaren Inhalt würde nichts geschehen.«
»Ja, aber was ist denn da drin?« Drogen?
»Gemahlene Drachenknochen.«
»Bääääääääääääh!« Was schenkte mir Ilian denn da für einen makabren Scheiß?!
»Nicht bäääh, Lissy!«, ermahnte mich mein Bruder. »Du weißt ja, dass Drachen schnell heilen. Der Grund dafür liegt in ihrer Knochensubstanz. Eine kleine Prise reicht, um selbst die schlimmsten Knochenbrüche oder Verletzungen zu heilen. Aber selbst bei bakteriellen oder viralen Erkrankungen, ja sogar bei Krebs soll es helfen. Letzteres konnte nie bewiesen werden, da die Drachen selbst keinen Krebs bekommen können. Aber Erkältungen haben sie im Gegensatz zu uns Menschen binnen weniger Stunden überstanden.«
»Hätte es Mama retten können?«, fragte ich.
»Wenn der Orden so etwas Wertvolles dagehabt hätte, hätten sie es ihr zum Test gegeben. Mama war sehr beliebt.« Thomas nahm meinen rechten Zeigefinger und führte ihn an die Öffnung der Phiole. Vorsichtig kippte er mir ein wenig des weißen Pulvers auf die Kuppe. »Schnell, ablutschen!«
Ich tat, was er sagte, und schon wenige Sekunden später spürte ich ein Kribbeln in meinem Gesicht.
»Vielleicht ist morgen schon alles wieder verheilt.« Er verschloss die Phiole und gab sie mir zurück. »Verliere es bloß nie und geh sparsam damit um. Am besten, du versteckst es irgendwo, wo es sicher ist.« Thomas wirkte einen Moment nachdenklich. »Das war ein wahrhaft königliches Geschenk. Du musst ihm viel bedeuten, Lissy.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Das macht mir Sorgen.«
***
»Krass!«, staunte Conny. »Ich meine, es sah ja schon gestern Abend viel besser aus, aber heute – nur noch ein Schatten.«
»Du heilst echt schnell«, stimmte Mischa ihr zu.
»Das ist unmöglich?!« Leon war schon skeptischer. Unser Welpe sah mich mit seinem Ich-werde-mal-Doktor-Blick an.
»Kann ja nicht unmöglich sein, wenn es passiert ist«, tat ich die Sache ab und sah mich auf dem Schulhof um. Ich hatte Spanisch als Erstes und hatte gehofft, Ilian noch vor der Klasse zu erwischen. Anscheinend war ich dafür aber zu spät gewesen. Meine Freunde verabschiedeten sich, um in den Unterricht zu gehen, und auch ich nahm meine Klamotten und ging zu dem kleinen Nebengebäude in der Nähe des Parks. Ein wenig hatte ich ja gehofft, Ilian auf der Mauer anzutreffen, aber der Platz war von anderen Schülern besetzt. Ich blieb stehen und atmete noch einmal tief durch. Meine Gedanken schweiften zur vergangenen Nacht. Es war lange her gewesen, dass ich das letzte Mal wegen etwas geweint hatte. Doch dieses Mal hatten ein paar Tränen ihren Weg nach draußen gefunden. Ich war verzweifelt. Während ich vor ein paar Tagen geglaubt hatte, unsterblich in Ilian verliebt zu sein, dann war das erst der Anfang gewesen. Ich hatte ihn als den stillen, süßen Mitschüler gemocht. Als Facebook Freund war er ein Abenteuer. Doch jetzt … Ilian Balaur, Drache, Bücherwurm, Chaot, Aquariumbesitzer, Schreiberling und … Vater. Scheiße man, ich liebte diesen Kerl. Seine Nähe machte mich süchtig. Ich sah hinunter auf mein Tattoo und wünschte mir, ich hätte es nie stechen lassen. Nein, das war richtig gewesen! Wenn ich mich in Ilians Nähe aufhalten wollte, dann war es vielleicht ganz okay, wenn man mich nicht für leichte Beute hielt. Oder? Ich schüttelte den Gedanken ab und ging ins Gebäude. Die Kühle drinnen empfing mich und ich seufzte erleichtert auf. Einen kurzen Moment zögerte ich, bevor ich den Klassenraum betrat, doch dann fasste ich meinen Mut zusammen und wurde direkt von Ilians braunen Augen empfangen. Arva saß auf seinem Tisch und drehte ihren Kopf in meine Richtung. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, wie ich den beiden, insbesondere Arva, begegnen sollte, also flitzte ich auf meinen Platz und murmelte ein müdes »Morgen!«.
»Hey Lissy«, hörte ich Arva, bevor sie zu ihrem Platz ging. Ilian packte seinen Tisch und rutschte zu mir herüber. Sein Gesicht kam ganz nah an meines.
»Guten Morgen, Elisabeth«, flüsterte er in mein Ohr.
