11. Die Mauer um Vineta herum war grau, zehn Meter dick und fünfzig hoch und hatte keine Tore. Ein ähnlicher Schutzwall, jedoch mit einem von schweren Schiebeplatten verschlossenen Tor, trennte den Tributplatz vom Rest der Stadt.
Vier Männer in grauen Overalls stemmten sich mit aller Kraft gegen eine Platte. Unter ihren Anstrengungen glitt sie gespenstisch geräuschlos etwas auf und gab die Sicht auf die drei Quadratkilometer große, von einer weißen Schneepelerine bedeckte, unberührte Fläche frei. Die Sonne flimmerte als eine triste gelbliche Scheibe blass durch die Wolken, und in ihrem stumpfen Licht schimmerte die Weite zwischen der Südmauer von Vineta und dem Tor nicht einfach nur trist. Sondern leblos.
Genauso wirkten die Augen der zwanzig jungen Menschen im Tor der Trennmauer. Die vierzehn Frauen und sechs Männer waren sehr jung, hatten athletische Körper und blasse Haut. In ihren Gesichtern lag stumpfe Ergebenheit. Ohne jegliche Regung hörten sie einer adrett gekleideten Frau zu, die ihnen dankte, dass sie sich dem Los gefügt hatten und sich opferten, damit andere leben konnten. Zumindest bei einigen Opfern mutete es an, dass sie froh waren, die erbärmliche Existenz in Angst und Ausweglosigkeit bald zu beenden. Niemand von ihnen starrte Kepler so an wie andere Bewohner von Vineta es getan hatten.
Der Pavillon hatte nur zwei Eingänge, einen im Norden und einen im Süden, und seine Wände waren fensterlos. Er stand strategisch richtig mitten auf der freien Fläche, sich ihm ungesehen zu nähern war unmöglich.
Kepler verinnerlichte die Begebenheiten des Tributplatzes und berührte dann die Mauer, ihr Widerschein hatte ihn stutzig gemacht. Das Material dieses Bauwerks war anders als das der Gebäude in der Stadt. Keplers Finger glitt sofort ohne jede Andeutung von Widerstand herunter. Die Mauer war absolut glatt.
"Die Gools können sehr gut krabbeln", sagte Darr auf seinen erstaunten Blick hin. "Bevor die Syths kamen, hatten die Maschinen die Mauern gebaut und diesen Überzug entwickelt. Die Gools rutschen einfach ab." Der Wissenschaftler seufzte. "Leider sind nicht alle Maschinen auf die Lösung gekommen. Deswegen sind fast überall woanders die Menschen so gut wie vollständig ausgerottet."
"Die Reibung ist gleich Null. Zu so etwas sind die Computer fähig, aber zum Kämpfen nicht", kommentierte Kepler. "Hätten die etwas mehr nachgedacht, ihnen wäre bestimmt ein Weg eingefallen, auch die Syths zu besiegen."
"Sie haben ja einen Weg gefunden, mit den Syths einig zu werden", erwiderte Darr bitter und sah auf die jungen Männer und Frauen. "Jeder andere Weg hätte nur mehr Gewalt bedeutet. Das können die Computer nicht akzeptieren."
"So nach dem Motto – der Klügere gibt nach?", riet Kepler.
"Ja, so ungefähr."
"Kein Wunder, dass es soweit gekommen ist." Kepler sah den Wissenschaftler schief an. "Mit Verlaub, Darr, Ihre Zeit wird von Idioten regiert."
"Ihre etwa nicht?", gab der Wissenschaftler beißend zurück.
"Ne", meinte Kepler, "in meiner prügeln die Idioten sich noch um die Macht."
Abgesehen davon, dass die Mäntel der Todgeweihten weiß statt schwarz waren, glich die Prozession einem Begräbnisgang. Eigentlich war sie einer.
Kepler, Darr und die beiden Techniker trugen weit geschnittene Überwürfe mit Kapuzen. Der Wissenschaftler war davon überzeugt, dass die Syths sie vier nicht wahrnehmen würden, aber Kepler tat sich schwer, daran zu glauben.
