Kapitel 15

»Bleibst du heute Abend bei Cola?«, fragte Conny meinen Freund mit ungläubig in Falten gelegter Stirn. Er gefiel mir nicht, er grübelte zu viel. Irgendwie musste sich seine Laune doch heben lassen?

»Ist besser so«, antwortete Ilian und zwinkerte ihr zu. »Vertrau mir.«

»Habt ihr zwei noch was geplant?« Connys Gesicht glühte und das lag nicht nur am Alkohol, sondern auch an einem netten, jungen Jäger, der uns gerade etwas aus unserem Naturkühlschrank, dem Rhein, holte.

»Ja Ilian, haben wir zwei noch etwas geplant?«, wiederholte ich die Frage und grinste ihn dabei an. Er sah so gut aus in diesem hellblauen, engen T-Shirt, der ausgefransten Jeans, die so tief hing, dass man den Bund seiner Boxershorts erkennen konnte. Seine Schuhe standen neben meinen, ein paar Meter entfernt, da wir uns den Sand darin ersparen wollten.

»Ich weiß nicht«, überlegte er, »wie wäre es mit rhythmischer Sportgymnastik?«

Ich boxte ihn auf den Oberarm, doch Ilian lachte nur vielsagend. Schon besser!

»Du hast eine Macke, du Sack!«, gluckste ich.

»Nein Lissy, erstens ist das keine Macke, sondern ein Special Effect und zweitens bin ich kein Sack. Ich habe nur einen. Einen Hodensack genauer gesagt. Darin befinden sich …«

Ich hielt ihm den Mund zu. »Ja da, ja da, das wissen wir alle.«

»Also ich nicht«, spielte Conny die Unschuld vom Lande. Ich rollte mit den Augen und sie lachte.

»Spar dir den Kommentar, Lissy.« Sie sah zu André, der gerade mit schüchternem Blick an dem knutschenden Pärchen Mischa und Leon vorbeiging.

»Habe ich was verpasst?«, wollte er wissen und sah fragend in die Runde. Conny und ich schüttelten den Kopf, doch Ilian schien plötzlich in Plauderlaune zu sein.

»Die Mädels haben über Hoden gesprochen«, plapperte er und grinste. André wirkte einen Moment verschüchtert, fing sich dann aber schnell wieder.

»Frauen sind im Stillen doch viel perverser als Männer«, grübelte er laut und versuchte sich an einem kleinen, unsicheren Lächeln.

»Hättet ihr wohl gerne«, raunte ich und sah zu Ilian, dessen Blick wieder ernst geworden war. Seit ich am Abend duschen gewesen war, schien ihn etwas zu betrüben. Ich stand auf und hielt ihm meine Hand hin.

»Gehen wir ein kleines Stück?«

Ilian sah sich unsicher um und auch André schien von der Idee nicht gerade begeistert zu sein.

»Es passiert schon nichts. Wir entfernen uns nicht weit, okay?«

Ilian stand ebenfalls auf und nickte. Für André schien damit die Sache in Ordnung zu sein. Ich ergriff Ilians warme Hand und ging mit ihm herüber zu den Steinen, wo wir unsere Schuhe gelassen hatten. Das Strandstück war nicht besonders groß, weswegen wir auf den kleinen Weg oberhalb wechselten. Es war ziemlich dunkel, nur ein paar schwache Laternen und die Lichter der Häuser auf der anderen Seite des Rheins erleuchteten uns die Dunkelheit. Auf der anderen Seite säumten ein paar Bäume den Weg und raschelten beruhigend im lauen Sommerwind. Ich lehnte mich im Gehen gegen Ilian, der seinen Arm um mich legte und damit meine Haut mit einem Schauer überzog.

»Was ist los mit dir?«, wollte ich wissen, als wir ein paar Meter weit gegangen waren.

»Was du da zu Roran gesagt hast«, begann er, »war das dein Ernst?«

»Ja, natürlich«, seufzte ich. »Er gehört zu dir.«

»Genau wie du.«

Ich lächelte und strich mit einer Hand über seinen Oberkörper, fühlte die Hitze seiner Haut durch den dünnen Stoff seines T-Shirts.

»Deswegen müssen wir drei jetzt besonders gut zusammenhalten.« Ilian küsste meinen Scheitel und gab mir damit zu verstehen, dass er unendlich dankbar war. Ich überlegte ihm zu sagen, was Arva mir gebeichtet hatte, doch ich wollte den schönen Abend nicht zerstören und hielt das eher für ein Thema, welches man tagsüber ansprach.

»Du glaubst gar nicht, was mir das bedeutet.«

Doch, ich ahnte es.

»Und dass du dich mit Arva versöhnt hast.« Wir hielten kurz an und Ilian ergriff meine Hände. »Lissy, ich möchte, dass du weißt, dass du vielleicht nicht die Erste gewesen bist, die ich geküsst habe, aber du wirst definitiv die Letzte sein.« Er kam näher an mich ran. Ich sog seinen Duft nach würzigem Rauch ein und streckte mich einem sanften Kuss entgegen.

»Du oder keine.« Ilian legte den Arm um mich und zog mich weiter den Weg entlang. Der Rhein schwappte wie flüsternd gegen die Steine, die sein Flussbett säumten.