»Elisabeth?«, äffte ich ihn nach. »Junge, bist du auf Streit aus?«
»Mit dir? Immer!« Er lachte. »Ich weiß, du hasst deinen Namen, aber kannst du das für mich nicht einfach mal so stehen lassen?«
Ich zog die Augenbrauen hoch und sah ihm tief in die Augen. »Es gibt so einiges, was ich bei dir nicht einfach so stehen lassen würde«, ich zwinkerte ihm zu und er rutschte kurz nervös in seinem Stuhl hin und her, »und mein Name gehört dazu. Lissy! Nicht Elisabeth!« Ich wünschte mir so sehr, ihn zu küssen, dass es schon wehtat.
»Wie ich sehe, hat Thomas dir mein Geschenk erklärt?«
Ich nickte und biss mir auf die Unterlippe. »Wieso schenkst du mir so etwas Wertvolles?«, flüsterte ich, wohlwissend, dass mittlerweile der ganze Kurs zu uns herüberstarrte.
»Weil DU wertvoll bist!«
Der Lehrer kam herein und unterbrach uns. Ilian rutschte jedoch nicht wieder zurück und blieb einfach direkt neben mir sitzen. Was tat ich hier eigentlich? Seufzend lehnte ich meinen Kopf in meine Hand. Ilian und ich hatten keine Zukunft. Er war ein Drache und musste seinen Pflichten nachkommen. Seine Schuppenfarbe verbot ihm sicherlich ein Leben wie das seines Bruders Dean und teilen würde ich ihn niemals können. Ich konnte und wollte nicht darüber hinwegsehen, dass er mit Arva schlafen musste und Kinder mit ihr zeugte. Roran war schon genug, denn auch wenn Ilian nicht so empfand, so war der Kleine für mich sein Sohn. Nicht irgendein Drachenkind. Nein, Ilians Fleisch und Blut. In Zukunft würde ich in Rorans Augen nicht mehr das Braun der Balaur Familie sehen, sondern Ilian. Ob Ilian für mich seine Aufgabe als Arvas Wächter aufgeben würde? Konnte er das als blauer Drache? Gott, empfand er überhaupt das Gleiche oder war ich nur ein Abenteuer für ihn? Ich sah zu ihm herüber. Seine Augen verfolgten aufmerksam das Geschehen an der Tafel, bis er meinen Blick bemerkte. Besorgt und fragend kräuselte sich seine Stirn. Ich öffnete mein Schreibheft auf der letzten Seite und nahm meinen Füller in die Hand.
Was ist da zwischen uns? Und wie geht es weiter? Geht es weiter?
Er studierte eine Zeit lang meine Nachricht und nahm dann seinen Kulli. Zu meinem Erstaunen tauchte er mit seinem rechten Arm unter meinem Linken hindurch und öffnete die Innenfläche meiner Hand. Er musste sich etwas vorlehnen, um in sie hineinzuschreiben. Ich spürte den Kulli kribbelnd auf meiner Haut, und als er fertig war, schloss er meine Hand, als hätte er etwas unheimlich Wertvolles in sie hineingelegt. Mit seiner freien Hand streichelte er kurz über die geschlossene Faust. Langsam zog er sich zurück und ich starrte eine Zeit lang auf die Finger, die Ilians Nachricht bedeckten. Als ich die Hand öffnete, sah ich, dass er mir tatsächlich etwas unbeschreiblich Wertvolles hineingelegt hatte. Etwas, das man nicht mal mit allen Drachenknochen der Welt bezahlen konnte. Sein Herz.
Estoy enamorado de ti
Ich schluckte schwer und ballte meine Faust wieder zusammen, um die vier kleinen Wörter vor der Außenwelt zu schützen. Ich bin in dich verliebt. Seine Augen sahen mich ratlos an. Er wusste selber nicht, wie es weitergehen sollte, aber er fühlte das Gleiche wie ich und das sollte mir vorerst genügen.
***
In der Kantine konnte ich nur seufzend in meinem Essen stochern, bis endlich Ilians Clique den Saal betrat. Meine Freunde und ich sahen sie abschätzend an. Ich fragte mich, ob ich von Mendel oder Audrina in irgendeiner Art eine Entschuldigung erwarten durfte?
»Da kommen ja die Schläger«, brummte Leon.
»Im Grunde war es ja nur Mendel«, sagte Mischa.
»Die sollten sich alle schämen! Außer diesem Balaur hat keiner was getan, um Mendel zu stoppen.« Leon war echt stinkig, dabei war ich diejenige gewesen, die Bekanntschaft mit einer Drachenfaust gemacht hatte. Gott, im Nachhinein kam mir die Nacht so surreal vor, als hätte ich sie gar nicht selber erlebt, sondern hätte das alles nur in einem unglaublich schlechten Film gesehen.
»Ilian steuert auf uns zu«, warnte Conny und ich zuckte zusammen. Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, meinen Freunden zu sagen, dass … ja was? Waren Ilian und ich jetzt zusammen? Er schien das jedenfalls so zu sehen und blieb mit seinem Tablett neben mir stehen.
»Darf ich mich zu euch setzen?«, erklang seine liebevolle, warme Stimme.
