III.
13. Obwohl Arr und Borr jünger wirkten als Darr, dauerte es einige Minuten, ehe sie zu stöhnen aufhörten und es schafften, aufzustehen.
Kepler hatte sich indessen halbwegs dazu durchgerungen, wirklich zu akzeptieren, dass er nicht einen pilzbedingten Rausch im Schlaf durchmachte. Das lag nicht an dem seltsamen Verhalten der Menschen und nicht an allen anderen Indizien wie Sprache und Sterne.
Es war die Luft. Sie war einfach anderes. Kepler konnte den Unterschied nicht festmachen, aber er roch ihn. Deswegen wusste er sofort, dass er wirklich auf dem Kontinent war, der rigoros und absolut Besitz von seiner Seele ergriffen hatte, als er vor Jahrmillionen den ersten Schritt auf ihm getan hatte.
Er war zu Hause.
Sogar nicht allzu weit von der Stelle, wo seine ausufernde Hassliebe zu Afrika begonnen hatte. Lediglich etwas mehr als einhundert Kilometer trennten ihn von der Stadt am Zusammenfluss des Blauen und des Weißen Nils.
Das war abermals eine Wiederholung. In Khartum hatte Kepler eine lange Reise begonnen, dann hatte er die Stadt aufgesucht, um Menschen zu töten. Jetzt musste er wieder hin. Zumindest dahin, wo Khartum einmal gewesen war.
Aber diesmal, um Menschenleben zu retten.
Keplers drei Begleiter, oder auch Führer, waren ihm sympathisch. Zumindest hielt er ihnen zugute, dass sie nicht heulten. Dafür, dass sie wohl zum ersten Mal in ihrem Leben außerhalb einer Stadt waren und wie Espenlaub zitterten, machten Darr und Arr den Eindruck, und zwar einen entschlossenen, zügig von hier verschwinden zu wollen. Borr hatte die Reise sowohl körperlich als auch psychisch viel mehr mitgenommen. Er bemühte sich, seinen Freunden nicht nachzustehen, doch sein Gesicht war um einiges unleidlicher verzogen. Aber solange er sich nicht aufgab, konnte er einen Fuß vor den anderen setzen.
Die Sterne waren verschoben, die Sonne nicht. Kepler orientierte sich daran und ging los. Einige Augenblicke schloss Arr zu ihm auf, danach die beiden anderen. Kepler sah über die Schulter. Die Panik hatte den drei Kraft verliehen.
Nur nicht für lange. Bald fielen sie zurück und Kepler musste das Tempo reduzieren. Eine weitere Stunde später hörte er einen schwachen Ruf und sah zurück.
Borr stürzte erschöpft mitten in einem Schritt. Darr und Arr waren genauso unfähig, sich in den Schatten des niedrigen Gebüsches unweit von ihnen zu schleppen. Sie sanken neben Borr auf die Erde und blieben zusammengesackt sitzen.
Irgendetwas in Kepler wisperte leise. Er sah sich um. Außer einigen weiteren Büschen sah er von einem zum anderen Horizont nichts. Aber da war etwas.
Kepler legte die Hand an den Schwertgriff und sah sich wieder um. Nur eine kleine Wolke des vom Wind ein wenig aufgewirbelten Staubes zog etwa einhundert Meter weiter südlich am Gebüsch vorbei. Kepler ging zu den anderen.
"Wie haben die Syths die Kontrolle über den Shuttle übernommen?", fragte er.
Darr hob erschöpft den Kopf. Seine weiße Haut schimmerte schon knallig rot.
"Die können über die im All stationierten Relaisstationen ihre sämtlichen Gleiter und Einrichtungen überall auf der Welt steuern", antwortete er matt.
"Die Technik interessiert mich nicht", sagte Kepler. "Wie war das möglich, Darr? Sie waren zuversichtlich, dass wir den Flug ohne Zwischenfälle schaffen."
"Ich habe das alles auch jahrelang minutiös geplant", gab Darr schroff zurück.
"Und warum haben Sie die Fernkontrolle nicht einfach abgeschaltet anstatt uns raus zu katapultieren?", erkundigte Kepler sich beißend.
"Ich bin kein kriegerisches Genie", rechtfertigte Darr sich diesmal leicht verlegen. "Ich habe gedacht, wir schnappen uns den Gleiter, machen den kurzen Zwischenstopp und fliegen weiter in die Versiegelte Stadt." Er sah Kepler bittend an. "Ich bin in Panik geraten, ich habe doch vom Krieg keine Ahnung. Das ist ein Begriff, den die Menschheit schon vor langer Zeit vergessen hatte."
Er hatte eigentlich Recht. Und er dachte nüchtern und ohne sein eigenes Unvermögen beschönigen zu wollen. Für einen Theoretiker war das löblich.
"Und wissenschaftliche Experimente verlaufen immer so wie geplant, oder wie?", maulte Kepler trotzdem.
"Nein", räumte Darr ein.
"Aber mit unseren Leben experimentieren Sie einfach herum, ja?"
Darr gelang es, sogar halbwegs zerknirscht zu blicken.
"Entschuldigung", bat er.
"Schon gut", meinte Kepler. "Bringt eh nichts, wenn ich Sie verprügele."
Eine Zeitlang blickte er in die Weite. Aber entgegen dem Eindruck, den er einige Sekunden zuvor bei einem Seitenblick bekommen hatte, bewegte der Staub sich doch völlig korrekt in dieselbe Richtung, in die auch der Wind blies.
"Wir müssen schnell weg hier, Darr", sagte er dennoch. "Die Stadt, zu der Sie wollten, war es eben die unter uns direkt am Blauen Nil?"