»Sie ist nicht so, wie ich gedacht hatte«, gestand ich ehrlich. »Arva. Ich kann sie jetzt einschätzen, glaube ich zumindest, und das beruhigt mich.« Ich seufzte bei dem Gedanken daran, was diese Drachenfrau auf ihren Schultern trug. Sie musste Ilian ehrlich und aufrichtig lieben, als Freund. »Außerdem hat sie mir schicke Nägel gemacht.«

Ilian murmelte leise etwas über Frauen vor sich hin, was ich nicht komplett verstanden hatte. Wir blieben erneut stehen und er zog mich zu einem weiteren Kuss an sich heran. Gott, warum roch dieser Kerl nur so gut? Würzig, warm und knisternd wie Feuer. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und strich mir zärtlich mit den Daumen über die Wangen.

»Ich habe gedacht, dass Liebe für mich immer unerreichbar sein würde. Dass sie mich entweder nie treffen oder, noch schlimmer, mich mit einem endlos schmerzenden Hunger nach ihr zurück lassen würde.« Er nahm meine rechte Hand und legte sie über sein Herz. »In meiner Welt ist es mir nicht erlaubt zu lieben.«

»Was für eine traurige Welt«, flüsterte ich und spürte sein Herz gegen meine Hand pochen.

»Ich möchte dir danken, Elisabeth.«

Ich sah ihn fragend an. In der Dunkelheit waren seine Augen pechschwarz.

»Dafür, dass du mich, trotz all der Gefahren, die mein Dasein als Drache mit sich bringen, in dein Leben gelassen hast.«

Ich presste die Lippen aufeinander und sah betreten weg. Hoffentlich würde dafür seine Familie nicht mit dem Leben bezahlen. Ich wollte gerade etwas sagen, da wurde Ilian unruhig und suchte ängstlich die Gegend um uns herum mit seinen Augen ab.

»Was ist?«, fragte ich.

»Mir war, als hätte ich etwas gehört.« Seine Hände zitterten und sein Herz schlug doppelt so schnell.

»Dann lass uns zurückgehen, okay?« Die Dunkelheit um uns herum erschien mir plötzlich bedrohlich. Wie eine Decke aus Blei, die uns zu ersticken versuchte und jeden Versuch, um Hilfe zu schreien, abschirmte. Ilian begann mich nervös an sich zu ziehen.

»Lass uns gehen«, flehte ich erneut.

»Es ist jemand hier«, hauchte er kaum hörbar. Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Wir konnten es wegen der Dunkelheit nicht kommen sehen, aber ein Drache stieß aus den Bäumen hervor und griff sich Ilian. Ein weiterer war auf einmal hinter mir und vergrub seine Klauen in mich. Ich schrie vor Schmerzen auf. Heißglühende Blitze durchzuckten meinen Körper von meinen Armen und Rumpf aus, wo der Drache mich gepackt hatte. Er hielt mich einfach nur fest, während seine Flügel neben mir zu schlagen begannen. Ganz leicht, wie eine Feder, hob er mich vom Boden ab und zog mich über den Rhein. Ich konnte gerade noch sehen, dass Ilian sich ebenfalls verwandelt hatte, als ich in die reißende Strömung des riesigen Flusses geworfen wurde.

Nasse Kälte umfing meine noch immer von der Sonne aufgeheizte Haut und ich spürte, wie mich ein Strudel nach unten zog. Davor war ich schon als Kind gewarnt worden. Papa hatte Thomas und mir immer verboten im Rhein schwimmen zu gehen, da er Angst hatte, dass uns die Strömung oder einer seiner bekannten Strudel nach unten zog. Ich schrie und kämpfte mich nach oben, während ich immer weiter weg gezogen wurde. Meine einzige Chance war es, zurück zum Ufer zu schwimmen, doch bis dahin würde ich Kilometer weit weg sein.

Plötzlich hörte ich ein unheimliches Kreischen irgendwo über mir. Ich sah nach oben und erblickte Ilian – als Drache. Seine blauen Schuppen schimmerten im Mondlicht wie tausend Saphire. Er kam näher an mich heran und zog mich mit einem Ruck aus dem Wasser. Panisch und wimmernd klammerte ich mich an ihn und bemerkte erst dann, dass die anderen Drachen immer noch hinter ihm her waren … und er blutete. Ein schwere, heiße Flüssigkeit sickerte aus seinem Bauch auf mich herab. Er schaffte es gerade, mich am Ufer abzusetzen, bevor sich einer der Drachen auf ihn stürzte.

Ich landete unsanft in einigen Büschen, die augenblicklich meine Kleidung und meine Haut zerkratzen. Mir kamen die Tränen, vor Wut und Verzweiflung, während ich versuchte, aus ihnen herauszukommen. Ich fühlte mich wie fremdgesteuert. Angst hatte sich tief in meine Knochen gebohrt, doch ich hatte keine Zeit, mich ihr hinzugeben.

»Ilian!«, rief ich immer wieder. »Ilian!«

»Lissy?« Es war Connys Stimme, die da voller Panik nach mir rief. »Wo bist du?«

Die Panik hatte ihre Hände um meinen Hals gelegt und schnürte mir die Stimme ab. Unfähig zu antworten, stolperte ich in die Richtung, aus der ich die Rufe meine Freunde hörte.

»Sie ist hier!« Das war André. Jemand packte nach mir, es waren zwei Paar Hände. Sie zogen mich hoch und zurück auf den Weg am Ufer. Leons Augen betrachteten mich panisch, als Conny und Mischa ihn und André einholten. Ich suchte den Himmel ab, doch ich konnte Ilian oder einen der anderen Drachen nirgendwo erkennen. André hatte sein Handy gezückt.