Die zukünftigen DNA-Spender nahmen es gleichgültig hin, als Darr ihnen sagte, er, Kepler und die beiden anderen würden dafür sorgen, dass sie nicht geopfert werden mussten. Nicht einmal das an Keplers Rücken hängende Schwert und die Armbrust in seinen Händen hatten bei den Todgeweihten den winzigsten Anflug einer menschlichen Regung mehr auslösen können. Oder auch nur die simple Freude. Andererseits, sie wussten auch gar nicht, was sie da sahen.
Um Punkt zwölf Uhr gingen sie im Gänsemarsch durch das Tor. Es kümmerte sie nicht im Geringsten, ob Kepler, Darr und dessen beide Kollegen wirklich mitkamen, nicht einer drehte sich um und sah nach.
Kepler überholte die Kolonne und ging an ihrer Spitze weiter. Darr mit einem Koffer in der Hand folgte als letzter der kleinen Prozession. Arr und Borr gingen vor ihm, jeder von ihnen trug einen Sack mit Esspulver. Als der Tross den Pavillon erreichte, blieben die Männer und Frauen mit gesenkten Köpfen stehen. Nur ein paar schlangen die weißen Umhänge straffer um sich, der Wind hatte zwischendurch aufgefrischt. Kepler musterte die ergebenen Opfer. Sie würden alles tun, was er ihnen sagen würde. Oder was die Syths befehlen würden.
Das Innere des Pavillons bestand aus einem einzigen Raum. Fenster gab es nur in der Decke. Aus zwei Öffnungen unter der Dachkante kam die etwa dreißig Grad warme Luft vom Heizer, der westlich neben dem Pavillon stand.
Kepler machte die Tür zu und kauerte sich an der Ostecke hin.
Zuerst sah er die Punkte hoch im Himmel, dann hörte er sie. Mit einem fauchenden Geräusch stürzten zwei Gleiter zur Erde. Etwa einen Kilometer vom Pavillon entfernt schwebten sie hintereinander über dem Schnee, solange die Landestützen ausfuhren. Die Gleiter waren nicht groß, von unbestimmtem braunem Ton und muteten wie böse, platte Frösche an. Sie schwebten jetzt lautlos, ihre Triebwerke funktionierten anscheinend indem sie die Gravitation nutzten.
Kepler setzte das Monokel ans rechte Auge. Die Gleiter setzten auf. Von der Seite des vorderen kippte eine schmale Treppe ab. Für einen Moment sah Kepler die Luft an der Luke kurz schimmern. Danach sah er nichts mehr. Erst nach einigen Sekunden sah er, wie die Luft über der Treppe wieder in verschiedenen Lichtfarben aufflimmerte. Dann sah er zwei durchsichtige Silhouetten, die reglos vor dem zweiten Gleiter dastanden. Wieder schimmerte es, dann nochmal, und zwei weitere durchscheinende Schatten verharrten nebeneinander in einem Abstand zu den zwei ersten Umrissen, die die Sonnenstrahlen verzerrten. Die Treppe des hinteren Gleiters senkte sich zwischen die beiden Paare.
Als sie die Erde berührte, wurden die schimmernden Schatten erst trüb, dann verdichteten sie sich. In mehr als zwei Metern Höhe bildeten sich kleine helle Kugeln, zogen sich zu runden hellweißen Blitzringen auseinander und rasten zuckend über die Konturen der durchsichtigen Schatten zur Erde. Die Silhouetten verdichteten sich, dann materialisierten sie sich nacheinander zu vier Syths.
Der Vorgang sollte wohl eine erdrückende Wirkung erzeugen. Oder die Außerirdischen hatten das Ganze nicht nur für Menschen inszeniert, sondern auch, um sich selbst wieder einmal zu zeigen, wie furchteinflößend sie waren.
Die Isolation hatte die gefangene Syth wohl ziemlich verändert, denn diese vier Syths wirkten sogar auf die Entfernung verführerisch. Sie waren schlank und ihre enganliegenden Anzüge betonten ihre deutlich ausgeprägten Hüften, Taillen und Brüste. Ihre straffen Muskeln beulten sich nicht aus, sondern spannten nur sehr dezent den Stoff. Die Anzüge umschlossen komplett die Körper der Syths, die Kapuzen ließen nur die Gesichter frei. Ob sie bei diesen Syths wie ihre Körper auch so deutlich femininer als bei der gefangenen Außerirdischen waren, konnte Kepler nicht feststellen, die Syths trugen Masken.