"Wo?", fragte der Wissenschaftler erstaunt nach.
"Am Fluss."
"Ah. Ja, richtig."
"Ist von ihren Bewohnern vielleicht etwas Hilfe zu erwarten?"
"Nur wenn wir es richtig anstellen."
"Dachte ich mir", meinte Kepler. "Ihr seid zwar ein Galaktisches Jahr weiter, aber es hat sich nicht viel verändert, nur Al Hilaliya war zu meiner Zeit viel kleiner." Er änderte den Ton ins Rigorose. "Schaffen Sie die beiden auf die Füße. Es sind nur noch knapp vier Kilometer... also etwa zwanzig Stadien, bis dahin, und wir müssen es vor Einbruch der Dunkelheit dorthin schaffen."
Darr atmete tief ein und bewegte den rechten Arm. Oder, vielmehr, er hatte es versucht. Er sah wieder hoch, beinahe flehend.
"Geben Sie uns noch ein paar Minuten", bat er.
"Nein", erwiderte Kepler. "Wir müssen weiter."
Keuchend erhob Darr sich. Er ging mit weiterhin geschlossenen Augen zu seinen Kollegen und zerrte sie auf die Füße. Kepler sah sich um, er hörte nicht zu, was der Wissenschaftler den beiden zuflüsterte, es hörte sich nach Aufmunterung an. Als Kepler zu Borr sah, war dessen Blick dennoch völlig ermattet.
"Ich muss mal", flüsterte der Techniker.
Eigentlich bat Borr nicht – er bettelte. Kepler machte einladend eine ausholende Bewegung über die halbe Ebene. Borr sah ihn beinahe entsetzt an.
"Was ist?", staunte Kepler. Dann verstand er. "Sollen wir uns umdrehen?"
Borr nickte. Arr hatte sich zu dem Zeitpunkt schon umgedreht, und seine Augen waren geschlossen. Darr schaffte es, die Lippen in einem leichten Lächeln kurz auseinander zu ziehen.
Kepler sah amüsiert über die Schulter. Borr hatte eine gigantische Fläche zur Verfügung, wo eine Urinpfütze niemanden stören würde, aber nein, jetzt ging er trotz Erschöpfung weg. Und zwar zu einem dürren Stängel, der einsam aus der Erde ragte. Dass Borr der Pflanze etwas Gutes tun wollte, bezweifelte Kepler. Männer würden wohl bis zum Kollaps des Universums etwas brauchen, was sie anpinkeln könnten. Als Borr zögernd zur Hose griff, drehte Kepler sich weg.
Der Schrei hatte nichts Menschliches mehr in sich. Es war das pure, nackte, urtierische Entsetzen, das Borrs ganzes Wesen zerriss.
Kepler wirbelte herum. Seine linke Hand riss die Armbrust hoch, die rechte schnellte zum Schwert. Aber sein Blick erfasste gerade noch einen riesigen weißen Schatten, der im Gebüsch verschwand, und seine Ohren vernahmen das hässliche Geräusch von Knochen, die zermalmt wurden. Er sah noch kurz Borrs Füße etwa einen Meter über dem Boden zappeln, dann brach der Schrei abrupt ab und die Äste des Gebüschs schlossen sich wieder. Einen Augenblick später verschwand auch der peitschende Schwanz im dürren Grün.
Es war so schnell gegangen, dass Kepler es nicht geschafft hatte, die Armbrust abzufeuern. Er drehte sich um. Bevor sein Blick über die Umgebung strich, nahm er wahr, dass Darr und Arr so vor Angst gelähmt waren, dass sie nicht einmal schreien konnten, sie schnappten nur nach Luft wie gerade aus dem Wasser gezogene Fische. Sie standen nur da und zitterten.
"Rennt!", herrschte Kepler sie an.
Die beiden waren kurz davor, zusammenzubrechen, und er schlug sie mit der flachen Seite der Schwertklinge. Darr taumelte los und zog Arr hinter sich her.
Sie schafften es fünfhundert Meter weit, dann hörte Kepler, dass beide Männer pfeifend und rasselnd atmeten. Nicht einmal mehr das Adrenalin vermochte die Todesangst zu überwinden, sowohl Darr als auch Arr taumelten, sie konnten einfach nicht mehr. Nur Sekunden später wechselten beide ins Gehen und schleppten sich langsam, gebeugt und nach Luft schnappend zehn Meter weiter.
Kepler hörte Schritte hinter sich, schwer, schnell und unerbittlich. Er drehte sich um, steckte das Schwert in die Erde und hob die Armbrust.
Diesmal versteckte das Monster sich nicht, sondern rannte offen auf sie zu. Es wusste, dass es kein Entrinnen gab und anscheinend hatte es keine Lust mehr, zu spielen. Doch plötzlich blieb es stehen und fletschte die langen Stoßzähne.
Es war größer und massiger als eine Syth. Seine Haut hatte die Farbe von fahlem Weiß. Sie war absolut haarlos und wirkte hart wie Marmor, spannte sich jedoch geschmeidig über den gewaltigen Muskeln, und die schwarzen Venen unter ihr verästelten sich in einem bizarren Muster. Gigantische Klauen an seinen Pranken und an den Füßen hatten die Farbe alter Bronze und der peitschende Schwanz wand sich wie eine Schlange angespannt in der Luft. Und die düster leuchtenden roten Augen machten das Monster vollends und abgrundtief böse.