»Wir haben einen Angriff«, erklärte er. »Zwei fremde Drachen haben deine Schwester und Ilian angegriffen. Lissy ist in Sicherheit, aber Ilian kämpft hier noch irgendwo.«

Ich schluckte und begann zu zittern. Nass und blutend begann ich zu laufen.

»Ilian!«, rief ich wieder. Meine Freunde nahmen meine Verfolgung auf.

»Lissy, jetzt bleib doch stehen!«, flehte mich Conny an. »Du blutest!« Sie holte mich ein und deutete auf meinen Bauch.

»Nein, das ist von Ilian«, erklärte ich hastig. »Ilian!?«

»Kann mir einer erklären, was hier los ist?«, forderte Leon, der die wimmernde Mischa an der Hand hielt. Ich wollte gerade meinen Mund öffnen, als ich den Schrei eines Drachen hörte.

»DA LANG!«, rief André, steckte das Handy ein und zog eine Waffe aus seiner Hose. Wir mussten nicht weit laufen, da rollten auf einmal zwei kämpfende Drachen vor unsere Füße. Wo war der dritte? Ein grüner Drache hatte den blauen zu Boden gerungen und öffnete sein riesiges Maul, um Ilian in die Kehle zu beißen. Ich schrie und André hob seine Waffe. Es gab einen Trommelfell zerreißenden Knall und der grüne Drache kippte zur Seite weg. André hatte ihm direkt in den offenen Mund geschossen. Präzise und tödlich.

»Wo ist der andere?«, knurrte er und hielt mich fest. »Bleib hier Lissy, er wartet vermutlich auf dich.«

»Ich muss zu Ilian!«, schrie ich unter Tränen. Conny und Leon kamen André zu Hilfe und hielten mich fest. Beruhigt stellte ich fest, dass Ilian sich aufrappelte. Ein klagender Laut kam aus seinem Maul, als er sich auf die Füße stellte. Seine Flügel begannen zu schlagen und er hob ab. Wo wollte er hin?

»Er weiß vermutlich, wo der andere ist«, sagte André und folgte dem im Mondlicht blau schimmernden Drachen mit den Augen. Es dauerte nicht lange und Ilian wurde von einem, wie ich nun erkannte, rotbraunen Drachen erneut aus der Luft geholt. André schoss, doch verfehlte.

»Scheiße!«, fluchte er, zog einen Dolch und rannte los. Nichts und niemand hätte mich mehr halten können. Ich befreite mich ruck- und schmerzhaft aus Leons Umklammerung und lief André hinterher. Ilian und der rotbraune Drache kämpften miteinander, und als wir ankamen, hatte der fremde Drache dem blauen eine Kralle ins rechte Auge geschlagen. Die Luft presste sich aus meinen Lungen und es war, als würde sich ein roter Schleier über meine Sicht ziehen. Entschlossen griff ich nach Andrés Waffe, die er sich in die hintere Hosentasche gesteckt hatte, zielte und schoss dem rotbraunen Drache in die Klaue, die in Ilians Auge steckte. Ich hatte eigentlich auf seinen Kopf gezielt. Fauchend und zischend zog der Drache die Klaue weg, während ich durch den Rückschlag ein paar Schritte zurück stolperte. Mein Arm und meine Schulter begannen höllisch zu schmerzen, doch André nutzte die Gelegenheit und rammte dem Drachen den Dolch in den Kopf. Er war augenblicklich tot. Etwas Qualm kam aus seinem Mund, als er auf Ilian zusammenbrach. Keuchend befreite sich dieser und begann sich zurückzuverwandeln. Ich rannte zu ihm, wartete aber die Verwandlung ab, bevor ich seinen Kopf auf meinen Schoß zog.

»Situation geklärt«, hörte ich wie durch einen Dämpfer André sagen. In meinen Ohren schrillte ein merkwürdiger Ton.

»Wir benötigen dringend einen Aufräumtrupp für zwei tote Drachen.«

»Ilian?«, quietschte ich durch zwei Schluchzer hindurch. Er hielt sich die Hand vor das verletzte Auge, aus dem unaufhörlich Blut lief.

»Ich«, begann er, doch er geriet ins Husten. Rauch kam aus seinem Mund und seiner Nase. Jemand packte mich von hinten und zog mich weg.

»Vorsicht«, konnte André mich noch so gerade warnen, als Ilian plötzlich Feuer und Rauch zu spucken begann, während er sich verkrampfte.

»Scheiße!«, hörte ich Leon erstaunt rufen.

»Müsste gleich vorbei sein, Lissy«, beruhigte mich André und hielt mich in seinen starken Armen. Ilian kam zu Atem und beruhigte sich. Mein Adrenalinspiegel war so hoch, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass er mich verbrannt hatte.

»Fuck, dein Arm, Lissy!«, fluchte André. Ich sah an mir herunter und spürte augenblicklich den glühenden Schmerz. Doch mir blieb keine Zeit für Selbstmitleid. Ich eilte zurück zu Ilian. Leon hatte seine Hose ausgezogen und stand in Boxershorts plötzlich neben uns. Ilian richtete sich halb auf und ließ sein Auge los. Ich sog scharf Luft ein, als ich die Wunde erblickte. Der Drache hatte ihn mit seiner Kralle mitten im Augapfel erwischt. Leon reichte Ilian die Hose, welcher sie augenblicklich anzog.