»Wenn es unbedingt sein muss«, knurrte Leon. Ilian nahm sich einen freien Stuhl und schob ihn zwischen mich und Mischa. Ich sah auf seinen Teller. Bratwurst mit Fritten, genau wie ich. Kurzerhand spießte ich den Rest meiner Wurst auf und verfrachtete sie auf seinen Teller. Dafür klaute ich mir gleich ein paar Fritten. Meine Freunde beobachteten das Schauspiel mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Haben wir was verpasst?«, fragte Conny und grinste mich frech an.
»Ja, Elisabeth?«, fiel Ilian mit ein und ich knirschte mit den Zähnen. Und dem hatte ich meine Bratwurst gegeben. »Habe ich was verpasst?«
»Schon vergessen?«, fragte ich und zeigte ihm meine linke Handfläche.
»Ah ja und das befugt dich, meine Fritten zu klauen?«
»Okay, dann gib mir meine Bratwurst wieder, du Arsch!«
Ilian lachte belustigt, spießte meine Bratwurst auf und biss ab.
»Lissy? Hallo?«, gluckste Conny. »Update bitte!«
»Ähh«, begann ich und suchte nach den passenden Worten, um meinen Freunden klarzumachen, dass der Feind uns infiltriert hatte. Ich glaube, es verging eine geschlagene Minuten, in der mich alle nur anstarrten, dann lachte Ilian.
»Äh umschreibt das Ganze schon sehr poetisch, Elisabeth.«
»Was denn? Du hast mich nicht offiziell gefragt, ob ich mit dir gehen möchte!«, schimpfte ich und in Connys Kehle hörte ich ein freudiges Quietschen anrollen, das ganz leicht zu einem hysterischen Kreischanfall anschwellen konnte.
»Nein, das stimmt«, lenkte Ilian ein, doch der Schalk funkelte in seinen Augen. »Doch ich muss zugeben, dass ich davon ausgegangen bin, dass wir zusammen sind, nachdem du mir quasi angeboten hast, dich um meine Erektionen zu kümmern und ich dir daraufhin meine Liebe gestanden habe.« Er überlegte kurz lachend. »Wenn man das so im Zeitraffer hört, kommt einem mein Liebesgeständnis irgendwie fragwürdig vor?!«
Ich ließ meinen Kopf gegen seine Schulter plumpsen und lachte verzweifelt in mich hinein. Zum Glück war ich nicht so pingelig, sonst wäre ich jetzt hochrot geworden. Conny kreischte wie eine Irre und trommelte dabei auf den Tisch. Als Ilian meinen Kopf dann anhob, um mich zu küssen, flippte meine beste Freundin vollkommen aus. Ich wollte gerade in seinem rauchig aromatischen Geschmack ertrinken, als er lachend von mir abließ und zu Conny sah, die eine Art Fruchtbarkeitstanz aufführte.
»Ähh?«
»Sehr poetisch, Ilian«, zahlte ich es ihm heim. »Mach dir keine Sorgen um die. Das ist normal!« Ich konnte es nicht glauben, sollte er wirklich mir gehören? Mir ganz alleine? Nein, ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus und sein Name war Arva.
»Im nächsten Leben werde ich ein Wurm. Blind und taub, da ist einem nichts peinlich«, sagte ich mit Blick auf Conny, die immer noch, mittlerweile im Sitzen, tanzte.
»Ich werde ein Löwe«, sagte Ilian. »Fressen, bumsen und eine geile Frisur!«
Ich verschluckte mich an der Fritte, die ich mir gerade in den Mund gestopft hatte. Hustend würgte ich sie wieder hoch, um sie erneut herunterzuschlucken.
»Geht doch, Ilian!«, lobte ich ihn und klopfte seine Schulter. »Ich wusste, du hast versaute Witze drauf.«
»Ich habe mich gestern extra bei Facebook für dich schlaugemacht«, sagte er grinsend.
»Reizend von dir.«
»So bin ich.«
Dieses Mal zog ich ihn zu einem Kuss an mich heran. Er schmeckte so wunderbar, so rauchig scharf. Ganz anders als ein Mensch. Es war, als könnte ich das Feuer in ihm spüren. Seine Lippen waren so sanft und fordernd, dass es mir schwer fiel, ihnen zu wiederstehen. Doch ich tat es, als Arva an unseren Tisch trat.
»Audrina will dich sehen, Ilian!«
Mein frischgebackener Freund folgte dem Befehl der Tochter seiner zukünftigen Brutmutter und ich sah ihn für den Rest des Tages nicht mehr.
***
Liebes Tagebuch,
salzig und warm.
Ich schmecke sie noch immer. Ihre Lippen.
Fühle ihren Atem an meinem Ohr.
Rieche ihren Duft.
Ich sehne mich nach ihr.
Bin zu Hause, obwohl ich meinen Pflichten als Wächter nachkommen sollte. Ich kann nicht. Es geht nicht. Jetzt nicht mehr.
Ein Kuss aus Liebe hat alles verändert.
Ich würde eher durch die Hölle gehen, als dieses Gefühl in mir zu entehren.
I.