Sein schwerer Atem war nicht durch die Anstrengung bedingt, sondern klang angespannt misstrauisch. Entweder sah der Gool das Syth-Schwert vor Keplers Füßen, oder er roch es, oder er nahm es auf eine andere Art und Weise wahr.
Kepler versuchte, die Schwachstellen des Monsters auszumachen. Doch es türmte sich wie eine umbarmherzige Statue vor ihm auf. Einzig vor den Waffen der Syths schien der Gool sich zu fürchten.
Aber – so sehr auch nicht. Das Monster bewegte den Kopf hin und her und sein Atem wurde leiser. Es dachte langsam, aber es war nicht dumm. Es brauchte nur das Schwert zu neutralisieren, die beiden anderen Menschen zu töten würde sich dann nicht ansatzweise mühevoll gestalten.
Nur eine Armbrust hatte es wohl noch nie gesehen.
"Lauft weiter", warf Kepler über die Schulter. "Er ist allein hier."
Er war sich dessen sicher, denn zwischen den Zähnen des Gools hingen Fleischfetzen und von den Klauen seiner Pranken troff immer noch Blut.
Darr und Arr setzten sich in Bewegung und der Gool machte sofort zwei Schritte nach vorn. Kepler schoss. Der Bolzen durchschlug den Brustkorb des Monsters. Tiefschwarzes Blut spritzte und der Gool verharrte. Seine Beine knickten ein, aber dann richtete er sich wieder auf. Kepler spannte die Armbrust mit einem Ruck und riss sie wieder hoch, während er den nächsten Bolzen einlegte. Der Gool machte drei Schritte. Kepler zielte sorgfältig, drückte den Abzug und im nächsten Augenblick durchschlug der zweite Bolzen den Hals des Gools.
Die Armbrust zum dritten Mal zu spannen schaffte Kepler zwar, sie zu laden nicht mehr. Eine Fontäne schwarzen Blutes aus der zerfetzen Halsschlagader verspritzend, überbrückte der Gool mit zwei gewaltigen Sprüngen die Entfernung zwischen ihnen und wirbelte herum. Kepler warf sich auf den Boden, um dem Hieb des Schwanzes zu entgehen, griff zum Schwert und sprang auf.
Der Gool röchelte, während er sich duckte und die Arme spreizte. Kepler fasste das Schwert mit beiden Händen und sprang zur Seite und hoch. Mit aller Kraft rammte er die Klinge in den Schädel des Gools. Das Monster drehte sich fauchend und Kepler wurde auf den Boden geschleudert. Der Schwanz zerteilte die Luft über seinem Kopf mit pfeifendem Zischen, aber der Gool selbst bewegte sich nicht mehr ansatzweise so schnell wie vor einer Minute. Er langte mit der rechten Pranke zum Schwert und riss daran. Aber er tat es nicht gerade und das Schwert verhakte sich. Blut und Gehirnmasse traten aus der Wunde, doch der Gool wankte nur ganz leicht. Anscheinend stützte sein Nervensystem sich nicht nur auf das Gehirn, sondern auch auf mehrere autonome Knoten.
Kepler kam auf die Füße und musste hochspringen, um an das Schwert zu kommen. Seine Hände umfassten den Griff und drehten ihn, und als er wieder auf der Erde aufkam, riss der Schwung auch den Gool nach unten. Wütend fauchend schlug das Monster wild mit allen Extremitäten um sich. Mit den Händen am Schwert sprang Kepler hoch, damit der über der Erde peitschende Schwanz ihn nicht erwischte. Der Sprung verdrehte den Kopf des Gools, durchstieß ihn, und als Kepler wieder auf den Füßen aufkam, nagelte die Klinge das Monster auf der Erde fest. Im nächsten Sprung war Kepler außer Reichweite des Schwanzes. Er hob die Armbrust auf, lud sie und schoss. Das Blut spritzte wieder, als der Bolzen den Schädel des Gools durchschlug, aber das schien das Monster nicht sosehr toter, wie wütender zu machen. Kepler ließ die Armbrust fallen und sprang vor und hoch, um dem Schwanz und den Klauen des Gools zu entgehen. Seine Füße schlugen gegen den Schwertgriff und drückten ihn herunter. Das hebelte den Kopf des Gools auf und verdrehte seinen Körper, der Schwanz verhedderte sich zwischen seinen Füßen. Kepler sprang vom Schwert und beugte sich. Mit beiden Händen umschloss er den Griff, drehte das Schwert, riss es aus dem Kopf des Gools und hieb auf den immer noch verrenkten Hals des Monsters. Die Syth-Klinge trennte den Kopf des Gools fast mühelos ab.
Das düstere Blut des Monsters vergiftete sogar die Erde, sie klumpte sich zu schmutzig-gelben unförmigen Brocken. Einige Spritzer landeten auf Keplers Hose und Ekel überkam ihn, als die zähe Flüssigkeit durch den Riss in der Hose in den Kratzer an seiner Wade gelangte. Sofort spürte er deutlich ein schmerzliches Stechen. Erstaunt riss er das Hosenbein hoch, nahm einen Bolzen aus der Tasche und schabte mit der Spitze das schwarze Blut so gut es ging aus der Wunde aus. Es waren jedoch nur ein paar Tropfen, er bekam sie schnell entfernt.
Die Wunde verbinden musste er später. Er streifte das Hosenbein herunter und langte nach dem Schwert. Dabei fiel sein Blick auf den Gool. Dessen Körper zuckte, die Schwanzspitze ragte immer noch in die Luft und zitterte. Dann fiel sie kraftlos auf die Erde. Kepler trat den Kopf des Gools weg, sprang über die schwarze Blutlache und hob die Armbrust auf.