»Danke«, krächzte er vollkommen heiser.

»Mischa, Conny«, sagte André, »könnt ihr schnell zurücklaufen und Ilian etwas zu trinken holen?«

Meine Freundinnen nickten und liefen, Hand in Hand, los.

»Ilian«, wimmerte ich vollkommen unter Schock.

»Lissy, ich werde heilen«, versuchte er mich zu beruhigen und zog mich in seine Arme. »Ruhig, mein Liebling, es wird alles gut!« Ilians blutendes Auge, die große Brandwunde an meinem Arm, ich weiß nicht, was es genau war, aber ich verlor das Bewusstsein. Es war, als hätte die Dunkelheit um uns herum mich in ihren stillen, tröstenden Schoß gezogen.

***

Es waren Thomas' Augen, die ich als Erstes erblickte. Ich lag in meinem Bett unter der Decke und mein Bruder saß neben mir.

»Lissy«, hauchte er und fummelte an irgendetwas herum. »Hier, leck das ab.« Er steckte mir seinen Finger in den Mund es dauerte eine Weile, bis ich verstanden hatte, was er da getan hatte. In seiner freien Hand hielt er die Phiole, die Ilian mir geschenkt hatte. »Das wird dir helfen zu heilen«, erklärte er. Vorsichtig hob ich meinen schmerzenden Kopf. Jemand hatte meine Brandwunde verbunden und die Schnittwunden von der Landung im Busch gesäubert und versorgt.

»Wo ist Ilian?«, wollte ich wissen.

»Hier!«, hörte ich die geliebte Stimme. Er trug eine lange Schlafanzughose und ein ausgeleiertes T-Shirt. Sein verletztes Auge war verbunden, ansonsten wirkte er fit. »Natürlich wirst du wach, wenn ich zur Toilette bin«, seufzte er und mein Bruder machte Platz, damit er sich neben mich auf das Bett setzen konnte. »Danke, Thomas.«

Mein Bruder lächelte und drückte Ilian die Phiole in die Hand.

»Ich habe es ihr schon gegeben.« Thomas gab mir einen Kuss auf die Stirn und ließ Ilian und mich alleine.

»Ich wollte nicht, dass du alleine bist, wenn du aufwachst«, erklärte er mit zärtlicher Stimme und strich mir dabei über den Kopf. »Irgendwie war mir klar, dass du genau dann aufwachen würdest, wenn ich kurz zwei Minuten weg bin.« Er lachte und brachte auch mich damit zum Schmunzeln.

»Was ist mit deinem Auge?«, wollte ich wissen. »Und deinem Bauch?«

Er hob sein Shirt und zeigte mir kurz einen verblassenden, roten Striemen. »Der sieht schon richtig gut aus, das Auge wird bestimmt noch bis Morgen dauern. Es tut scheißweh.« Nachdenklich fasste er sich an den weißen Verband in seinem Gesicht. »Jetzt sehe ich aus wie ein Pirat.«

»Ilian«, seufzte ich. »Bitte, jetzt keine Scherze.«

Sein gesundes, braunes Auge wurde ernst. »Okay«, flüsterte er fast tonlos.

»Komm bitte zu mir«, flehte ich und er schlüpfte zu mir unter die Decke. Die Hitze, die sein Körper ausstrahlte war mir sehr willkommen. Sie zwang meine Muskeln dazu sich zu entspannen.

»Wer hat mich umgezogen?«, platzte es mit einem Mal aus meinem Kopf direkt nach draußen.

»Ich«, antwortete Ilian und ich hörte, wie er dieses eine Wort verzweifelt versuchte ernst rüberzubringen. Die kleine Teufel-Lissy hüpfte auf seinem Kopf herum, während sie in jeder Hand eine Haarsträhne von ihm festhielt.

»Gut gemacht«, lobte ich ihn. »Hundert Punkte für Gryffindor!«

»Ach«, rief er aus, »du darfst Scherze machen und ich nicht?«

»Richtig!«

»Frech!«, stellte er fest.

»Nein, nicht frech. Verbal überlegen.«

»Pfff«, machte Ilian. Er betrachtete ein Stofftier, einen kleinen Bär, den ich mal auf einem Jahrmarktbesuch mit meiner Mutter gewonnen hatte. »Das wird mir hier zu kindisch!« Er griff sich den Bär. »Komm Teddy, wir gehen!« Er machte Anstalten das Bett zu verlassen, doch ich hielt ihn lachend fest. Ich zog Ilian an mich heran. Lange lag ich schweigend da, bis mir auffiel, dass Ilians Atem sehr regelmäßig und langsam ging. Er war eingeschlafen. Ich küsste seine Stirn, direkt neben dem Verband, und fragte mich, warum es das Schicksal so auf uns abgesehen hatte?!

***

»Möchtest du über gestern reden?«, fragte mich Ilian am nächsten Morgen. Ich hatte die Nacht mit Grübeln verbracht und war dementsprechend müde. So langsam begann ich mich ernsthaft zu fragen, wie viel ich noch ertragen konnte? Spätestens als Ilian, ich vermutete vor Schmerzen, im Schlaf angefangen hatte immer wieder leise zu jammern, war für mich das Maß voll gewesen. Aber wie das eben in schlimmen Zeiten ist, atmet man tief durch und macht weiter.