Die schienen die Gesichter der Außerirdischen so eng zu umschließen wie die Anzüge ihre Körper. Die Masken unterschieden sich leicht voneinander, stellten aber alle ästhetisch geformte, zierliche Gesichter dar. Im Prinzip, denn die geistlose Unbeweglichkeit der Masken, die bodenlose Schwärze in den riesigen, sich vorwölbenden Augenöffnungen, die angedeutete Nase und der grotesk erstarrte winzige Mundspalt manifestierten die grausame Wirkung der Außerirdischen.
Ihre gnadenlos harte Erscheinung wurde durch Waffen verstärkt. Bei jeder Syth hing am schmalen Gürtel mit massiver Schnalle links ein gerades Schwert mit langem Griff und einfacher Parierstange. Rechts steckten im Gürtel jeder Außerirdischen ein Bumerang und eine Waffe, die einer Pistole glich, wahrscheinlich war das der Netzwerfer. Quer hinter dem Rücken trug jede Syth anscheinend die Lichtbogenwaffe, die entfernt an eine schlanke kurze Muskete erinnerte. Eine Außerirdische hielt noch einen Metallkoffer in der Hand.
Die fünfte Syth, die jetzt aus dem Gleiter kam, sparte sich die Attraktion mit der Unsichtbarkeit. In absoluter Gewissheit, diese Fähigkeit nicht zu brauchen, trug sie einen bodenlangen schwarzen Mantel, der sich wie ein Hauch der Finsternis an ihren Körper schmiegte. Er weitete sich in der Taille ein wenig und teilte sich in vier lange Bahnen, die die Beine der Syth umflossen. Der Mantel war nicht zugeknöpft, und als die Außerirdische von der Treppe auf die Erde trat, öffnete ein Windstoß ihn für einen Augenblick. Der graziöse Körper dieser Syth war zwar nur einen Hauch, aber augenfällig deutlicher und aufreizender ausgeprägt als bei den vier anderen, und ihre grazilen Bewegungen waren leichter, fließender und fast schon anmutig. Sanft waren sie allerdings nicht. Stattdessen wirkten sie kompromisslos entschlossen und unbarmherzig.
So wie ihre Maske es war. Vom großen Stehkragen des Mantels umrandet, glich sie nicht wie bei den anderen vier Syths der erstarrten hohlen Fratze einer hübschen, aber seelenlosen Puppe, sondern wirkte bizarr und abscheulich. Die absolut natürlich und echt wirkende Nachbildung des menschlichen Totenschädels kehrte den eigentlich wunderschönen Anblick der Syth zu einem bedrohlich grässlichen Albtraum um, der sich gemächlichen Schrittes unaufhaltsam wie die personifizierte endgültige Erbarmungslosigkeit dem Pavillon näherte.
Diese Syth hatte kein Schwert, sondern nur eine viel längere und filigranere Lichtbogenwaffe als die anderen. Ihre rechte Hand balancierte die Waffe mit lässig feinen, selbstverständlichen Bewegungen auf der Schulter. Obwohl sie von vier kampfbereiten Syths flankiert wurde, blickte diese Außerirdische als einzige ständig über die Umgebung. Die knappen wachsamen Kopfbewegungen verliehen ihrem Anblick die Wirkung des lauernden Unheils.
Anscheinend funktionierte der Tarnumhang wirklich, keine Syth sah zu Kepler oder auf die andere Seite des Pavillons, nicht einmal die aufmerksame mit der Totenmaske. Die Syths öffneten einfach die Nordtür und gingen in den Pavillon.
Kepler legte die Armbrust hin und sprang auf, sobald er die Schritte der Außerirdischen auf dem dünnen Boden des Pavillons hörte. Als er an der Südtür war, trat die erste Frau schon herein. Durch die Tür sah Kepler, dass drei Syths in einer Reihe fast mitten im Raum standen, die Arme bedrohlich angewinkelt und die Köpfe abfällig angehoben. Der Koffer stand offen und die vierte Syth richtete so etwas wie eine Kamera auf die Frau, anscheinend war es ein Scanner. Die Syth mit der Totenkopfmaske stand abseits, und zwar relativ dicht an der Tür.