Als er sich umdrehte, sah er Darr und Arr nicht und in seinem Inneren wurde es kalt. Dann erblickte er eine kleine Staubwolke und seine Hochachtung vor den beiden Männern stieg wieder an. Der Kampf hatte keine fünf Minuten gedauert, und in dieser Zeit hatten Darr und Arr sich mehr als einen Kilometer weit entfernt. In arger Gefahr erwachte ihr Überlebenstrieb wohl doch.
Fast im selben Moment sah Kepler noch eine Staubwolke. Er hatte sich geirrt, der eben erlegte Gool war doch nicht allein. Kepler rannte los.
Er hatte die Entfernung zu Darr und Arr auf sechshundert Meter verkürzt, als der zweite Gool dreihundert Meter vor ihm nach links einschwenkte. Das grässlich mutierte menschliche Wesen war die genaue Kopie des ersten Gools und es verfolgte die beiden Wissenschaftler genauso wie das erste Monster mit langen Schritten, die wie Sprünge anmuteten. So verlassen und so ausweglos wie in diesem Moment hatte Kepler sich noch nie gefühlt. Darr durfte nicht sterben.
Das verlieh Kepler Kraft.
Aber er war nicht schnell genug. Als er nur noch zweihundert Meter zu rennen hatte, sah er, dass Arr stehenblieb. Darr rannte weiter. Dann blickten beide Männer einander über die Schultern an. Arr winkte krampfhaft, wohl damit sein Kollege sich und das Vorhaben rettete, weswegen sie hier waren. Dann wandte Arr sich ab, um sich für den winzigen Hauch einer Chance zu opfern. Der Gool kam schlitternd in einer Staubwolke nur wenige Meter vor ihm zum stehen, richtete sich zur vollen Größe auf und spreizte die Arme weit auseinander.
Kepler hatte inzwischen bis auf fünfzig Meter verkürzt. Er blieb stehen, lud mit drei Griffen die Armbrust und riss sie hoch.
"Runter!", brüllte er.
Arr konnte angesichts des Todes anscheinend nicht mehr denken oder er hatte den Schrei nicht gehört. Der Gool hatte es sehr wohl getan. Er drehte sich um und sein Schwanz schleuderte Arr mehrere Meter weit zur Seite. Im selben Moment schoss Kepler.
Wieder spritze Blut, als der Bolzen den Gool durchschlug. Genau wie das erste, staunte auch dieses Monster darüber und verharrte. Kepler nutzte die Zeit, um die Armbrust zu laden. Der Gool machte zwei Schritte zu ihm. Kepler zielte und schoss. Der Bolzen bohrte sich oberhalb des Knies in das rechte Bein des Monsters ein. Dessen Brüllen war vom Hass erfüllt, oder von einer sonstigen Empfindung, zu der das Monster fähig war. Es war wohl eher nur Wut. Kepler lud die Armbrust wieder, als der Gool blindwütig vorpreschte.
Der Bolzen hatte zwar eine größere Durchschlagwirkung, war aber bei weitem nicht so schnell wie ein Pistolenprojektil. Obwohl der Verletzung war der Gool imstande, den Bolzen wie eine Fliege mit einem Schlag zur Seite abzuwehren.
Kepler konnte die Armbrust nicht mehr spannen. Er brauchte Luft, das Nachladen hatte das letzte Molekül Sauerstoff in ihm verbrannt, vor seinen Augen wurde es dunkel. Er atmete heftig durch, dann sah er den Gool schemenhaft auf sich zustürmen, atmete nochmal durch, riss die Glock heraus und feuerte.
Auf fünfzehn Meter sah er, wie die Kugeln ohne irgendwelchen Schaden anzurichten gegen die Rippen des Monsters schlugen. Kepler zielte höher. Die Einschläge der Geschosse in die Fratze beeindruckten den Gool nicht sonderlich, doch sie verwirrten ihn. Dahingehend, dass er nicht mehr rannte, sondern etwas langsamer weiter stampfte. Dann war das Magazin leer. Kepler warf es aus, während er nach dem anderen langte. Es waren seine letzten vier Schuss. Sie bedeuteten vielleicht sechs Sekunden, dann würde der Gool noch ein paar brauchen, um ihm den Kopf abzubeißen. Kepler hielt die Glock weiter im Anschlag und wartete. Vier Meter vor ihm öffnete das Monster endlich sein gefräßiges Maul. Dessen Inneres mutete wie schmutziges rotes Feuer an.
Der Schlund des Gools sah widerlich aus, er roch auch so, doch gegen Neunmillimetergeschosse war es nicht resistent. Drei Projektile zerfetzten den Rachen des Monsters und plötzlich stürzte es unvermittelt zu Boden. Kepler sprang hoch, um dem Schwanz zu entgehen, den die zuckende Bestie dabei schwang.
Kepler riss das Schwert heraus, während er landete, und stürmte nach vorn. Beim Gool angelangt, rammte er das Schwert mit voller Wucht in seinen Schädel, als das Monster sich gerade erheben wollte. Dann sprang Kepler hoch, um dem Schwanzhieb zu entgehen, und drückte das Schwert dabei herunter. Als er auf dem Boden aufkam, war der Kopf des Gools genauso verdreht wie bei dem ersten. Kepler riss das Schwert heraus und hieb fast entkräftet auf den Hals des Monsters. Bevor er es zum dritten Mal tun konnte, schleuderte der Schwanz ihn drei Meter weit weg. Er sprang auf, parierte den nächsten Schlag mit der Klinge und trennte dabei die Spitze ab.
