39. Darr unterbrach diese Gedanken, als er auf der kleinen Plattform vor der ersten Tür stehenblieb. Der Wissenschaftler öffnete sie.
"Enok, Goii, wartet hier bitte", sagte er im Ton eines Vorschlags und winkte in den Raum. "Ich brauche etwas Zeit, um unseren Besucher nach Hause zu schicken." Er lächelte erlöst. "Dann reorganisieren wir diese Welt ein kleines bisschen, und danach", er streckte sich, "ruhen wir uns aus."
Goii und Enok lächelten ebenfalls erleichtert. Der Gondwaner schien sich jetzt schon ausruhen zu wollen, er wollte zügig über die letzten Stufen steigen und in den Raum gehen. Enok hielt ihn aber zurück und sagte leise etwas zu ihm. Goii nickte daraufhin und blieb hinter dem Verstoßenen. Enok erklomm energisch die letzten drei Stufen und blieb vor Kepler stehen. Einen Augenblick lang musterte er ihn schweigend. Dann verbeugte er sich leicht.
"Ich danke dir für alles, Ares", sagte er schlicht.
Kepler wusste nicht, was er antworten sollte. Er hatte diesen Mann hergebracht, an einen Ort, an dem der Verstoßene das Leben auf der Erde verändern wollte. Kepler wollte etwas anderes hier erreichen. Er fragte sich, ob er ohne Enok es bis hierhin geschafft hätte. Er wusste keine eindeutige Antwort darauf.
"Nichts zu danken", erwiderte er. Dann nahm er das Gewehr vom Rücken und reichte es Enok. "Hier. Darr wird dir noch mehr Munition machen und dir erklären, wie du es benutzen musst und irgendwann wirst du den Rest selbst lernen."
In einer ersten Regung langte der Verstoßene zum Gewehr, dann verharrte er unschlüssig. Kepler drückte ihm die Waffe in die Hände und holte aus den Taschen die Ersatzmagazine heraus, die er noch dafür hatte. Danach zog er den Ghillie aus und legte ihn über die Schulter des Verstoßenenanführers.
"Danke...", brachte Enok heraus.
"Schon gut." Kepler sah zu Goii und winkte ihn zu sich. "Die wolltest du doch immer haben." Er schnallte das Halfter mit der Glock ab. "Jetzt gehört sie dir."
Er reichte die Waffe dem Gondwaner, dessen Augen im Gegensatz zu denen von Enok nicht dankbar, sondern gierig aufleuchteten. Aber Goii war auch um einiges jünger. Kepler ignorierte es und nahm den Rucksack von den Schultern.
"Hier ist noch etwas Munition für euch beide."
Er drückte den Rucksack in Enoks Hände, holte die restlichen Magazine aus der Weste und reichte sie Goii. Der nahm sie mit einer schnellen Bewegung.
"Alles Gute euch", wünschte Kepler. "Ach, hier..."
Er zog die letzte Granate aus der Tasche. Goii streckte sofort die Hand aus.
"Dirk", rief Darr dazwischen, "behalten Sie sie bitte. Sie müssen den Kontrollraum sprengen wenn Sie gehen. Für alle Fälle."
Kepler dachte an den Noteingang, von dem angeblich niemand wusste.
"Macht Sinn", meinte er und drehte sich zu Enok und Goii. "Also, eine monsterlose Zukunft euch noch."
Er streckte die Hand aus. Es dauerte einige Sekunden, dann ergriff zuerst Enok seine Hand, danach Goii. Nach dem Händedruck drehte Kepler sich um und folgte mit schnellen Schritten Darr, der schon wieder losgegangen war.
Oben angelangt, öffnete der Wissenschaftler die zweite Tür und ging zielstrebig weiter. Kepler sah sich von der Schwelle aus um. Der Raum war groß. Darin standen drei Pulte mit riesigen Bildschirmen und davor Stühle auf Rollen.
Darr wusste anscheinend genau was er zu tun hatte. Er lief zu einer milchigen Tür im hinteren Teil des Raumes und öffnete sie. Kepler sah darin eine runde Platte von anderthalb Metern im Durchmesser, die zehn Zentimeter aus dem Boden hochragte. Daneben streckte sich ein Stab aus dem Boden. Er wurde von einem Knopf gekrönt, der wie ein Pilz aussah. Darr ließ die Tür offen und lief zu einem Pult, warf sich auf einen Stuhl, packte mit beiden Händen die Tischkante an und zog sich heran. Er verharrte, schloss die Augen und atmete durch.
Es dauerte etwas, bis er die Augen wieder öffnete. Dann betätigte der Wissenschaftler zwei große Schalter an der linken Seite der Konsole neben dem Bildschirm. Nichts geschah. Darr runzelte verdattert die Stirn. Im selben Moment gab es ein dumpfes Geräusch irgendwo in den Tiefen der Erde. Mehrere Lichter gingen am Pult an und der Bildschirm leuchtete im ruhigen Weiß auf. Darr sah auf, feixte kurz, blickte wieder auf den Monitor und konzentrierte sich.
Kepler stand schweigend da und sah Darr zu, wie er Knöpfe und Schalter betätigte, angestrengt auf die grazil anmutenden Zeichen blickte, die auf dem Bildschirm erschienen, und dann wieder Knöpfe drückte.
"Geschafft", sagte der Wissenschaftler nach zehn Minuten. "Sie können nach Hause. In...", er sah auf den Bildschirm, "...einer Hora und zwei Minuten."
"Warum nicht gleich sofort?", erkundigte Kepler sich.
"Weil der Trick ist, einen Satelliten zu benutzen", antwortete Darr. "Das da", er deutete über die Schulter auf die offene Tür, "ist eine Teleportationskammer. Sie wird Sie atomisieren – eigentlich wird sie Sie sogar in subatomare Partikel zerlegen – und dann an den Satelliten versenden. Wegen der gewaltigen Energie, mit der das geschehen wird, wird sich an dessen Antenne ein kleines Wurmloch bilden. Dieses wird sich durch Raum und Zeit fortpflanzen und Sie dabei mitnehmen. Den Satelliten braucht es, um die Richtung festzulegen, in die Sie reisen sollen. Weil das kein geostationärer Satellit ist, wird er sich erst in einer Hora dort befinden, wo wir ihn brauchen."
"Das leuchtet ein", sagte Kepler. "Wer baut mich am Zielort wieder auf?"
"Keine Ahnung", antwortete Darr völlig offen und kratzte sich leicht an der Stirn. "Das Universum selbst, nehme ich an."
"Sie nehmen an?"
"Es ist selbstkonsistent", meinte Darr. "Und weil Sie exakt dann zurückkommen, als Sie weggingen, hat es keine Wahl, als Sie so aufzubauen – wie Sie weggingen, samt allen Dingen, die Sie dabei hatten. Ist doch völlig logisch."
"Na gut, meinetwegen", sagte Kepler. "Hat ja einmal funktioniert."
"Öfter", behauptete Darr. "Ich habe vorher ausgiebig experimentiert."
"Vielen Dank auch."