Kepler sprang zur Ecke. Darr und seine beiden Helfer sahen aus dem winzigen Gebäude des Heizers zu ihm. Die Hände des Wissenschaftlers lagen auf dem Gerät, Arr und Borr hielten offene Säcke hoch. Kepler nickte. Darr machte den Heizer aus und riss eine Klappe hoch. Die beiden Techniker schüttelten das Esspulver in den Ansaug des Heizers. Etwa ein Drittel landete auf dem Boden.
Etwa fünf Minuten waren vergangen, seit die erste Frau den Pavillon betreten hatte. Der Wind heulte kurz und jammernd an der Dachkante auf. Plötzlich hörte Kepler ein knappes aufforderndes Rufen. Er rannte zur Tür, während er eine Hand nach hinten hielt, damit die nächste Tributkandidatin stehen blieb. Er zog das Feuerzeug heraus und zündete es an. Die Flamme am Docht wackelte, und Kepler schirmte sie mit der Hand ab, bis sie sich stabilisiert hatte. Dann sah er zu Darr. Die Stimme hinter der Tür rief nochmal, diesmal erbost.
In diesem Moment jaulte das vorhin völlig lautlose Gebläse des Heizers mit hoher Drehzahl auf. Kepler öffnete die Tür. Die erste Frau verließ den Pavillon gerade durch die Nordtür. Sie war akzeptiert worden, die fünfte Syth deutete ihr, zum Gleiter zu gehen. Plötzlich riss die Außerirdische den Kopf zu den beiden Lüftungslöchern unter dem Dach hoch, aus denen endlich Myriaden weißer Partikel herauskamen. Sie verteilten sich nicht sehr homogen im Pavillon, aber direkt über den vier Syths sammelten sie sich – hoffentlich – in einer Dichte von fünfhundert Gramm pro Kubikmeter Luft.
"Runter!", brüllte Kepler zu der Frau in der Nordtür.
Als er das Feuerzeug in den Pavillon warf, machte die wachsame Syth einen Satz zur Nordtür. Kepler sprang so weit wie er konnte von der Tür zur Seite.
"Auf den Boden!", schrie er dabei den anderen Tributen zu.
Kaffeebohnen in Brand zu stecken war schwierig. Zerrieb man sie, verbrannten sie sehr leicht. Umso einfacher, je feiner der Staub war, weil dadurch die Fläche der einzelnen Partikel, aus denen er bestand, vergrößert wurde. Infolgedessen konnten sie sehr schnell oxidieren, Wärme aufnehmen und rasant verbrennen.
Dabei entstanden Gase. Sie mussten sich ausdehnen, und sie taten es schlagartig. Kepler hatte weder Kaffee gehabt, noch existierte Hausstaub in den sterilen Bauten von Vineta. Aber mit Mehl funktionierte es genauso. Und weil das Esspulver aus organischem Material bestand, explodierte es auch.
Es mochte alles ein Traum sein. Doch die monumentale Explosion weckte Kepler nicht auf. Stattdessen stieß die Druckwelle ihn heftig mit der Nase in den Schnee. Er rollte sich zur Seite. Der Pavillon existierte nicht mehr als ein Ganzes, sondern verteilte sich in kleinen Stücken in der Umgebung, während dort wo er gestanden hatte, ein schmutzig-gelber Feuerball aufstieg. Kepler warf einen Blick auf die Opferkandidaten. Niemand bewegte sich. Kepler krabbelte los.
Er hatte die Armbrust gerade erreicht, als er in einer Schneeverwehung zwei starke zierliche Arme sah. Sie senkten sich, die schmalen Hände drückten gegen den Boden, und eine Syth stemmte sich schwerfällig hoch.
Auf den Knien sitzend, richtete die Außerirdische sich taumelnd und schwer atmend auf, dann krümmte sie sich. Sie war verletzt, ihre linke Seite rauchte, in ihrem Bauch steckte ein Stück Plastik, aus dem der Pavillon errichtet war. Kepler griff zur Armbrust. Während er sie dabei mit seinem Umhang abzudecken versuchte, richtete er die Waffe mit einer schnellen Bewegung auf die Syth.
Die drehte langsam den Kopf. Nichts an dieser Bewegung verriet, ob sie Kepler sah oder nicht, sie legte nur die linke Hand auf die Schnalle ihres Gürtels.