Der Gool blutete aus dem Maul, aus dem Hals, aus der Brust, aus den Beinen, aus dem Schwanz und aus dem Kopf. Und stemmte sich trotzdem auf die Knie und Hände. Kepler stieß ihm das Schwert in die Seite, riss die Waffe heraus und schlug dem Monster den linken Unterarm ab. Der nächste Schwanzhieb traf ihn von hinten gegen die Beine und er fiel auf die Knie. Im selben Moment köpfte er den Gool, duckte sich unter den letzten Schlag des Schwanzes, sprang auf und zur Seite. Dann blickte er über die Schulter. Der Gool bewegte sich nicht mehr.
Kepler ging davon, das Schwert über die Erde hinter sich her schleifend. Nach fünfzehn Metern sah er Darr. Erschöpft sank er auf die Erde vor die Füße des zurückgekehrten Wissenschaftlers und atmete durch.
"Ich habe ein System entwickelt, wie man die Viecher tötet", brachte er zwischen zwei Atemzügen heraus. "Jetzt will ich heim."
Darr grinste nur. Kepler konnte bald wieder normal atmen.
"Wie stehen meine Chancen nach Hause zu kommen obwohl Borr tot ist?"
"Solange Sie auf dem Weg in die Versiegelte Stadt weiterhin jeden Syth und jeden Gool töten, ganz gut", antwortete der Wissenschaftler. "Eigentlich bei hundert Prozent – vorausgesetzt, ich bin dann auch am Leben."
"Dann kleben Sie ab jetzt wie Klette an mir", befahl Kepler, rammte das Schwert in die Erde und stemmte sich daran hoch.
Darr überdachte die Anweisung recht verdattert blickend.
"Was auch immer Klette sein soll, ich werde nicht mehr von Ihrer Seite weichen", versprach er dann. "Scheint dem Überleben sehr zuträglich zu sein."
"Schön." Kepler sah in den Himmel. "Es wird dunkel. Wir müssen weiter."
Sie konnten nicht sofort weiterziehen, Kepler musste noch seine Wunden verbinden. Arr trat trotz seiner matten Bedrückung unwillkürlich zurück, als Kepler sagte, das Blut des Gools hätte sich abscheulich in der Wunde angefühlt.
"Was ist?", fragte er angesichts des sehr entgeisterten Blickes.
"Fühlen Sie sich gut?", erkundigte Darr sich.
Kepler zuckte die Schultern und nickte. Arr schien dennoch wegrennen zu wollen, obwohl die Frage eigentlich positiv beantwortet worden war.
"Ist das Zeug giftig oder was?", fragte Kepler.
"Der Mundschleim der Gools und ihr Blut ähneln dem Speichel von Spinnen, sind nur millionenfach stärker. Sie töten jedes Lebewesen, indem sie es zersetzen und in ein Gelee verwandeln, das die Gools dann fressen", antwortete Darr und sah Arr beruhigend an. "Ich sagte dir doch, er ist immun dagegen."
Der Techniker entspannte sich. Kepler hielt dagegen inne.
"Woher wissen Sie das?", fragte er scharf.
"Zu Ihrer Zeit kennt man die DNA schon und Ihre wurde registriert, als Sie bei der organisierten kriegerischen Clique waren", begann Darr.
"Das heißt – Militär", warf Kepler ein.
"Genau. Und ich brauchte jemanden, der gut... militärisieren kann und nicht anfällig ist für die... ähm... Tücken unserer Welt. Weil ich jeden beliebigen Zeitpunkt Ihres Lebens beobachten konnte, war ich bei der Untersuchung Ihrer DNA quasi dabei", erläuterte der Wissenschaftler. "So habe ich Sie ausgesucht."
"Danke sehr aber auch", gab Kepler zurück.
Trotz dieser Erklärung säuberte er die Wunde vorsichtshalber mit dem Klappmesser, bevor er sie verband. Während er die Packung mit dem restlichen Verbandzeug in der Weste verstaute, holte Darr die Armbrust. Er reichte sie ihm mit einer Zuversicht in den Augen, die Kepler selbst nicht empfand. Er hatte nur noch sechs Bolzen und eine einzige Patrone in der Glock. Damit, und unter Aufbietung aller Kraft, könnte er vielleicht noch ein Gool töten, wenn er Glück haben würde. Ein weiteres Monster würde ihn und die beiden Wissenschaftler töten. Und wenn die Syths auftauchen sollten, würde es noch schneller gehen.
Bevor sie aufbrachen nahm der Wissenschaftler aus irgendwelchen Gründen die Mühe auf sich, um das Schwert zu bitten, zum Gools zu gehen und ihm die Finger abzusäbeln. Er wickelte sie sorgfältig in ein Stück, das er von seinem Umhang abgeschnitten hatte, und steckte sie ein.
Sie beeilten sich wie sie es nur konnten, anscheinend verstanden Darr und Arr doch, dass sie eigentlich nur dann Chancen zu überleben hatten, wenn sie unbehelligt die Stadt erreichten – und von den Bewohnern aufgenommen wurden.
Die Mauern von Gondwana waren nicht so hoch wie die von Vineta. In der untergehenden Sonne glänzten sie jedoch genauso, anscheinend schützte die Stadt sich auf dieselbe Weise vor den Gools. Doch es war nicht die einzige Weise.
Von der Mauer blickten fünf mit Speeren und Bögen bewaffnete Männer herunter. Die Afrikaner hatten eine dunklere Haut und kürzere schwarze Haare als Darr und Arr. Einander glichen sie wie Brüder und sie waren alle relativ jung.