"Mit Fruchtfliegen. Über Sekunden." Darr grinste. "Um Energie zu sparen, verstehen Sie." Er wurde wieder ernst. "Eine Sache noch, Dirk, eine ganz wichtige. Sie haben nur einen Versuch und genau zwei Minuten, nachdem Sie die Maschine aktivieren. Das erste, weil es eine enorme Menge an Energie kostet, das Wurmloch zu erzeugen. Das zweite, weil das Universum nicht stillsteht. Alles bewegt sich darin, auch der Satellit. Ich habe als Ziel die genauen Koordinaten der Erde in der Galaxis eingegeben, und die der Stelle, von der ich Sie geholt habe. Ebenso die genaue Zeit. Das heißt – nachdem Sie mit diesem Knopf die Sequenz gestartet haben", Darr deutete auf den Knopf oben links neben dem Bildschirm, "rennen Sie zur Teleportationskammer, stellen sich auf die Platte und drücken den Knopf dort. Solange das innerhalb einer Minute geschieht, kommen Sie auf den Atom genau dahin und auf die Sekunde exakt dann zurück, woher ich Sie geholt habe." Er machte eine Pause. "Bricht die zweite Minute an, sind Verschiebungen in Ort oder Zeit, oder auch beidem, möglich. Verstreicht die zweite Minute... keine Ahnung was dann passiert." Er sah Kepler in die Augen. "Von den Fliegen habe ich keine wiedergesehen." Er überlegte. "Wahrscheinlich, weil die Kopie sich dann zu stark vom Original unterscheidet. Und koexistieren können sie dann wohl nicht."
Kepler nickte nur. In einer Stunde würde er in seiner Zeit sein. Fast bei Lisa.
Er spürte, wie die Vorfreude ihn erzittern ließ. Aber noch war er nicht zu Hause, er musste seine Aufregung zügeln. Und Neugier war auch ein Teil von ihm.
Wie ganz Ofir und die Brücke, schien alles hier aus einem Material zu bestehen, das Kepler sonst nirgends gesehen hatte. Es war bläulich und fühlte sich wie hölzernes Metall an.
"Was ist das für eine Stadt, Darr?", fragte er.
"Ursprünglich war sie für den Fall eines Meteoriteneinschlags als eine Art von Arche Noahs gedacht. So wie das eigentliche Ofir später."
"Hä?", machte Kepler baff. "Sie haben behauptet, die Bibel nicht zu kennen."
"Die Menschheit kennt sie nicht", erwiderte der Wissenschaftler. "Ich schon."
"Sie werden mir immer suspekter", teilte Kepler ihm mit. "Wie kommt das?"
Darr antwortete nicht sofort. Er überlegte sehr lange, bevor er sich dazu entschloss, die Wahrheit zu sagen.
"Das liegt daran, dass ich einer der letzten freien Menschen bin." Er machte eine Pause. "Ich lebte schon bevor die Computer die Macht übernommen hatten."
"Das war vor vier Jahrtausenden, sagten Sie", erinnerte Kepler sich. "Weil ich mir manche Dinge nicht erklären kann, also glaube ich. Seit kurzem auch daran, dass das Buch der Offenbarung anscheinend gigantische Zeitalter umfasst, so wie das Buch Genesis es offensichtlich auch tut. Und das glaube ich nicht seit ich hier bin, sondern seit ich herausfand, dass es das Leben rein mathematisch gesehen überhaupt nicht geben kann." Er machte eine Pause. "Doch was Sie da gerade von sich gegeben haben, das ist unmöglich."
"Ist es nicht", entgegnete Darr gelassen. "Vor langer Zeit hat ein sehr kluger Mensch behauptet, Zeitreisen wären nicht möglich." Er lächelte Kepler ohne jeden Spott an. "Und trotzdem sind Sie hier."
"Ich muss träumen."
"Ich dachte, die Phase hätten wir durch", sagte Darr streng.
"Ich auch", erwiderte Kepler auffordernd.
Eine Zeitlang schwiegen sie beide und sahen einander an.
"Sie erinnern sich doch, was ich Ihnen über das Virus erzählt habe, wozu es geschaffen wurde und was es kann", sagte Darr. "Ich habe es mitentwickelt."
Kepler hob die Augenbrauen.
"So. Dann müssten Sie aber ein Supermensch sein", meinte er. "Doch mit Verlaub, Darr – Sie sehen ganz normal aus. Und etwas dämlich sind Sie auch."
Darr war überhaupt nicht gekränkt. Er deutete mit beiden Händen leicht auf seinen Kopf und zuckte mit den Schultern.
"Wir haben gelernt, unser Wesen, also unseren Geist, zu teleportieren. Ich musste nehmen was ich kriegen konnte – diese Gestalt und ihr Gehirn. Dadurch habe ich einen Teil meiner Gehirnkapazität und meines Wissens eingebüßt." Er verzog das Gesicht. "Schlüpfen Sie mal in ein Pferd, mal sehen, ob Sie die Keplerschen Gesetzte der Himmelsmechanik dann noch draufhaben."
"Logisch, aber nicht komisch", kommentierte Kepler.
"Und dennoch amüsant", meinte Darr. "Weil nur dieser Typ", er deutete wieder auf seinen Kopf, "auf die Idee gekommen war, wie Zeitreisen möglich sind. So bin ich der einzige meiner Rasse geworden, der weiß wie es funktioniert."
"Dieses Wissen finde ich völlig unnütz", maulte Kepler. "Sie haben es eingesetzt, um mich herzuschaffen, damit ich Sie in diese Stadt bringe. Und was hat die nun für einen geheimnisvollen Sinn? Ich meine – jetzt, für Sie?"
"Damals, in Zeiten des Unterganges der freien Menschen, gehörte ich zu einer Gruppe an, die sich damit beschäftigte, wie Terra vor kosmischen Katastrophen gerettet werden könnte", begann Darr. "Wir bauten diese Stadt. Unweit von hier gibt es etwa neunzig Vulkane..."
"Ich weiß", fiel Kepler ihm ungeduldig ins Wort.
"Zuhören, Sie müssen alles verstehen", wies Darr ihn sofort zurecht. "Also, diese Vulkane sind direkt mit dem Erdkern verbunden. Und wir fanden heraus, wie wir dessen Energie nutzen konnten. Wir können sie in Strahlung umwandeln, diese durch die Vulkane leiten und zu einer Kugel konzentrieren. Mit der wollten wir Meteoriten abschirmen." Er machte eine Pause. "Die Computer hatten auch eine Gruppe, die sich mit der Rettung der Menschheit beschäftigte. Die sah anders aus. Wir begriffen es zu spät, als die Computer schon alles unter Kontrolle hatten. Die Ellada-Maschine erfand gerade die neuen Bezeichnungen, die Ambrosia-Maschine kreierte neue Speisen. Die Kyklop-Maschine überlegte sich indessen etwas völlig anderes. Sie verstand, dass die Menschen sich niemals fügen werden, dafür wohnt uns der freie Wille inne. Und so funktionierte die Kyklop-Maschine unsere Erfindung um. Unsere Abschirmstrahlen wurden in elektroenzephalografische Signale umkonfiguriert. Die Menschheit wurde bestrahlt und wollte nie wieder Kriege führen und schlecht sein. Und – im selben Moment verlernte sie frei zu denken." Darr schwieg wieder kurz. "Wir schafften es, mit einem Raumschiff zu flüchten. Und entwickelten das Virus. Es ermöglichte uns, unsere Körper immer wieder zu regenerieren, wir wurden nicht mehr alt. Wir kolonisierten einen Planeten, Terra war für viele von uns eine verhasste Heimat geworden, die sie nie wieder sehen wollten. Aber dann versagte das Virus. Viele starben, die zweite Stufe brachte nur noch weibliche Individuen hervor und die erste nur Monster. Von uns Ursprünglichen, die noch auf Terra geboren wurden, waren zu diesem Zeitpunkt nur noch sechs am Leben geblieben und all die, welche die letzte Mutationsstufe später erreicht hatten, waren tot. In diesem Zusammenhang ergab unsere Forschung, dass das Virus nur mit ursprünglicher menschlicher DNA repariert werden könnte." Er machte eine kurze Pause. "Asklepoii, Hefaisoii und ich, wir sagten, das wäre sinnlos, die Maschinen hätten die DNA der Menschen auf Terra unwiederbringlich zerstört, wir würden nie die nötige Sequenz finden. Aber die anderen drei Ursprünglichen glaubten das nicht. Sie stachelten die Syths gegen uns auf, und Baobhan sperrte uns ein. Es dauerte, bis wir freikamen." Er sah Kepler warnend an, damit er nicht dazwischen sprach. "Gedanken sind nicht an Raum und nur bedingt an Zeit gebunden. Wir drei flohen als Geister auf Terra, versteckten uns in fremden Körpern, um uns vor Baobhan zu verbergen, und entwickelten den Plan, um die Menschheit zu retten. Sowohl vor den Maschinen, als auch vor unseren Brüdern, die die Menschen auch zu etwas machen wollen, dass sie nicht sind."