»Nein, keine Motivation dazu«, brummte ich müde. Ich ging herüber zu Ilian, der am Fenster stand und draußen seine Mutter mit den beiden Zwillingen beobachtete. Roran lag in der Mitte meines Bettes und schlief.

»Findest du kein bisschen Motivation?«, fragte Ilian ruhig. Er trug noch immer den Verband, doch die Macht seiner Augen hatte sich keinesfalls halbiert. Im Gegenteil. Die kleine schokoladenfarbene Murmel seines gesunden Auges wirkte nun doppelt so stark und dazu noch so einsam. Ich drückte ihm einen Kuss auf die dazugehörige Augenbraue, bevor ich zum Fenster hinaussah.

»Meine Motivation liegt da draußen und sonnt sich«, seufzte ich und lächelte ihm dann kurz zu. »Guck mal, sie winkt!«

Ilians Mundwinkel zuckten. Sanft zog ich ihn zum Bett und wir setzten uns.

»Was ist denn los, hmh? Wir wurden angegriffen und haben sie besiegt. Ende der Geschichte?!« Wieso wollte er noch darauf herumreiten? Mir fielen da in Verbindung mit Reiten viel interessantere Dinge ein.

»Es ist nur«, er seufzte, »ich habe dich da in ganz schöne Scheiße hereingezogen und«, er sah auf meinen Arm, der fast verheilt war, »dir dazu noch eine Brandwunde zugefügt.«

»Da kannst du doch nichts für.«

»Ich weiß, aber ich hätte dir das alles gerne erspart.«

»Ich dir auch, Ilian. Wir müssen da jetzt einfach durch.« Ich überlegte. »Aber wir sollten uns definitiv bei André bedanken.«

»Das habe ich schon in unserem Namen getan und Mama hat ihm eine Phiole mit gemahlenen Drachenknochen geschenkt.«

»Hui«, staunte ich. Das war in doppelter Hinsicht ein fürstliches Geschenk. Nicht nur, weil das Zeug an sich so wertvoll war, sondern auch, weil sie es ausgerechnet einem Jäger geschenkt hatte.

»Trotzdem, ich sollte ihm wenigsten einen Kuchen backen oder so.«

»Kannst du denn backen?« Ilian zog die Augenbrauen hoch, was er mit einem kurzen, schmerzverzerrten Gesicht quittierte. Offensichtlich war sein Auge noch nicht wieder ganz verheilt.

»Keine Ahnung, kann aber nicht so schwer sein, oder?«

»Wenn du dich an ein Rezept hältst, dürfte es funktionieren.« Offensichtlich amüsierte ich ihn. Mir fiel jedoch plötzlich etwas ein.

»Scheiße … Leon und Mischa!« Sie hatten alles mit angesehen. Oh je! Ich sollte wirklich mal mein Handy checken.

»Ich fürchte, das war ein ganz schöner Schock für die beiden.«

»Oh Mann, Scheiße, stell dir das mal vor!?«, plapperte ich und sah auf das Display meines Handys. Die beiden hatten mehrfach versucht mich zu erreichen.

»Fällt mir schwer, Lissy«, gluckste Ilian. »Ich bin unter Drachen aufgewachsen und«, er grinste frech, »Schlagzeile: Ich bin sogar selbst einer!«

»Blödmann«, brummte ich gespielt wütend und steckte das Handy weg. Ich würde sie später zurückrufen. »Geh doch auf der Autobahn Lichter fangen.« Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust. Ilian löste sie sanft und legte sie um seine Taille. Hmmmh, warmer Drachenkörper. Teufel-Lissy und ich bekamen Lust auf einen Ausflug nach Pandora. Engel-Lissy versuchte mich jedoch an Ilians verletztes Auge zu erinnern. Mental sagte ich ihr, dass er mich ja auch nicht mit seinen Augen vögeln sollte. Wobei … wieso eigentlich nicht?

»Was hast du vor?«, fragte Ilian ein wenig nervös, als er das Spiel meiner Mimik beobachtete.

»Das Luder in mir und ich fragen uns gerade, ob du nicht Lust auf ein wenig rhythmische Sportgymnastik hättest?«, schnurrte ich. Ilian lehnte seine Stirn an meine. Ich konnte spüren, wie seine Haut heißer wurde, doch er schien noch zu überlegen.

»Wenn du zu starke Schmerzen hast, sag es einfach«, flüsterte ich sanft und strich über seinen Rücken. »Ich bin auch damit zufrieden, einfach nur etwas mit dir zu schmusen.« Engel-Lissy nickte und strich dabei liebevoll über Ilians Wangen.

»Ich brauche keine Augen, um mit dir zu schlafen«, brummte dieser und verschloss meinen Mund mit einem Kuss. Hah! Teufel-Lissy bekam ein mentales High-Five, als Ilian mich zurück auf die Matratze drückte. Ein leises Mucken war zu hören.

»Scheiße, Roran«, sagte Ilian synchron zu meinen Gedanken. Der Kleine schlief einfach weiter und schien sich nicht für uns zu interessieren.

»Ach, der merkt nichts«, entschied mein Freund, doch ich drückte ihn von mir weg.

»Bist du irre? Das kostet uns später mal mindesten zehn Stunden beim Psychiater!«, zischte ich leise. Oh Mann, ich hatte das Baby echt kurz vergessen.

»Der schläft tief und fest«, beharrte Ilian und ließ langsam eine Hand unter den Bund meiner Hose streifen.