Darr hob den Arm und winkte. Einer der Männer verschwand, die anderen sahen weiterhin regungslos zu Kepler, Darr und Arr. Die Typen, und wenn auf ihren Speeren deutlich Gool-Krallen prangten, waren keine echte Bedrohung.
Kepler kam bis auf zwanzig Meter an die Mauer heran und blieb stehen, Darr tat dasselbe und sah ebenfalls hoch. Die Überheblichkeit, die er in Vineta teilweise sehr deutlich zur Schau getragen hatte, war längst von ihm abgefallen. Arr setzte sich entkräftet auf die Erde. Seit er fast gestorben war, hatte er nicht ein Wort gesagt. Jetzt schloss er die Augen und atmete tief durch, aber er zitterte immer noch, der erlebte Alptraum ließ ihn nicht los.
Ein Pfeifen ertönte. Kepler sah über die Schulter. Es hatte sich kein Tor geöffnet, es gab auch in Gondwana gar keines. Stattdessen ragte oben jetzt ein Ausleger über der Mauer. Unter ihm baumelte ein stabiler Korb, in dem sechs Männer standen. Fünf von ihnen hielten gespannte Bögen in den Händen. Der Mann ohne Bogen schien der Anführer zu sein. Er war jedoch nicht älter als die anderen, sondern hatte nur einen ein wenig herrischeren Gesichtsausdruck.
"Wer seid ihr?", rief er, nachdem der Korb in fünf Metern Höhe angehalten hatte. "Und was wollt ihr hier?"
Der Mann sprach dasselbe seltsame Englisch, aber es hörte sich für Kepler von der Betonung her etwas anders an. Darr trat vor.
"Ich bin Darr Orlikon der Siebzehnte aus Vineta, Vorsitzender des Wissenden Kreises", rief er zurück. "Ich möchte bitte mit eurem Bürgermeister sprechen."
Der Mann im Korb antwortete nicht, sondern hob einen Gegenstand an den Mund, der wie ein kleines Funkgerät aussah. Während er leise sprach, zielten die Schützen weiterhin auf Kepler, Darr und Arr.
Plötzlich gab es ein Geräusch und Kepler drehte sich um. Weit hinten mutete es an, als ob Staub aufgewirbelt worden wäre. Darr hatte ebenfalls hingesehen.
"Nehmt uns bitte mit", rief er, "wir schaffen keinen dritten Gool."
"Ach?", gab der Afrikaner höhnisch zurück. "Zwei habt ihr schon oder was?"
Anstatt zu antworten wickelte Darr sein Päckchen auseinander und hielt die abgeschlagenen Gool-Finger mit beiden Händen in die Höhe.
"Das ist ein Präsent für euren Bürgermeister", schrie er.
Alle sechs Männer im Korb blickten mehr als überrascht zu ihm. Dann sah der Anführer in die Ferne, hob den Kopf und winkte. Der Korb wurde hinaufgezogen und die Männer kletterten hastig aus ihm auf die Mauer.
"Sowas nennt man schon vor Jahrmillionen einen Griff ins Klo", bescheinigte er Darr, der weiterhin angespannt nach oben blickte.
Der Wissenschaftler erwiderte nichts und Kepler drehte sich um. Er sah nichts in der Weite. Aber nur einige Augenblicke lang. Dann bemerkte er wieder eine kleine Staubwolke. Jetzt nur noch fünfhundert Meter entfernt.
Mehr pro forma sah er über die Schulter, als er glaubte, an der Mauer ein Geräusch gehört zu haben. Er hatte sich nicht verhört, der Korb senkte sich wieder herab, diesmal leer. Darr trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, nachdem er nach hinten geblickt hatte. Kepler drehte den Kopf zurück. Das winzige Gebüsch keine hundert Meter entfernt wackelte entgegen der Windrichtung.
Kepler hob die Armbrust. In diesem Moment sprang Darr zu Arr und zog ihn hoch. Der richtete sich nur behäbig auf und der Wissenschaftler zerrte ihn zur Mauer. Kepler schritt langsam rückwärts. Arr lebte endlich etwas auf und begann in den Korb zu klettern, aber Darr musste ihm dabei helfen.
Der Busch öffnete sich und ein Gool kam heraus. Das Monster war wie die beiden ersten die personifizierte weiße, drei Meter große, pure Bösartigkeit.
Kepler sprang an den Korb, packte mit einer Hand an die Kante der Wandung, die sich in einem Meter Höhe befand, und schwang sich über sie. In der Gondel ließ er die Armbrust fallen, griff nach Arrs Händen und riss ihn hinein. Der Techniker blieb reglos auf dem Boden liegen und Kepler beugte sich über die Wandung, um Darr zu helfen. Von oben erklangen warnende Rufe und der Korb begann sich nach oben zu bewegen. Kepler zog Darr hinein, während der Gool in großen Sprüngen die Distanz auf weniger als fünfzig Meter reduzierte.
Darr sank schwer atmend auf dem Boden, als das Monster an der Mauer ankam und der Korb sich in etwa zehn Metern Höhe befand. Dort hielt er an.
"Bitte!", brüllte der Wissenschaftler drängend. "Zieht uns rauf!"
"Ihr seid in Sicherheit und man hat noch nicht entschieden, ob man euch trauen kann", schrie jemand von oben zurück.
Kepler hob die Armbrust auf und sah nach unten. Der Gool hatte den Kopf in den Nacken gelegt und fletschte die Zähne. Abgesehen vom zischenden Atmen des Monsters und dem leisen Quietschen des baumelnden Seils, an dem der Korb hing, war es vollkommen still geworden.