Kepler wartete, aber diesen Worten folgten keine mehr.
"Auf welche Art und Weise haben Sie es vor?", interessierte er sich.
"Ich habe meine Erfindung eben umprogrammiert", erwiderte Darr.
"Worauf diesmal?"
"Darauf, die Zivilisation auszulöschen."
Kepler schwieg perplex eine Weile und starrte ungläubig den Wissenschaftler an, oder was Darr auch immer war. Der blickte völlig gelassen zurück.
"War Stalin, Hitler oder Mao unter Ihren Vorfahren?", fragte Kepler. "Sie haben ernsthaft vor, zum Wohle der Menschheit alle Menschen zu töten? Und haben mich geholt damit Sie es tun können?"
"Ich will diese Zivilisation vernichten", korrigierte Darr eindringlich. "Die Maschine wird eine Strahlung freisetzen, die bewirkt, dass alle geordneten Strukturen, die künstlich erschaffen worden sind, rückgängig gemacht werden."
"Ah ja", grunzte Kepler. "Sie wollen die Menschen also nackig vor die Syths und die Gools hinstellen."
"Nein", behauptete Darr mit deutlichem Nachdruck. "Die werden in ihre Bestandteile zerfallen. Denn sie sind erschaffen worden, damit sind sie nicht natürlich. Und weil die Strahlung sich im Vakuum mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzt und zwar etwa fünfzig Lichtjahre weit, wird auch ihr Planet – also, der, den wir kolonisiert haben – ebenfalls in den Ursprungszustand versetzt. Sie werden die Menschen nie wieder belästigen."
"Na gut. Die Macke an dem Plan – die Menschheit verhungert statt von den Gools aufgefressen zu werden", erwiderte Kepler. "Denn die hier sind zum Teil so hilflos wie ich mit drei Jahren, ehrlich."
"Das letzte stimmt. Der Rest ist falsch. Diese Strahlung hat eine Durchdringtiefe von einem Kilometer im Gestein, des Weiteren zersetzt sie auch die Synapsen im Gehirn, jedoch bis zu einer bestimmten Grundebene hin." Darr machte eine Pause. "Damit findet die Menschheit sich in der Steinzeit wieder – mit einem Gehirn, das genau dafür passt. Die Menschen werden viele Dinge neu lernen müssen. Aber in ihrem Unterbewusstsein werden sie die Erinnerung daran haben, was geschehen ist. Die Menschen werden sie nicht bewusst wahrnehmen, aber sie wird ihr Handeln beeinflussen. Damit, und mit einem unberührten Planeten, bekommt die Menschheit die Chance, sich neu zu entwickeln. Und zwar besser als im ersten Versuch. Also jetzt, meine ich."
Eines musste Kepler diesem Wissenschaftler lassen, der Typ hatte nicht nur für alles eine Antwort, sondern sogar stets eine logische.
"Ihre Erklärungen haben gewissen Charme, Darr", meinte Kepler. "Aber permanent gibt es Ungereimtheiten." Er sah dem Wissenschaftler spöttisch in die Augen. "Eine solche Zivilisation konntet ihr aufbauen, clevere Computer erfinden und die absolute Vernichtungsmaschine – auch. Doch weil einer zu meiner Zeit gesagt hatte, Zeitreisen wären unmöglich, seid ihr in all den Jahrtausenden nicht darauf gekommen, dass es doch funktioniert."
"Moment, die Theorie über die Relativität des Raum-Zeit-Kontinuums beinhaltet die Möglichkeit, dass Wurmlöcher durch die Zeit führen", widersprach Darr nicht nur vehement, sondern auch sachlich korrekt. "Es dauerte nur sehr lange, die Möglichkeit zu finden, eines zu erzeugen und gerichtet zu bewegen", gestand er verlegen ein. "Dabei ist es so simpel wie abstrus, weswegen vor dem echten Darr niemand die Lösung gefunden hatte." Der Wissenschaftler lächelte beschämt. "Ich musste erst die passende Technologie entwickeln. Ich habe dafür länger gebraucht, als ich gedacht habe. Jahre vergingen, bis ich auf die Idee kam, die Satelliten dafür zu benutzen." Er klopfte gegen die eigene Stirn. "Unterentwickeltes Hirn, das der echte Darr hatte, verstehen Sie?"
"Und wie", gab Kepler zurück. "Und wessen Satellit ist das?"
"Ein normales Kommunikationssatellit der Maschinen. Es sind noch etliche im Orbit. Da fliegen sogar noch ihre Teleskope herum. Hier, ein Echtzeitbild."
Darr lächelte leicht und betätigte einige Knöpfe. Auf dem zweiten Bildschirm erschien ein mit Sternen übersätes Bild, das Kepler als eine Aufnahme im sichtbaren Lichtspektrum identifizierte. Darr zwinkerte ihm zu.
"Die Satelliten sind noch da, weil die Syths sie auch benutzen. Genauso wie das Kraftwerk. Ganz schön gerissen von mir, nicht wahr?"
"Wie hoch sind die Chancen, dass die Menschheit Ihr Experiment übersteht und sich wieder entwickelt?", unterband Kepler die Ablenkung.
"Ziemlich hoch", antwortete Darr überzeugt. "Denn ich habe noch eine zusätzliche Sicherheit vorgesehen", ergänzte er ein kleines bisschen selbstgefällig.
"Darum mussten wir erst nach Gondwana statt direkt hierhin", erriet Kepler.
"Richtig", bestätigte Darr.
"Es war bestimmt nicht das Gewehr. Also, was war es?", verlangte Kepler zu wissen. "Was war es wert, dass so viele Menschen deswegen sterben mussten?"
"Das kann ich Ihnen aus demselben Grund nicht sagen, aus dem Sie selbst darauf kommen müssen, in welcher Zeit Sie hier sind", antwortete Darr.
Das hatte endgültig geklungen und Kepler bohrte nicht nach. Er sah den Wissenschaftler an und überlegte die Gründe, wozu der ihm solche haarsträubende Geschichten erzählen könnte. Er fand keine. Die Lösung war – er träumte.
Darr sah indessen auf die Uhr im Bildschirm. Er straffte sich und stand auf.
"Zwanzig Minuten noch. Ich gehe lieber, bevor Enok und Goii vor Langeweile durchdrehen. Und ich muss die Maschine aktivieren. Es waren mir eben ein paar Syths zu viel, die da vom Himmel gefallen sind." Er trat vor Kepler und streckte die Hand aus. "Gute Reise, Dirk. Und denken Sie an die zwei Minuten."