»Aye, Captain«, summte ich halb vor mich hin, weil seine Finger zwischen meinen Beinen angekommen waren. Okay, er hatte mich überredet, doch er hielt kurz inne.

»Machst du dich lustig über mich?«, wollte er amüsiert wissen.

»Hey, du hast mit dem Pirat angefangen«, erinnerte ich ihn. »Und wenn du jetzt nicht weitermachst, werde ich dieses Schiff hier kapern.« Damit legte ich meine Hand auf sein Knie und ließ sie langsam höher wandern. »Ihr Holzbein, Captain?«

»Nein, ich freue mich nur, Sie zu sehen, Unteroffizierin Schmidt.« Wir lachten und Roran quiekte im Schlaf. Scheiße, der würde bald wach werden.

»Hisst die Segel, wir müssen uns beeilen!«, flüsterte Ilian und zog mir mit meiner Hilfe die Hose aus. Er öffnete seine und schob mich zurück. Vorsichtig legte er sich, mittlerweile komplett blauhäutig, auf mich drauf und glitt in mich hinein. Ich musste mir ein Stöhnen verkneifen und hielt mir selbst die Hand vor den Mund. Alle im Haus waren wach und unsere Tür war nicht abgeschlossen. Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich zugeben, dass mich die Angst erwischt zu werden, berauschte. Ilian begann sich langsam in mir zu bewegen und ich klammerte mich an ihm fest. Als ich im Flur die Stimme meines Bruders hörte, legte Ilian an Tempo zu. Der Höhepunkt überrollte mich gnadenlos, doch er machte weiter, bis es an der Tür klopfte. Binnen weniger Sekunden war Ilian aus mir heraus, hatte die Decke über mich geschlagen und seine Hose zugemacht. Zitternd sank er neben dem Bett zusammen.

»Kommt ihr zum Frühstück?«, fragte Thomas, der in der Tür stand und mich fragend anstarrte. »Alles okay?«

Ich nickte und versuchte meine Haare zu ordnen. Mein Atem ging noch immer schnell und mit Sicherheit war ich puterrot. Ich drückte meine Beine zusammen, um das wohlige Gefühl in meinem Unterleib festzuhalten, doch es schwächte langsam ab.

»Nein, alles super«, antwortete ich vielleicht eine Tonlage zu hoch.

»Ilian?«, fragte Thomas, der meinen Freund neben dem Bett erspäht hatte.

»Ich suche meine Schuhe!«, rief dieser. Er klang zittrig und außer Atem. Thomas zuckte mit den Schultern und schloss die Tür hinter sich. Sofort krabbelte ich zum Bettende und sah zu Ilian, der auf dem Boden lag und die Lippen aufeinander presste.

»Hast du dir in die Hose gemacht?«, fragte ich amüsiert von dem Anblick des verräterischen, nassen Flecks. Ilians Bauch zuckte vor Lachen.

»Scheiße, war das knapp«, brachte er hervor und fuhr sich durch die Haare.

»Knapper ging es nicht mehr.« Ich rutschte herunter und legte mich auf ihn drauf. Meine Lippen fanden seine und liebkosten sie voller Leidenschaft. »Zum Glück dauern Orgasmen nur wenige Sekunden«, gluckste ich, als ich meinen Mund von seinem lösen konnte. »Wusstest du, dass der des Schweins dreißig Minuten dauert?«

Ilian riss sein gesundes Auge auf. »Was?«, keuchte er. Ich liebte es, ihn so atemlos unter mir zu spüren.

Er seufzte. »Man müsste ein Schwein sein.«

Ich sah ihn ernst an. »Los, zieh dich um. Ich muss dir und deiner Familie etwas sagen.«

***

Wir saßen, oder standen, wieder alle versammelt in der Küche. Ilian hatte seine Kleidung gewechselt und starrte, mit dem Rücken zu mir, zum Fenster hinaus auf die Straße, nachdem ich allen von dem, was Arva mir gesagt hatte, berichtet hatte. Rabiya Balaur war kreideblass. Ihr Mann stand in seiner Polizeiuniform hinter ihr und hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt.

»Wie?«, fragte sie plötzlich beinahe tonlos. »Wie hat Audrina es herausgefunden?« Tränen stahlen sich in ihre Augen und ich musste schlucken. Hilflos sah sie hoch zu ihrem Mann hinter sich. »Wir waren immer so vorsichtig.«

»Ist doch auch egal, Mama«, lenkte Dean ein. Seine Frau stand, unscheinbar wie immer, neben ihm und hielt mit ihren beiden Händen seine Linke fest. »Tretet einfach aus dem Nest aus.«

»Sie würden mich trotzdem jagen, wenn Audrina petzt.«

»Deine Mutter hat recht, Dean.« Geromes Stimme war ruhig und besonnen. Sicherlich brachte das sein Job mit sich.

»Dann muss diese Audrina eben sterben, bevor sie plappern kann«, warf Kassandra ein und Thomas nickte ihr auf einem Apfel herumkauend zu.

»Was?«, rief ich. »Wie? Niemand wird hier umgebracht!« Herrgott, ich kannte Audrina seit der fünften Klasse. Mehr oder weniger.

»Es sind schon welche gestorben«, erinnerte mich André. Sein hübsches Gesicht flehte mich um Verständnis an. Ja, gestern waren zwei Drachen gestorben. Wer waren sie?