Als Kepler auf den Abzug drückte, gab die simple Abzugvorrichtung die Sehne frei und sie schnellte mit einem knappen Zischen nach vorn. Die Syth hörte das Geräusch und zuckte schwerfällig mit dem Kopf. Im selben Moment schlug der Bolzen in ihre Maske ein. Direkt oberhalb der Augen, dabei hatte Kepler auf den Hals gezielt. Aber er hatte aus der Bewegung heraus in Höhe des Bauchs geschossen und es war ihm egal, dass er den Zielpunkt eigentlich verfehlt hatte.
Der Bolzen durchschlug die Maske und verschwand gänzlich dahinter. Die Syth versteifte für einen Augenblick. Im nächsten fielen ihre Hände kraftlos herunter. Eine Sekunde lang blieb die Außerirdische noch aufgerichtet auf Knien stehen, dann kippte ihr Kopf zur Seite, während der Oberkörper langsam vornüber fiel. Der Aufschlag wirbelte ein Schneewölkchen auf, dann bewegte sich nichts mehr. Kepler atmete durch und senkte die Armbrust.
Er sah wieder eine Bewegung im Schnee und ging hin, es musste die Frau sein, die als erste in den Pavillon gegangen war. Dann sah er grünliches Schimmern.
Die wachsame Syth mit der Totenmaske richtete sich schneller auf als die verletzte Außerirdische es getan hatte. Diese Syth hatte die Explosion allem Anschein nach völlig unbeschadet überlebt und so wie sie sich umblickte, musste sie älter und erfahrener sein, als die vier anderen Syths es gewesen waren.
Kepler blieb stehen, senkte die Armbrust, schob den linken Fuß in den Steigbügel an ihrem vorderen Ende und fasste an die Sehne. Die Syth bewegte indessen den Kopf weiterhin hin und her. Kepler machte den Rücken gerade und riss die Sehne hoch, als die Syth in seine Richtung blickend in einer erstaunt wirkenden Geste verharrte. Die Handschuhe bewahrten Kepler vor zerschnittenen Fingern, die Sehne war sehr stramm und er musste seine ganze Kraft aufwenden, um sie bis zum Spannhaken zu ziehen. Als er sie einhakte, regte die Syth sich.
Der Umhang war zwar weit geschnitten, aber nicht weit genug, um ihn vollkommen beim Laden der Armbrust zu verhüllen. Doch es mutete Kepler an, dass die Syth aus einem anderen Grund relativ langsam handelte, nicht weil sie ihn nicht sah. Vielleicht hatte Darr tatsächlich Recht gehabt und die Außerirdische war einfach überrumpelt, weil ein Mensch sich gegen sie auflehnte.
Das kurze Zögern der Syth löste sich wieder auf, und anscheinend galt dasselbe für Keplers Unsichtbarkeit. Er legte gerade den Bolzen ein, als die Außerirdische mit einer nach hinten gerichteten ruckartigen Bewegung der Armen und den Schultern den Mantel abwarf. Im nächsten Augenblick griff sie in den Schnee, richtete sich wieder auf, schwang ihre lange Lichtbogenwaffe nach vorn und hoch und legte in derselben Bewegung an.
Es war irrelevant, ob die Außerirdische ihn im infraroten oder im weißen Lichtspektrum ausgemacht hatte, sie hatte es einfach irgendwie getan. Kepler warf sich zur Seite und drückte dabei den Abzug. Eine Millisekunde später erzitterte surrend und dann verglühte die Luft dort, wo er eben gestanden hatte.
Der Bolzen traf nicht die Syth, sondern die Lichtbogenwaffe. Begleitet von einem Knall schleuderte ein Blitz die Außerirdische auf den Boden. Kepler rollte sich auf die Füße und senkte die Armbrust, um sie neu zu spannen.