"Ja, danke." Kepler drückte seine Hand zusammen, hielt sie fest und sah Darr in die Augen. "Ihnen auch alles Gute – als dem Homo Sapiens Idaltu?"
"Es ist eine Chance", antwortete Darr ohne Pathos. "Die einzige."
Kepler ließ seine Hand los. Der Wissenschaftler ging zügig zur Tür. An der Schwelle drehte er sich um, nickte Kepler mit einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen zu und ging hinaus. Die Tür schloss sich.
Kepler gähnte, die Wirkung der russischen Tablette ließ nach. Das war ihm jetzt egal. Er sah auf die Uhr. Und musste unwillkürlich grinsen. Wie er das schon einmal getan hatte, vor unzähligen Jahren, als er auf dem Dach eines Hauses gekrochen war, um Hilfe zu rufen. Damals hatte er das um die Uhrzeit getan, in der das erste Mobilfunkgespräch seiner Zeit stattgefunden hatte. Jetzt würde er um elf Uhr fünfunddreißig nach Hause gehen. Siebzehn Minuten noch.
Er sah auf den anderen Monitor. Auf dem Bildschirm leuchtete der Tarantelnebel. Kepler streifte mit dem Blick über das Foto.
Dann sprang er auf und starrte fassungslos darauf. 30 Doradus oder NGC2070, wie die anderen Bezeichnungen des Nebels lauteten, lag in der Großen Magellanschen Wolke, einer Zwerggalaxie, die die Milchstraße begleitete. Sie war sehr weit entfernt, und auch wenn die Aufnahme wirklich vor wenigen Minuten gemacht wurde, zeigte sie dennoch nur, wie der Nebel vor langer Zeit ausgesehen hatte. Und einen Blauen Riesen, der dort nicht sein durfte. Kepler kannte den Namen dieses gigantischen Sterns. Zu seiner Zeit hieß er Sanduleak.
Kepler fragte sich, ob Darr einfach so dieses Bild ausgewählt hatte, oder dazu, um ihm das Ganze begreiflich zu machen. Er drückte mit beiden Händen die Schläfen zusammen und weigerte sich noch eine Sekunde lang, die Tatsachen hinzunehmen. Dann rasten durch seinen Kopf die Gespräche mit Darr und anderen Menschen dieser Zeit durch und die daraus resultierenden Fakten.
Er irrte sich nicht. Jetzt nicht mehr. Er war hier nicht im einundzwanzigsten Galaktischen Jahr, er war überhaupt nicht soweit in der Zukunft wie er gedacht hatte. Jetzt begriff er auch die kleinen Ungereimtheiten im Drift der Kontinente.
Seine Hände fielen herab. Der linke Zeigefinger streifte dabei über das linke Ohr und aktivierte den Kommunizierer.
Er hörte sofort Darrs Stimme, der hatte sein Gerät wie üblich im Stimmaktivierungsmodus. Es dauerte etwas, bis Kepler den Sinn der Worte nachvollzog.
"Enok, nachdem die Maschine aktiviert ist, verlassen wir Ofir", sprach Darr beschwörend weiter, als ob er den Anführer der Verstoßenen hypnotisieren wollte. "Wir müssen zurück und deine Leute finden und alle anderen einsammeln, die wir treffen. Du wirst uns nach Euros an die Küste führen. Ist das klar?"
"Was ist mit den Syths und Gools?", fragte Enok.
"Die wird es nicht mehr geben. Denk daran – die Eurosküste!" Er machte eine Pause und sprach langsam und deutlich weiter. "In die Richtung, wo die Sonne aufgeht. Das ist sehr wichtig, Enok! Hast du das verstanden?"
"Moment", sagte Goii erbost dazwischen. "Soll er auch die Leute aus Gondwana anführen oder was?"
"Ja, auch die", antwortete Darr beiläufig, "alle halt. Also, Enok..."
"Warum er?!", schrie Goii auf. "Warum nicht ich?"
"Weil du noch nicht soweit bist, Sohn", antwortete Enok mild. "In einigen Jahren, wenn du mehr Erfahrung hast, gebe ich dir den Zepter..."
"Ich will diesen Zepter aber jetzt!", verlangte Goii.
"Warte noch ein bisschen", bat Enok. "Ich werde dir zeigen, wie du in der Wildnis überleben und Menschen führen musst und dann gebe ich ihn dir... Und jetzt nimm bitte die Waffe herunter, Pok, mein Sohn."
Das Geräusch des repetierenden Schlittens der Glock war lauter als der schallgedämpfte Schuss. In diesem Laut ging Enoks erstickter Aufschrei unter.
"Wo hast du Kassana hingeschickt?", hörte Kepler gleich Goiis kalte Frage.
"Lass mich diesen Knopf drücken, dann sage ich es dir", erwiderte Darr. "Du hast jetzt fast alles, was du schon immer haben wolltest, lass mich noch die Außerirdischen dir aus dem Weg schaffen..."
"Wo ist Kassana?", fragte Goii mit Nachdruck Wort für Wort.
"In Gondwana. Jetzt lass uns bitte..."
Darrs Aufschrei übertönte das Geräusch des Durchladens. Danach hörte Kepler, wie der Wissenschaftler schwer auf den Boden stürzte.
"Goii", stöhnte er, "drück bitte wenigstens den Knopf. Bitte... Goii!", schrie er dann aus letzter Kraft verzweifelt auf, "Goii, warte, bitte..."
"Mach es selbst!", schrie Goii zurück.
Eine Sekunde später hörte Kepler nur noch sich entfernende Schritte und den rasselnden Atem von Darr. Dann klickte es in seinem Ohr.
"Ja?"
"Dirk... Sie müssen herkommen... den Knopf drücken", stöhnte Darr flehend.
"Nein, das werde ich nicht", antwortete Kepler. "Ich weiß jetzt, wann ich hier bin. Hoffentlich träume ich. Denn was Sie vorhaben, ist Wahnsinn. Wissen Sie, wieviel Leid es geben wird, wenn ich nicht halluziniere? Nein. Dafür – nicht."
"Dirk... das eben mit Goii... das ist nicht viel anders... die Menschen sind so wie sie sind", erwiderte Darr mit schmerzerfüllter Stimme, aber in voller und fester innerer Überzeugung. "Leid wird es so oder so geben, Dirk... Bitte..."
"Nein."
"Sie träumen nicht... Dann werden Sie... und Lisa... niemals..."
"Egal. Nein."
Kepler machte den Kommunizierer aus und sah auf seine Hände. Sie zitterten.
Zum ersten Mal in seinem Leben taten sie das, weil er Angst hatte. Vor einer Entscheidung und ihren Folgen. Er hatte einige hundert Menschen getötet. Für einen bestimmten Zweck, für etwas, woran er glaubte. Für andere Menschen, die unschuldig waren. Dafür hatte er seine Seele eingebüßt. Womit sollte er den Preis für Milliarden von Leben bezahlen?
In seinem Ohr klickte es und er hörte Darrs schwachen Atem.
"Dirk... Bitte...", stöhnte der Wissenschaftler.
Kepler atmete gepresst durch.
"Warum muss ich das tun, Darr?", fragte er. "Ihre Leute – Sie – haben uns das eingebrockt, und ausbaden muss ich es? Wo waren Sie vorher? Warum haben Sie das alles nicht verhindert? Warum nicht?"
"Ich wollte es", flüsterte Darr. "Ich wollte... doch Sie müssen es vollenden..."
"Genug!", schrie Kepler.
"Dirk..."
Kepler lief ein kalter Schauer über den Rücken. So eisig, wie er es nie in seinem Leben empfunden hatte. Er sah auf seine Hände. Sie zitterten stärker.