»Ja, aber – die kannte ich nicht.«

»Du kanntest Mendel«, sagte Ilian zum ersten Mal etwas, seit wir hier standen, und seine Stimme klang rau und rauchig. Mir wich die Farbe aus dem Gesicht.

»Nein?!«, presste ich hervor. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während ich das Gefühl hatte, dass mein Atem versagte. Ilian drehte sich mir zu. Seine Miene war unergründlich.

»Doch, ihm habe ich das hier«, er zeigte auf sein verbundenes Auge, »zu verdanken.« Mit einem Schlag wurde mir klar, dass ich auf Mendel geschossen hatte – und jetzt war er tot. Zwar nicht wegen mir, aber das wollte ich in diesem Moment nicht sehen.

»Wer war der andere?«, traute ich mich nach einem tiefen Seufzer zu fragen. Ilian sah mich immer noch so seltsam an. War er wütend auf mich? Jedenfalls sagte ich nichts und sah herüber zu Rabiya und Gerome, die Felicia in ihre Mitte genommen hatten. Es war Mayla, die schließlich das Wort ergriff.

»Arvas Vater.«

»Oh, mein Gott.« Mehr brachte ich nicht heraus, mir hatte es die Sprache verschlagen. Ich sah wieder zu Ilian, der seinen Blick gesenkt hatte und auf seine Schuhe starrte. Wir schwiegen eine ganze Weile, bis schließlich Mayla an meine Seite trat, meine Hand nahm und ihren Mund an mein Ohr legte.

»Hör zu, mach dir keine Gedanken wegen Arva. Ihre Familie ist sehr traditionell. Ihr Vater war für sie nur ein Mann. Nichts Besonderes«, flüsterte sie. Ich schluckte. Wut, Speichel, Frustration und Tränen, all das würgte ich herunter, bevor ich mich von Mayla losriss und das Zimmer verließ. Ich hörte Schritte hinter mir und wusste, dass Ilian mir folgte. In meinem Zimmer packte er mich am Arm und drehte mich zu sich herum.

»Du weißt schon so lange davon und erzählst es mir erst jetzt?«, zischte er. In seinem gesunden Auge flackerte die Wut im wahrsten Sinne des Wortes. Es war, als würde sich ein kleines Feuer durch das Braun züngeln.

»Ich habe auf den richtigen Moment gewartet«, verteidigte ich mich. Er ließ meinen Arm los und stieß einen Fluch aus.

»Scheiße, Mann, Lissy, du weißt, in welcher Gefahr meine Familie schwebt, und hast noch den Nerv in Ruhe mit mir zu schlafen?« Na das war ja die Höhe.

»Vielleicht solltest du das mal deine beste Freundin fragen?! Sie muss es schon seit Monaten, wenn nicht sogar Jahren, wissen.«

»Sie ist eine Drachenfrau«, schrie er mich wütend an, als würde das alles erklären. »Für sie bin ich nur ein Junge, mit dem man solche Sachen nicht bespricht!« Seine Stimme brach fast, so außer sich war er.

»Tolle Freundin«, antwortete ich in gleicher Lautstärke. »Ihr willst du keine Vorwürfe machen? Sie, die davon wusste und sich noch ein Kind von dir hat machen lassen, um alles noch schlimmer zu machen?«

»Darum geht es jetzt doch gar nicht!«

»Sondern? Merkst du nicht, wie unfair du bist?«

»Sondern darum, dass du erst jetzt damit herausrückst!«

»Weißt du was, Ilian? Du kannst mich mal«, seufzte ich. »Raus aus meinem Zimmer, bevor ich«, meine Stimme wurde noch lauter, »dir in den Arsch trete!«

»Ich gehe nirgendwo hin, Elisabeth.« Er positionierte sich wie eine Wand vor mir. »Wir klären das jetzt.«

»Ach ja, und wie? Ja, ich wusste davon und ja, ich habe auf einen passenden Moment gewartet, es dir und den anderen zusagen. Ach und ja, ich habe die Verfrorenheit besessen, mit dir zu ficken, wohlwissend, dass Audrina jederzeit eine Bombe platzen lassen kann, die deine ganze Familie auslöschen kann.« Ich holte tief Luft. »Und weißt du warum?! Weil ich dich schonen wollte und wir vorerst nichts dagegen tun können.«

»Oh doch«, konterte Ilian. »Wir werden Audrina umbringen.«

»Es wurde genug Blut vergossen, Ilian«, zischte ich wütend.

»Wäre es dir lieber, dass meine Familie und ich sterben?«

»Mir wäre es am liebsten, dass niemand mehr stirbt. Gott Ilian, Arva hat seit gestern Abend keinen Vater mehr. Mendel ist tot! Reicht das nicht?!«

»Wieso verteidigst du sie, Elisabeth? Weder Mendel noch Audrina haben dich je gut behandelt.« Da hatte er Recht, … und Mendel hatte versucht Ilian zu töten. Wieso also machte ich das? Vielleicht weil ich es einfach nur müde war, dass Leben ausgelöscht wurden, oder weil Audrina auch nur Opfer ihrer Umgebung war.

»Gibt es keinen friedlichen Weg?«, seufzte ich erschöpft. »Ihr steigt aus dem Nest aus und zieht weg oder der Orden klärt das – oder ihr redet mit ihr?«

Ilian drehte sich weg und massierte sich die Schläfen, bevor er anfing den Verband vom Kopf zu nehmen. Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, in dem auch ich sein stark gerötetes Auge erkannte. Blinzelnd sah Ilian wieder zu mir herüber und ich streckte eine Hand nach seiner Wange aus, doch er wich zurück.