Der Gool senkte den Kopf, trat langsam zwei Schritte zurück und krümmte sich, als wenn er eingesehen hätte, dass die Beute nun außerhalb seiner Reichweite war. Im nächsten Augenblick sprang er hoch.
Die Klauen seiner ausgestreckten Pranke verfehlten den Korb um etwa einen Meter. Oben auf der Mauer erschallte höhnisches Gelächter, als der Gool auf den Füßen landete. Er sprang sofort wieder hoch. Diesmal versuchte es nicht, den Korb mit seinen Klauen zu erreichen. Stattdessen drehte es sich im Sprung um. Sein Schwanz war so lang wie sein Körper, und dessen Schlag schleuderte die Gondel heftig zur Seite. Kepler hielt sich am Seil fest, das zwischen der vorderen linken Ecke des Korbes und der Tragtrosse gespannt war. Darr griff zum Seil an der vorderen rechten Ecke, wurde herausgeschleudert, flog im Kreis und klatschte wieder in die Gondel hinein. Arr rutschte indessen teilnahmslos aus dem Korb. Erst im letzten Moment krallten seine Finger sich in die Kante der Wandung. Er hatte genug Kraft, um sich festzuhalten, als der Korb zurückschwang, aber er blieb draußen an der Wandung hängen.
Oben an der Mauer ertönten aufgeregte Schreie. Im selben Moment als der Korb einen Ruck nach oben machte, sprang auch der Gool hoch. Kepler schoss.
Der Bolzen drang in den Gool-Schädel ein. Der Schwanz des Monsters schlug dennoch nur Zentimeter neben Arr gegen den Korb. Kepler und Darr hielten sich an den Seilen fest, als der Korb erneut so stark und heftig ausschwang, dass er nicht heraufgezogen werden konnte. Kepler senkte die Armbrust, schob den Fuß in den Bügel und wartete, bis er das Seil loslassen konnte.
Die eigentlich tödliche Kopfverletzung störte nicht einmal die Koordination des Gools. Stark blutend zwar, aber er richtete sich sofort wieder auf.
"Helfen Sie Arr!", schrie Kepler, während er an der Sehne riss.
Er spannte die Armbrust, knallte den nächsten Bolzen in den Laufschlitz und warf sich an die vordere Wandung. Das zweite Geschoss traf den Gool wieder in den Kopf. Er taumelte einige Schritte zur Seite. Dann warf er sich an die Mauer und versuchte, hoch zu klettern. Er rutschte ab, verlor aber nichts von seiner Mordlust. Kepler hatte die Armbrust schon geladen, als das Monster zum nächsten Sprung ansetzte. Diesmal traf der Bolzen es in die Brust und es fiel hin.
"Stopp!", brüllte Kepler, als ein Ruck am Korb ihn fast von den Beinen warf.
Er spannte die Armbrust und erst jetzt schaffte Darr es, Arr in den Korb zu ziehen. Beide fielen keuchend zu Boden. Kepler legte den nächsten Bolzen ein, beugte sich über die Wandung und schoss auf den Gool, der sich abermals erhob. Der Bolzen durchbohrte dessen Rücken und er fiel wieder hin.
Ein geübter Schütze brachte es mit einer Armbrust auf eine Kadenz von vier Schüssen pro Minute, ein Anfänger schaffte zwei. Kepler hatte viermal geschossen. Er hatte fast keine Kraft mehr, aber er versuche nochmal, die Sehne zu spannen. Er schaffte es erst beim zweiten Mal, sie einzuhaken. Er lud die Waffe, taumelte gegen die Wandung und schoss mehr nach Gefühl. Das Projektil traf den Gool von hinten in die linke Seite und diesmal brüllte er auf.
Dieses tierische, aber deutlich wütende und enttäuschte Jammern schien Darr einiges an Kraft zu verleihen. Er hob die Armbrust, die Kepler kraftlos fallen lassen hatte, und versuchte sie zu spannen. Es gelang ihm beim dritten Versuch und er hielt Kepler die Waffe hin. Die paar freie Atemzüge hatten Kepler ein wenig regeneriert. Er legte den letzten Bolzen ein und zielte diesmal sorgfältig.
Der Bolzen schlug seitlich direkt in die Schädelbasis des Gools ein. Das musste auch beim Gool wie bei jedem Wirbeltier eine Schwachstelle sein. Der Bolzen schlug aber nicht genau dort ein, wohin Kepler gezielt hatte.
Doch auch diese Verletzung bedeutete anscheinend ziemliche Schwierigkeiten für den Gool. Er versuchte nicht mehr anzugreifen, er richtete sich nicht einmal auf. Langsam machte er sich daran, weg zu kriechen.
Im selben Moment kamen die Beschützer von Gondwana wieder zu sich.
Der Korb wurde weiter hochgezogen. Zugleich deckte eine dichte Garbe aus Pfeilen den Gool ein. Die Geschosse richteten nicht viel an, aber es waren sehr viele. Und manche blieben im Gool stecken. Er versuchte, schneller zu krabbeln, aber ein zweiter Pfeilhagel deckte ihn ein. Diesmal brannten die Geschosse, und einige bohrten sich in den Rücken des Monsters. Der Gool brüllte, schaffte es, sich aufzurichten und humpelte davon. Nach vierzig Metern brach er zusammen.
Als der Korb die Mauerkante erreichte, sah Kepler, dass der Gool zu zucken aufgehört hatte. Der Kadaver verbrannte und schwarzer öliger Rauch legte sich schwer auf die Erde um ihn herum.