"Geben Sie mir Ihr Wort, Darr, schwören Sie mit Ihrer ganzen Seele und mit allem was Ihnen heilig ist", verlangte und flehte er, "geben Sie mir Ihr Wort, dass das Virus und diese Kreaturen dabei ausgelöscht werden. Dass sie nie wieder auf diesen Planeten kommen... Kriege ich Ihr Wort darauf?"
"Wofür, glauben Sie, habe ich das alles gemacht..."
"Geben Sie mir Ihr Wort!", rastete Kepler aus.
"Ich schwöre es", flüsterte Darr mit immer schwächer werdenden Stimme, "ich schwöre es bei dem bisschen Leben, was noch in mir ist, ich schwöre es bei Ihrem Leben und bei Lisas Leben, bei dem Leben der Menschen, denen wir den Willen und die Chance zu überleben geben – ich schwöre es, Dirk."
Diese Sätze hatten ihn alles an Kraft gekostet, was er noch hatte. Kepler hörte, wie er erschöpft zusammenbrach.
"Wo sind Sie, Darr?"
"Der... erste... Raum..."
Kepler drückte aufs Ohr, sah auf die Uhr und sprang zur Tür.
Er stürzte zweimal fast, als er die Treppe herunter rannte, konnte sich aber rechtzeitig an der Wand abstützen. Er hastete an der Tür des ersten Raumes vorbei. Unten angekommen, lief er zur Tür weiter. Dort warf er einen Blick auf die Uhr. Elf Minuten noch.
Er wollte nicht hinterrücks erschossen werden, deswegen lief er geduckt aus dem Turm hinaus. Doch Goii hegte keine mordlüsternen Pläne gegen ihn, Kepler sah ihn hastig die Treppe erklimmen, die zum Eingangstunnel führte. Auf dem Rücken trug Goii das Gewehr. Kepler rannte zurück in den Turm.
Der untere Raum war anders als der obere. Er lief tatsächlich in die Runde entlang des Turms. Hier standen etwa zwanzig verschiedene Kontrollpulte.
Vor dem ersten lag Enok. Der Anführer der Verstoßenen war von seinem Sohn mit einem Schuss in die Stirn getötet worden, sein Kopf lag in einer kleinen Blutlache, seine Augen blickten blind zur Decke.
An Darr hatte Goii seine sadistische Art ausgelebt. Der Wissenschaftler lag rücklings auf dem Boden und presste beide Hände unten an den Bauch. Er hatte kaum noch Kraft dazu, das Blut floss zwischen seinen Fingern und breitete sich als Pfütze an seinen beiden Seiten aus. Darrs nach hinten gerollten Augen waren schmerzverzerrt, aber sein Blick wurde maßlos erleichtert, als er Kepler sah. Er blinzelte und versuchte sogar zu lächeln. Das war wohl schmerzlich, sein blasses Gesicht verzog sich grotesk.
"Mein Rückrat ist durchschossen", flüsterte er krächzend, "ich kann meine Beine nicht bewegen..."
"Welcher Knopf?", fragte Kepler.
"Der Pult ganz rechts..." Darr schnappte krampfhaft nach Luft. "Dort blinkt links ein orangener Knopf... Der..."
Kepler ging vor.
"Dirk", krächzte der Wissenschaftler, "die Energie für diese... Maschine... wird zwar im Erdkern generiert... aber es geht schnell... Sie haben nur fünfzehn Minuten, um nach Hause zu kommen... sonst werden Sie auch..."
"Ich habe nur neun Minuten dazu", unterbrach Kepler ihn.
Er stieg über die Leiche von Enok, danach über Darr und blieb vor dem Pult stehen. Dann atmete er durch und streckte die Hand aus.
"Der orangene?", vergewisserte er sich.
"Ja..."
Kepler hob die Hand und streckte sie zum Knopf aus.
Dann blinzelte er erstaunt.
Weil er sich plötzlich in einem völlig anders gearteten Raum befand. Er war sphärisch und seine Wände schimmerten beinahe durchsichtig in weichem Weiß, das ein wenig bläulich war. Links hinter diesem milchigen Vorhang konnte Kepler undeutlich die verschwommenen Umrisse in dem Raum sehen, in dem er sich vorhin befunden hatte. Irgendwie erinnerte er sich an diesen Raum.
Fast direkt vor sich sah er einen Mann. Er war zweieinhalb Meter groß und hatte einen so ausgeprägten Körperbau, dass sogar die kleinsten Muskeln sich unter der eng anliegenden Kleidung abzeichneten. Er trug keine Haare und hatte große dunkle Augen, die kompromisslos blickten. Die wenige sichtbare Haut an seinem Kopf und an seinen Händen, die er vor dem Bauch verschränkt hatte, hatte die Farbe von absolut reinem, strahlendem Weiß. Der Mann neigte den Kopf leicht nach links, sein Blick wurde durchdringend.
"Und wer bist du?", erkundigte Kepler sich. "Aber da wir hier im Olymp sind, bist du wohl Zeus, der oberste Gott", vermutete er. "Richtig?"
Er spürte ein Tasten an seinen Gedanken. Mit einer Anstrengung verdrängte er das Fremde aus seinem Verstand. Der Mann, der erst überheblich geblickt hatte, stutzte. Dann richtete er sich bedrohlich auf.
"Ich bin ein Gott, ja", behauptete er mit tiefer Stimme, die zwar sehr melodisch, aber auch sehr hart klang.
"Dann hol Hades und Poseidon her", forderte Kepler ihn auf. "Ich muss euch drei Götter-Brüder ganz schnell töten." Er deutete über die Schulter. "Ich habe nämlich noch einen Zeitstrahl zu erwischen, also los, zügig."
"Du hast eine ziemlich vorlaute Art", setzte der Mann ihn in Kenntnis.
"Hallo?", herrschte Kepler ihn an. "Mach hinne, Zeus, ich habe überhaupt keine Zeit!" Er klopfte auf seine Uhr. Und sah zugleich, dass der Sekundenzeiger sich nicht mehr bewegte. Daraufhin blickte er zu dem Mann hoch. "Du willst dir Zeit für eine Unterhaltung nehmen? Wird das ein Einstellungsgespräch?", vermutete er. "Soll ich in den Olymp aufgenommen werden?"
"Wie sprichst du mit einem Gott?", fuhr der Mann ihn drohend an.
Es hatte sehr überheblich geklungen. Wenn Darr wirklich derselben Rasse angehörte, dann war er geradezu beschämend klüger als der Typ vor Kepler.
"Nu mach mal halblang", schnauzte er zurück. "Gott", machte er abfällig den erhabenen Ton seines Gegenübers nach. "Noch ein allmächtiger womöglich?"
"Natürlich!", bekam er die donnernde Antwort.
"Klar. Einer von mindestens sechs solchen", spottete Kepler und ließ die Erheiterung sogleich fahren. "Warum bin ich hier, du Möchtegern-Überwesen?"
Der Mann unterdrückte seine Wut. Anscheinend war er zu nicht viel mehr imstande, als sich aufzuregen und zu protzen. Aber bitten wollte er nicht.
"Du darfst diesen Knopf nicht drücken", verlangte er.
"Weil?", wollte Kepler abfällig wissen.
"Du damit jahrtausendelange Arbeit zerstören würdest."
Kepler verzog überlegend die Stirn.
"Die ist euch schon längst misslungen", bescheinigte er. "Auch wenn die Gools nüchtern betrachtet eine hervorragende biologische Waffe sind", lobte er im selben Atemzug. "Also, worin besteht deren Existenzberechtigung?"