»Wir können nicht mit Audrina reden«, sagte Ilian. »Das ist ungefähr genauso effektiv, wie ein Haus zu bauen und es dann anschließend abzufackeln. Wir können noch so sehr mit Engelszungen auf sie einreden, irgendwann würde es ihr in die Karten passen und sie würde Mama verraten.«

»Ein Beispiel mit Feuer«, brummte ich. »Von einem Drachen. Wie passend.« Müdigkeit kroch meine Arme und Beine hinauf. Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal so richtig geschlafen? »Ilian, weißt du was? Denk an den siebten Buchstaben im Alphabet und dann tu es!« Ich sah zu, wie er einen Moment nachdachte.

»G?«

»Richtig, geh

Es klopfte an meiner Tür und mein Bruder erschien.

»Wir müssen einen Plan wegen Audrina machen«, erklärte er und fing sich dafür einen bösen Blick von mir ein. »Wow, was ist los?«

»Deine Schwester ist so naiv zu glauben, dass wir Audrina ein paar Blumen schenken und sie im Gegenzug für immer ihren Mund hält«, erklärte Ilian, als sei ich bescheuert. Mit mir ging es durch und ich stieß ihn mit voller Wucht Richtung Tür, wo mein Bruder stand. Ilian ließ es wütend mit sich machen.

»Geht aus meinen Augen und lasst die kleine, doofe Lissy in ihrer rosa Seifenblase in Ruhe, ihr Vollzeitpessimisten!« Ich knallte ihnen die Tür vor der Nase zu und lehnte mich mit dem Rücken dagegen.

»Hey, hier werden keine Türen geknallt!«, hörte ich meinen Vater rufen.

»Das war Lissy!« Auf große Brüder ist doch immer Verlass.

»Lasst mich alle in Ruhe!«, schrie ich. Die Tür öffnete sich und schob mich dabei ins Zimmer. Ilian kam herein und schloss die Tür hinter sich. Die Augenbrauen hochziehend ging er rüber zum Bett, wo – oh Mann, da lag ja immer noch der kleine Roran! Seinen tiefen Schlaf hätte ich gerne mal gehabt.

»Hatte ich dir nicht gerade gesagt, dass du gehen sollst?«

Ilian streckte sich neben Roran aus. »Ja, aber wir diskutieren das jetzt aus«, entgegnete er kühl und ich raufte mir die Haare.

»Scheiße, scheiße, scheiße!«, schrie ich und hätte gerne etwas nach ihm geworfen, doch dieser Idiot hatte sich ein Baby als Schutzschild gesucht. Unfair, unfair, unfair! Aber so schlau wie er war ich schon dreimal. Ich nahm mein Handy und schlüpfte in meine Flipflops.

»Oh nein, Elisabeth, du haust jetzt nicht ab!« Ilian klang wie mein Vater und ich hasste ihn dafür. Bevor ich gehen konnte, hatte er sich vor die Tür gestellt.

»Gib den Weg frei oder ich schreie!«

»Du wirst mir jetzt sagen, was du dir dabei gedacht hast, mit so einer Information hinter dem Berg zu halten?!« Sein verletztes Auge tränte ein wenig, doch der Rest seines Gesichts wirkte so kühl, dass ich anfing zu frieren.

»Geh. Mir. Aus. Dem. Weg«, sagte ich so leise, dass es selbst mir Gänsehaut machte.

»Nein«, hielt er dagegen.

»Ich würde dir nur ungern wehtun.«

»Das wirst du nicht.« Gott, ich war sein altkluges Gehabe so leid.

Ich sah rot. Feuerrot.

»Ach ja?«, fragte ich und ging näher an ihn heran. Mit voller Wucht zog ich ein Knie hoch und konnte aus nächster Nähe sehen, wie Ilian die Augen erst erstaunt aufriss und dann vor Schmerzen schloss. Es tat mir sofort leid, als er vor mir auf die Knie sank.

***

Liebes Tagebuch,

ich liebe es, von ihr gehalten zu werden. Selbst unter Schmerzen. Auch unter solchen, die sie mir selbst zugefügt hat. Ihre Körperwärme, ihr Duft. Sie fehlt mir.

Wieso kann sie nicht verstehen, dass ich meine Familie schützen muss? Ich kann das Schicksal meines Sohnes, das meiner Eltern und Geschwister nicht in den Händen einer jungen Möchtegern-Brutmutter lassen.

Ich kenne Audrina länger und besser als Lissy, weiß, wozu sie fähig ist. Natürlich verstehe ich, dass Lissy kein Blut vergießen möchte, aber was soll ich tun? Es gibt keinen anderen Weg.

Zu gerne hätte ich es mit ihr ausdiskutiert, aber sie war einfach zu wütend.

Mir ist kalt hier im Gästezimmer. Aber ich werde warten. Vielleicht beruhigt sie sich ja bald. Ich hoffe es.

Streit mit ihr verwirrt mich, weil sie mich immer wegjagen will, statt die Sache zu klären. Ich glaube, ich habe jetzt verstanden, dass ich ihr erst etwas Luft geben muss, bevor sie dazu bereit ist zu reden. Das fällt mir schwer. Ich ertrage die Warterei nicht.

Mein Auge brennt.

Seiryū ebenfalls.

Wir sehnen uns nach ihr. Ich hasse Streit.

I.