Die Syth kam ebenfalls behände wieder hoch. Ein knisternder, unregelmäßig pulsierender weißer Funke zuckte an ihrer rechten Seite entlang und ihre linke Hälfte verschwand. Der plötzlich nur noch halb sichtbare Körper der Außerirdischen irritierte Kepler mehr, als die Syth selbst. Im nächsten Augenblick versagte die beschädigte Tarnvorrichtung völlig und die Syth wurde wieder gänzlich sichtbar. Energisch langte sie an den Gürtel und riss die pistolenähnliche Waffe hoch. Kepler kam zu sich und sprang zur Seite. Aus der auf ihn gerichteten Waffe schoss ein Ball heraus. Er entfaltete sich sofort zu einem Netz, aber kraftlos und träge, fiel wieder in sich zusammen und klatschte als ein Knäuel einen Meter vor der Syth auf die Erde. Die Außerirdische schleuderte die beschädigte Waffe sofort zur Seite und beugte sich. Kepler riss die Armbrust hoch und griff nach einem Bolzen. Die Syth richtete sich wieder auf und sprang zu Kepler. Die Lichtbogenwaffe mit beiden Händen haltend, stieß sie mit ihr wie mit einem Speer zu. Kepler ließ die Armbrust und den Bolzen fallen und warf sich auf die Knie. Die Lichtbogenwaffe verfehlte seinen Kopf. Im selben Moment hörte er ein metallisches Geräusch hinter sich. Er warf sich zur Seite und eine Klinge raste über ihn hinweg. Am Ende der Lichtbogenwaffe war ein schmaler Säbel aufgeklappt. Die Syth wirbelte ihre zur einer sensenartigen Halebarde umfunktionierte Waffe herum und schwang sie mit beiden Händen hoch, um Kepler mit der Klinge an den Boden zu nageln. Er rollte sich zur Seite und griff dabei nach der Armbrust. In selben Moment als die Spitze des Säbels sich neben ihm in die Erde bohrte, erwischte er die Armbrust. Und ließ sie wieder los. Der leichte Stoß hatte den primitiven Abzug ausgelöst, die Sehne schwirrte vor. Sie neu zu spannen und die Armbrust zu laden würde Kepler nicht mehr schaffen.
Er hatte nur noch den Vorteil seiner geringeren Größe. Er konnte sich etwas schneller bewegen als die Außerirdische. Um den nächsten Hieb zu entgehen, rollte er sich zur Syth hin. Die Sense verfehlte ihn wieder um Zentimeter, aber als er weiter rollen wollte, trat die Syth auf seinen Umhang. Einen Augenblick später flogen die Druckknöpfe auseinander, die das Kleidungsstück auf Keplers Schultern festhielten. Er wand sich und trat gegen die Sense, die wieder auf ihn herabsauste. Die Syth hielt sie ganz am Ende und sie wurde aus ihren Händen gerissen und flog weg. Dafür entging Kepler nur um Zentimeter einem grazil und erbarmungslos aufstampfenden Tritt. Er rollte sich schneller und das verschaffte ihm drei Meter. Er sprang auf die Füße und riss das Schwert vom Rücken. Es war sein Glück, dass die Sonnenstrahlen in einem Winkel auf die Syth fielen, der zu sehen erlaubte, wie die Außerirdische mit einer Hand hinter den Rücken griff. Im nächsten Moment streckte sie sie werfend aus. Kepler schaffte es, den Bumerang mit dem Schwert zur Seite abzuschlagen.
Dann stürmte er vor, duckte sich unter die abwehrende rechte Faust der Syth, und schwang dabei das Schwert. Dessen Spitze traf die Außerirdische an der linken Schulter und schlitzte ihren Anzug schräg nach unten auf als Kepler sich drehte. Er schaffte es aber nicht, sich nach dem Angriff sofort zu entfernen, die Syth schlug ihm mit dem linken Fuß in die Schulter. Kepler nutzte den Schwung aus, rollte sich nach vorn über die Schulter ab und kam auf die Füße. Sein Angriff hatte auf der Brust der Außerirdischen einen langen dünnen Schnitt hinterlassen. Dunkles Blut sickerte aus der Wunde, aber die Syth warf sich blitzschnell seitlich auf den Boden und zur Lichtbogenwaffe. Sie wirbelte sie mit dem Säbel nach vorn während sie aufsprang, duckte sich leicht und stürmte vor.
Kepler schleuderte sein Schwert auf sie. Die Syth schlug mit einem beiläufig wirkenden Streich gegen die Klinge und sie flog sengend zur Seite. Kepler rannte währenddessen schon zu der Syth, die er eben erschossen hatte. Er riss das Schwert von ihrem Gürtel, fasste die lange Waffe beidhändig an und drehte sich um. Mehr nach Gefühl parierte er den ersten Hieb.