Für einen Moment wirkte der Mann beinahe geschmeichelt.
"Du gehst jeder Sache auf den Grund, oder?", erkundigte er sich, nachdem er Kepler einige Augenblicke lang prüfend gemustert hatte.
"Aha. Seit vierzig Jahren schon", gab Kepler zurück.
"Na gut, scheinst ja ein cleverer Typ zu sein...", begann der Mann.
"Danke sehr", fiel Kepler ihm sofort gönnerhaft ins Wort.
Der Mann unterdrückte erneut seine Verärgerung.
"Hör zu, das wolltest du doch", befahl er. "Erstens sind die Gools eine Übergangsphase. Zweitens helfen sie den Syths, die DNA-Sequenz zu finden."
"Sie sind ein Anreiz zum Überleben?", vergewisserte Kepler sich. "Damit die Menschen auf diesem Weg wieder zu denken anfangen und so die Gene entwickeln, die ihr so verzweifelt sucht? Während sie gefressen werden? Ne, das verstehe ich nicht. Aber sowas von überhaupt nicht."
Er sah den Mann völlig ratlos an. Der sammelte sich.
"Begreif doch, die Menschheit hat sich zu einer faulen Meute entwickelt, die Maschinen für sich denken lässt", ging er auf die Aufforderung ein.
"Finde ich auch idiotisch", stimmte Kepler ihm zu. "Aber sie hatten aufgehört einander umzubringen – was missfällt euch daran und warum, und mit welchem Recht überhaupt wollt ihr das ändern?"
"Wir haben eine neue Rasse erschaffen..."
"Mach mal einen Punkt", unterbrach Kepler ihn grob, "ich fing gerade an dich zu mögen, weil du aufgehört hattest, dämlichen Stoß zu reden. Also bleib sachlich, vielleicht einigen wir uns."
"Ich lüge nicht!", donnerte der Mann.
"Fürs Protokoll – ihr habt euch selbst manipuliert. Das ist von der Erschaffung soweit entfernt wie Fingernägelschneiden von der Mondlandung."
Sichtlich zwang der Mann sich zur Beherrschung.
"Wie auch immer, aber wir sind besser geworden", behauptete er.
"Gedankenübertragung ist schon nicht schlecht", gab Kepler ihm Recht und sah ihn verhalten beeindruckt an. "Und ihr lebt sehr lange, richtig?"
"Genau! Und wollen der Menschheit dasselbe Glück ermöglichen!"
"Indem ihr uns in euch verwandelt?"
"Richtig! Wir brauchen nur noch dein Blut dazu."
"Meine DNA ist wirklich das was ihr sucht?"
"Ja", bestätigte der Mann. "Gib sie uns, dann wird alles vollendet, und wir nehmen dich wirklich in unseren Kreis auf", bot er an. "Du wirst ewig leben."
"Eine Sache verstehe ich nicht", sagte Kepler grübelnd. "Ihr habt es schon einmal versucht, aber wegen der Tablette konntet ihr damals nicht zu mir durchdringen. Wenn meine DNA so wichtig ist, warum habt ihr die anderen nicht passend beeinflusst damit sie sie euch bringen?"
"Durch die Strahlung der Maschine haben sie eine Sperre im Kopf, die sie gegen fremde Gedankenübertragung schützt", antwortete der Mann.
"Wenigstens etwas haben die Maschinen geschafft", murmelte Kepler.
Der Mann missverstand seine widerwillig positiv gemeinten Worte.
"Genau!", sagte er recht fröhlich. "Der Verräter meint, dass er den Knopf drücken muss – damit die Menschen wieder selbst zu denken anfangen. Mit deinem Blut schaffen wir das viel besser!"
"Welcher Verräter?"
"Orlikon. Er ist böse und will alles zunichte machen."
"Ach so, er will die Menschheit der Möglichkeit berauben, so wie ihr zu werden", sinnierte Kepler. "Weil wenn ich den Knopf drücke, resete ich nicht nur die Menschheit, sondern lösche auch noch die Syths und die Gools aus? Und euren Planeten. Und damit zerstöre ich das Virus, oder?"
"Unwiederbringlich."
"Oh nein", machte Kepler. "Euch womöglich auch?"
"Letztendlich ja, auch..." Der Mann hörte auf zu lächeln. Im nächsten Moment zog er die Lippen wieder auseinander, diesmal im hastigen Versuch zu schmeicheln. "Du bist viel cleverer als alle anderen, dir kann ich sehr schnell erklären, warum dieser Knopf wirklich eine Sackgasse ist. Verstehst du jetzt, warum du ihn nicht drücken darfst und uns deine DNA geben musst?"
Kepler sah ihm in die Augen, nun ohne sich zu verstellen, und lächelte schief.
"Zeus, du bist doof", bescheinigte er ihm. "Trotz deiner vermeintlichen geistigen Überlegenheit kannst du mit dem kleinen Bisschen an Telekinese mich nicht daran hindern, den Knopf zu drücken, du kannst meinen Verstand nur für einen Moment festhalten. Deswegen versuchst du mich zu täuschen. Und lässt dich selbst dabei simpel einwickeln. Ein wenig Reizen, etwas Anerkennung, und du, Kakerlake von einem Gott, du erzählst mir einfach alles." Er feixte schief. "Ich erleuchte dich, Zeus, mit einer Weißheit, für die ich keine viertausend Jahre gebraucht habe, nicht mal zwanzig – Gott lässt sich nicht spotten. Er hat uns als sein Ebenbild geschaffen – aber als Mann und Frau. Nur gemeinsam sind wir vollkommen. Ihr habt das nie erkannt und deswegen ist euer Virus nutzlos, es wird nie funktionieren, es hat nur vorübergehend die Grenzen verschoben. Und wenn euer Anliegen wirklich die Erlösung der Menschheit wäre, warum so dämlich? Sogar in meiner Zeit hätte ich eure selbstgefällige Mission viel besser und einfacher gelöst. Ich hätte einfach ein Computervirus in Auftrag gegeben. Aber ihr, nein – ihr tötet lieber Milliarden. Und dann habt ihr nur Angst um eure mörderischen Viecher." Kepler schüttelte angewidert den Kopf. "Ihr habt sogar etwas Wichtiges gelernt – die Kraft des Geistes ist die größte überhaupt. Aber ihr seid schlimmer als die Menschen. Die hörten aus Faulheit auf zu denken – ihr aus Überheblichkeit. Maschinen sind nicht gut, und ihr ebensowenig. Darr hat es verstanden, habt ihr ihn deswegen eingesperrt? Zeus", schloss er, "irgendwann mal habe ich für einen General getötet. Dann ist ihm die Macht zu Kopf gestiegen. Ich habe ihm in eben den geschossen. Klar soweit? Die Macht hat dir den Verstand geraubt. Darum – du wirst deine Monster nicht retten."
Er drehte sich von dem Mann weg, der ihn mit erschrocken geöffnetem Mund ansah, und ging vor die schimmernde Wand.
"Tür", befahl er.
Augenblicklich zeichnete sich vor ihm eine Tür in der Wand ab. Er hob die Hand, dann sah er spöttisch auf die Klinke.
"Wozu brauche ich eigentlich eine Tür?", fragte er und drehte sich zu der erstarrten Projektion, die ihn nur bestürzt und ratlos anblinzelte. Wie im Zug salutierte er knapp und abfällig. "Fröhliches Aussterben noch."
Dann schritt er einfach durch die durchsichtige Wand hindurch und warf einen Blick auf die Uhr. Der Sekundenzeiger bewegte sich wieder.