Es waren jetzt etwa einhundert Männer an der Wehr, die euphorisch den Sieg über den Gool feierten. Sie verstummten schlagartig, als die Gondel anhielt, und starrten in Keplers Gesicht. Auf den Wink des Anführers, der vorhin im Korb gewesen war, brachten zwanzig Schützen ihre Bögen in Anschlag.
"Seine Augen sind nur ein Geburtsfehler!", schrie Darr. "Ich schwöre es!"
Anscheinend galt zu den Zeiten einer technologisch hochentwickelten Zivilisation die Ehrenbehauptung noch einiges, auf Darrs Worte hin wollten die Gondwaner Kepler nicht mehr töten oder in Quarantäne stecken. Der Anführer machte einen Wink und die Schützen senkten ihre Bögen. Kepler, Darr und Arr wollten aus dem Korb klettern, als ein junger Mann an den Anführer trat und ihm etwas sagte. Der nickte und der junge Mann hob gebieterisch die Hand.
"Halt", befahl er herrisch und machte eine Pause. "Ich bin der alleroberste Adjutant des Bürgermeisters von Gondwana."
Mit einem erhabenen Blick, als wenn er selbst und die Tatsache, dass er diese Funktion innehatte, über die Grenzen der Stadt hinweg bekannt sein müssten, verstummte er wieder. Kepler und Darr nickten, Arr regte sich gar nicht. Beide Reaktionen gefielen dem Mann nicht besonders. Noch weniger gefiel ihm das kollektive schiefe Lächeln der gleichartig aussehenden Bogeschützen, als sie hörten, wie er sich selbst bezeichnet hatte. So geringschätzig wie sie ihn anblickten, war der oberste Adjutant höchstens ein persönlicher Bote.
"Bevor ihr zu Masta dürft, gebt ihr mir die Krallen, das Ding da", er deutete auf die Armbrust, "und das Schwert."
Von allen Männern, die Kepler in dieser Zeit bis dahin gesehen hatte, war der Adjutant der erste und einzige Mann, der lange, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare trug. Auch sein Gesicht wirkte feminin, es hatte weiche Züge, war sehr hell und völlig haarlos. Der Adjutant roch schon auf die Entfernung nach Kosmetika, was seine unnatürlich wirkende Erscheinung unterstrich.
Trotz alledem schien ihm im Gegensatz zu den anderen bewusst zu sein, wer den Gool erlegt hatte. Und das bereitete ihm sichtbar ziemlichen Unmut.
Darr gab ihm die Gool-Klauen. Mit einer gönnerhaften Bewegung nahm der Adjutant sie und steckte sie dann hastig ein. Kepler reichte ihm wortlos die Armbrust, zog das Schwert aus der Scheide und hielt es ihm mit dem Griff voran hin. Obwohl es gekürzt war, identifizierten die Bogenschützen es sofort als eine Syth-Waffe. Während sie erstaunt von der Armbrust zum Schwert blickten, sah der Adjutant bemüht abwertend auf Kepler.
"Auch. Die. Pfeile", verlangte er abfällig Wort für Wort.
"Ich habe keine mehr", antwortete Kepler.
Der Adjutant musterte ihn argwöhnisch. Dann senkte er die Armbrust. Er hatte wohl genau zugesehen, er spannte sie mit einem einzigen Ruck. Während er sie hochhob, langte er zum Köcher des Mannes, der neben ihm stand, zog einen Pfeil heraus, legte ihn ein und brachte die Armbrust in Anschlag.
"Ich habe keine Geschosse", sagte Kepler mit ruhigem Nachdruck. "Und das da", er deutete auf den auf ihn gerichteten Pfeil, "wird nicht funktionieren."
Bevor man ihn, Darr und Arr wieder hinabließ, sprang er aus der Gondel. Der Adjutant trat unwillkürlich zurück und sein Finger am Abzug krümmte sich.
Die Sehne schnellte vor und ihre Kraft ließ den Pfeil einfach zersplittern.
Kepler sah sich um. Die Weste würde ihn vor den Pfeilen schützen, bis er sein Schwert wiederhatte. Minuten darauf würde Gondwana etliche Verteidiger weniger haben. Darr legte die Hand schnell an seine Schulter. Er klammerte sich förmlich daran fest, als er aus der Gondel krabbelte, und hielt Kepler so zurück.
"Der Pfeil ist zu lang und zu elastisch", erklärte er dabei in einem freundlich heiteren Ton. "Bringt uns zu eurem Bürgermeister und wir erklären euch, wie ihr solche Waffen herstellen könnt und wie ihr mit ihnen umgehen müsst."
Der Adjutant wollte etwas hitzig erwidern, aber der Anführer trat vor ihn und deutete den Schützen, die Bögen zu senken.
"Ich bin Hauptmann Doii", stellte er sich kühl und sachlich, aber dennoch halbwegs freundlich vor. "Ich bringe euch zu Masta Koii."
Als wenn er sich übergangen fühlte, verzog der Adjutant gekränkt sein Gesicht. Der Anführer schnaubte kaum hörbar. Ohne ihn anzusehen, nickte er Darr gefällig zu und deutete erst ihm, dann Kepler und Arr mit einer fast einladenden Geste auf die Treppe, die von der Wehr führte. Der Adjutant drängte sich mit gehetztem Gesichtsausdruck vor und begann den Abstieg als erster.
Darr, der Arr stützte, setzte sich in Bewegung, Kepler folgte den beiden. Auf eine Geste des Hauptmanns hin gingen auch einige Bogenschützen los.