Kepler sah auf seine ausgestreckte Hand.
"Die Geschichtsbücher haben wohl Recht", murmelte er, "die Menschheit hatte auf diesem Kontinent begonnen." Er atmete durch. "So sei es."
Er drückte den Knopf. Und hörte nur einen leisen Aufschlag. Er sah herunter.
Darr ließ den Kopf fallen, den er angestrengt hochgehalten hatte. Jetzt entspannte der Wissenschaftler sich sichtlich. Seine Hand rutschte herunter und das Blut begann stärker aus seiner Wunde zu fließen, aber Darr lächelte.
So, wie Kepler es bei ihm noch nie gesehen hatte. Nämlich glücklich.
"Danke, Dirk", flüsterte er kaum hörbar.
"Zum wievielten Mal?", fragte Kepler.
Darr antwortete nicht. Sein Lächeln verschwand nicht, als seine Augen leblos erstarrten und seine Wunde zu bluten aufhörte.
Es war zwar sinnlos, aber Kepler spürte wieder ein fremdes Zerren an seinem Verstand. Er wusste jetzt aber, wie er das verhindern konnte und wehrte den Angriff gedanklich ab. Dann, nur um sicher zu gehen, schluckte er eine Aufputschtablette. Sie benebelte für einen Augenblick seinen Verstand und machte ihn dann munter. Die mentalen Angriffe hörten sofort auf.
Jetzt erst nahm er wahr, dass der erste Bildschirm leuchtete. Auf ihm sah Kepler nichts weiter als einen Teil von Ofir, samt der Treppe, über die Goii geflüchtet war. Einen Augenblick lang starrte Kepler auf das Bild.
"Wäre schon eine monströse Erinnerung", murmelte er und lief durch die Tür.
Nachdem er den Kontrollraum betreten hatte, blieb er stehen, stöhnte leise und ermattet und schlug dann wütend die Tür zu.
"Die Tod höchstpersönlich, schon wieder", stieß er durch zusammengebissene Zähne hervor. "Du bist aber auch hartnäckig."
Die Syth trat aus dem Schatten neben dem Pult. Kepler musterte sie erstaunt.
Sie trug keine Maske. Und sah wunderschön aus. Ihre Haut war perfekt und berauschend zärtlich weiß. Ihre großen Augen funkelten in einer undefinierbaren Farbe, die wie das Leuchten einer ganzen Galaxie war, geheimnisvoll und unergründlich tief. Die ganz leicht eingefallenen Wangen, die gerade Nase, die kunstvoll gezogenen Augenbrauen und die hohe Stirn gaben die absolute sanfte Perfektion wieder. Trotz der Größe wirkte das Gesicht zierlich.
Genauso wie ihr Körper. Der Tarnanzug war vorne geöffnet und offenbarte die Ansätze der absolut anmutig geformten Brüste. Der Stoff umhüllte die runden, dezent kräftigen Hüften, die langen Beine und die kraftvollen grazilen Arme.
Die Syth war sich ihrer grandiosen Schönheit bewusst. Aber die betörende Vollendung ihres Anblicks wurde von der unendlich selbstüberzeugten Pose und der exzessiv egozentrischen Haltung verhindert. Der Stolz unterstrich und betonte die sanfte Souveränität der Weiblichkeit. Die Arroganz zerstörte sie.
Nur eine richtige Frau konnte das vollkommenste Schönste sein. In dieser Welt und in jeder anderen erdenklich möglichen.
Baobhan lächelte leicht, sie sah Keplers Anerkennung. Und die war anders als im durchsichtigen Raum ehrlich, rein sachlich war diese Syth tatsächlich eine fähige Gegnerin. Kepler blickte sie an und fragte sich, ob er diese Kreatur genauso täuschen könnte, wie es ihm bei ihrem Schöpfer gelungen war.
"Ich habe dich also nicht getötet, dann räume ich jetzt freiwillig das Feld", sagte er dann. "Ich will nur zu Lisa zurück. Geh bitte einfach beiseite."
"Du", sagte die Syth mit einer melodischen, unaufdringlich hellen und sanften Stimme, der das leichte Zischen eine unendlich harte Note gab, "du bist das Ziel meiner Träume. Ich habe alles geopfert, ich habe alle getäuscht, nur um dir in diesem Raum gegenüber treten zu können." Die Syth machte einen Schritt nach vorn. "Deswegen hast nur zwei Alternativen. Entweder kommst du mit, damit ich dir fünf Liter von deinem Blut nehmen kann, dann lasse ich dich wieder gehen. Oder du stirbst hier und jetzt, damit ich dein Blut sofort kriege."
"Wozu brauchst du es?", verlangte Kepler zu wissen.
"Um zu überleben", antwortete die Syth. "Durch dein Blut werde ich so stark und clever werden wie die Urväter."
"Nur du, nicht deine ganze Rasse?", erkundigte Kepler sich spöttisch. "Ich denke, du willst mit meiner DNA mächtiger als alle werden – um zu herrschen."
Die Syth antwortete nicht darauf. Das brauchte sie aber auch nicht.
"Dachte ich mir", konstatierte Kepler. "Bleib lieber so wie du bist und begnüge dich einfach mit deiner jetzigen Position. Denn ich habe noch eine dritte Alternative. Nämlich – dich doch noch zu töten."
"Das hast du schon zweimal nicht gekonnt", erinnerte Baobhan ihn. "Und den Rest hast du so gemacht, wie ich es geplant habe. Du hast alle getötet, die mir dein Blut streitig machen könnten."
Einige Sekunden lang sahen Kepler und die Außerirdische einander an. Was die Syth dachte, wusste Kepler nicht, er hatte keinen Ansatzpunkt, um das zu erraten. Er selbst dachte nur daran, dass er keine Waffen hatte. Und dass ihm einfach die Zeit für einen Kampf fehlte. Er hatte nur einen Versuch.
"Beim Pavillon musste ich mich beeilen", redete Kepler sich aus, "in der Wartungsstation hatte ich falsche Informationen, angeblich hattest du niemanden mehr." Er machte eine Pause. "Gepatzt habe ich dennoch, ohne Frage. Aber jetzt würde ich das nicht mehr. Die Urväter haben nicht nur euch erschaffen, sondern auch eine Maschine, die alles resetet. Ich habe eben den Auslöser gedrückt." Er feixte. "Ich habe mit einem Finger deine ganze Rasse ausgelöscht."
Als Kepler angefangen hatte Kung-Fu zu lernen, verinnerlichte er eine Sache und ihre Richtigkeit hatte er in seinem späteren Leben mehrfach bestätigt bekommen. Technik war wichtiger als die schiere Kraft und der Geist wichtiger als die Technik. Als Symbiose funktionierten die beiden noch prächtiger.
Die Chance war klein gewesen, aber sie ging auf. Anscheinend gab es in der Kultur der Syths so etwas wie Religion und die Urväter waren darin wohl die Götter. Es war aber nicht Keplers Blasphemie, die die Syth wütend machte.
Kepler nutzte diese Gefühlsregung und sprang gegen das Pult. Es war völlig offensichtlich, dass er es als Schanze für einen seitlichen Tritt gegen den Kopf der Syth nutzen wollte. Aber die aufgewühlte Außerirdische erkannte die Finte nicht, sie reagierte ohne nachzudenken. Mit einem Hieb der rechten Hand wehrte sie den Tritt ab. Und zwar so, dass Kepler sich in der Luft drehte. Im nächsten Moment wurde er von den Armen der Syth umschlossen. Die Außerirdische drückte ihn an sich. Kepler schaffte es, einen tiefen Atemzug zu machen, und konzentrierte sich. Der Innere Atem trotzte dem Versuch der Syth, ihn an der Brust zu zerquetschen. Und anscheinend wollte die Außerirdische ihm noch etwas sagen, bevor sie ihn tötete. Als Keplers Gesicht nur noch Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war und er direkt in ihre Augen sah, hielt die Syth inne.
"Physik, einfache Hebelgesetzte", sagte sie unversöhnlich zischend. "Die Technik besiegt die Kraft."
Kepler ächzte in ihrem Griff. Aber seine Unterarme waren frei. Er zog die Granate aus der rechten Beintasche, zwängte die Hand zwischen sich und die Syth, drückte den Auslöser und schob die Granate in den Anzug der Außerirdischen.
"Richtig, Pandora", keuchte er. "Aber der Geist besiegt die Technik."
Mit beiden Händen krallte er sich am Anzug fest und riss die Syth aus aller Kraft an sich. Die Außerirdische begriff eine Sekunde später, dass sie hintergangen worden war. Noch eine Sekunde später löste sie ihren Griff. Kepler umschlang mit den Beinen ihre Hüften und drückte sich an sie heran, damit sie sich nicht von ihm befreien konnte. Er blickte ihr in die Augen und lächelte.
Die Außerirdische schaffte es, die Hände zwischen ihn und den eigenen Körper zu schieben und Kepler spürte die enorme Kraft, mit der die Syth ihn von sich drückte. Der Anzug begann aus seinen Fingern zu rutschen, dann konnte seine rechte Hand den dünnen Stoff nicht mehr halten. Die Syth drückte ihn mit einer Hand weiterhin von sich, während sie mit der anderen Hand in den Anzug langte im Versuch, die Granate heraus zu ziehen.
Aber die fünf Sekunden waren jetzt um.
"Ich hatte dir doch gesagt, geh mir aus dem Weg", keuchte Kepler. "Grüß deinen Schöpfer von mir."
Die Granate explodierte fast unhörbar. Das Material des Anzugs war so stark, dass die Kugeln in der Dynamitstange, die dagegen schlugen, den Stoff nicht einmal richtig bewegten. Der außerirdische Körper war nicht so widerstandsfähig. Die Kugeln bahnten sich ihre Wege durch ihn hindurch. Sie hatten nicht mehr Energie als eine Neunmillimeterkugel, prallten innen vom Anzug ab und vollendeten ihr tödliches Wirken indem sie die Syth zerfetzten.
Nur eine kam durch den geöffneten Anzug heraus und schlug genau unter den Knopf in Keplers Weste ein. An dieser Verbindung gab es keine Kevlarplatte und die Kugel drang durch die Weste durch. Während die Arme der Syth erschlafften, fiel Kepler auf die Füße und taumelte. Baobhan brach leblos zu seinen Füßen zusammen. Eine Sekunde später fiel ein roter Tropfen auf sie.
Ein nie gefühlter Schmerz durchbohrte Keplers Gehirn. Er stürzte auf die Knie und schaffte es im letzten Moment, die Arme auszustrecken, um nicht mit dem Gesicht auf den Boden zu prallen. Er langte mit der Linken hinter seinen Rücken. Die hintere Kevlarplatte hatte gehalten. Kepler schob die Hand an der Brust unter die Weste und zog sie wieder hervor. Sie war voll dunklen Blutes.
Es hatte ihn genauso erwischt wie seinen Freund. Er hatte gewusst, wie grausam Budi gelitten hatte, darum hatte er damals die Glock in die Hand genommen. Den Schmerz an sich hatte er nie nachvollziehen können, sogar jetzt erhielt die Indolenz seinen Lebenswillen. Doch der schwand mit jedem Blutstropfen.
Kepler presste die linke Hand gegen die Wunde und stieß sich mit der rechten Hand vom Boden ab. Dann kämpfte er sich auf den Knien bis zum Pult und hielt sich an dessen Kante fest. Vor seinen Augen wurde es dunkel. Er atmete durch und riss sich hoch. Den Aufprall mit der Brust auf die Pultplatte nahm er nur wahr, weil er seine Hand an der Wunde spürte. Er öffnete die Stoffklappe an der Uhr, dann streckte er den rechten Arm aus und stemmte sich mit den Füßen gegen den Boden. Das brachte ihm einige Zentimeter ein. Er zwang sich, die Beine voll durchzustrecken und kam auf die Zehenspitzen. Seine Finger legten sich auf die Kante des Knopfes. Er versuchte, ihn zu drücken. Der Knopf bewegte sich nicht, die Bewegungsrichtung war zu schräg. Kepler atmete tief ein und versuchte, den Inneren Atem zu mobilisieren. Es gelang ihm kaum, aber soweit, dass er den Knopf durchdrückte. Der leuchtete silbern auf.
Als Kepler vom Pult rutschte, sah er auf die Uhr. Es war genau elf Uhr vierunddreißig. Er schlug seitlich auf dem Boden auf und nahm nichts mehr wahr.
Er kam wieder zu sich und sah auf die Uhr. Zwanzig Sekunden waren schon vergangen. Er drehte sich, aber der Schmerz warf ihn zurück auf die Seite. Er atmete durch und versuchte es nochmal. Diesmal überwand er den Schmerz, sein Gesicht drückte sich in den Boden. Er zog das rechte Bein an und stemmte sich auf das Knie, dann machte er dasselbe mit dem linken Bein, danach mit der rechten Hand. Vierzig Sekunden waren um. Er kroch los.
Noch zwei Meter bis zur offenen Tür der Teleportationskammer. Fünfzig Sekunden. Sein rechter Arm knickte ein und er schlug mit dem Gesicht auf den Boden. Er stemmte sich hoch. Erst nach zwei Sekunden verstand er, dass er es nicht einen Millimeter weit geschafft hatte. Er atmete tief ein. Der Innere Atem wollte sich nicht aufbauen. Fünfundfünfzig Sekunden.
"Oma, hilf mir bitte", flüsterte er. "Gott..."
Es war plötzlich, als ob er die weiche Hand seiner Großmutter spürte. Er gehorchte ihrem sanften Druck und hob den Kopf.
Und dann sah er sie. Die einzige andere Frau in seinem Leben, die ihm absolut und bedingungslos alles bedeutete. Er sah Lisa deutlich in der Kammer stehen.
Er atmete ein. Und irgendetwas, die Wut, die Liebe oder die Gnade, etwas bäumte den Inneren Atem in ihm auf. Er drückte den rechten Arm durch und krabbelte weiter. Als er die Teleportationskammer erreichte, musste er auch die linke Hand benutzen, um auf den Podest zu klettern. Sein Blick streifte über die Uhr. Eine Minute fünf. Er zog sich auf die Platte und schloss die Augen.
"Nur zwei Sekunden, ja", hörte er sich bitten, "ich muss einmal durchatmen..."
Seine Lider wurden schwer, er bekam sie kaum noch auf. Er streckte die linke Hand hoch. Er hatte nur noch fünfzig Sekunden und seine blutige Hand schien für jeden Millimeter Höhe eine Ewigkeit zu brauchen. Siebenundvierzig Sekunden noch. Und zehn Zentimeter bis zum Knopf. Kepler spürte den eigenen Atem nicht mehr, vor seinen Augen verschwamm alles, als er sich hochstemmte.
Ihm blieben noch fünfundvierzig Sekunden.
Nur noch ein Zentimeter.
Noch vierundvierzig Sekunden. Dreiundvierzig.
Als seine Hand sich über den Knopf hob, spürte er, dass sein Herz stehenblieb.