Die Syth war sehr stark und im Umgang mit ihrer seltsamen Blankwaffe mehr als nur geübt. Keplers dürftige Kenntnisse im Schwertkampf reichten gerade einmal für die Verteidigung aus. Weil, als er mit dem Wakizashi nicht richtig klargekommen war, er sich eingeredet hatte, dass moderne Kriege nicht mit Schwertern geführt wurden. Doch wie immer belehrte sein Schicksal ihn eines besseren. Und das sogar in ferner Zukunft. Damit machte die mangelnde Übung seine Situation eigentlich hoffnungslos. Wollte er nicht bald völlig entkräftet aufgespießt oder zerhackt werden, musste er sich etwas anderes überlegen.
Nur seine Schnelligkeit ermöglichte es ihm, die immer heftiger auf ihn einprasselnden Hiebe abzuwehren. Im Grunde wich er nicht zurück, sondern rannte weg. Wenigstens bestimmte er die Richtung. Und die Syth das Tempo.
Als er bei dem gekürzten Schwert angelangt war, das in der Erde steckte und immer noch baumelte, spürte Kepler seine Arme fast nicht mehr. Die Syth drosch dagegen weiterhin ungebrochen wütend und anmutig auf ihn ein.
Kepler hatte sogar ein Kung-Fu-Kloster aufgesucht, um seine Fähigkeiten im Umgang mit dem Schwert zu perfektionieren. Und hatte dort viel mehr Zeit damit zugebracht, mit einem Stock kämpfen zu lernen. Das konnte er viel besser.
Er wehrte den nächsten Hieb ab, schob die linke Hand direkt unter die Parierstange, wehrte einen Schlag ab, umschloss mit der rechten Hand den Knauf, lenkte einen Stich ab und stieß selbst zu. Die Syth parierte den Stoß mühelos, aber Kepler hatte jetzt einen halbwegs langen Hebel zur Verfügung und drehte den Säbel mit seinem Schwert wie mit einem Stock. Die enorme resultierende Bewegung der Lichtbogenwaffe in den Händen der Syth zwang die Außerirdische, ihren Vormarsch zu stoppen. Als die Lichtbogenwaffe schnell genug rotierte, riss Kepler sein Schwert kontrolliert nach unten. Beide Langwaffen verhakten sich ineinander und bohrten sich in den Boden. Kepler ließ das Schwert los und sprang in einer Drehung hoch. Seine Füße schlugen der Syth ins Gesicht. Als Kepler wieder auf der Erde aufkam, riss er das kurze Schwert aus der Erde. Die Syth reagierte sofort, ihre Hand erwischte Kepler an der Schulter und zerrte ihn zurück. Er gab sich der Zentrifugalkraft hin, und als er die Drehung vollendete, schnitt die Spitze des Schwertes über die Beine der Syth.
Mit wütendem ersticktem Aufschrei fiel die Außerirdische auf die Knie. Im selben Moment schwang sie die Lichtbogenwaffe von rechts nach links. Kepler warf sich hin und nutzte wieder die Zentrifugalkraft, die diesmal die Syth verdrehte. Noch bevor sie den Schwung umkehren konnte, hatte Kepler sich vor sie gerollt. Die Hände seiner Gegnerin ließen die Lichtbogenwaffe los und senkten sich, als Kepler sein Schwert mit beiden Händen von unten nach oben stieß.
Die Syth schaffte es, Keplers Hände zu fassen, aber die Bewegung konnte sie nicht mehr aufhalten. Knirschend bohrte die Klinge sich in ihre linke Seite. Kepler drückte mit aller Kraft nach und verdrehte dabei das Schwert. Der Griff der Außerirdischen erschlaffte. Mit enormer Anstrengung versuchte Kepler sie von sich zu drücken, als sie vornüber auf ihn fiel. Doch der Körper der Syth stieß ihn trotzdem um, er fiel auf den Rücken und der Kopf der Außerirdischen schlug auf seinen Knöcheln auf, bevor er die Beine anziehen konnte.
Schwerfällig holte die Syth aus. Der winzige Dolch in ihrer Hand schlitzte die Hose an Keplers rechter Wade auf, als er das Bein zurückriss. Er spürte keinen Schmerz, als er das eigene Blut spritzen sah, aber das tat er eigentlich nie. Er zog das rechte Bein unter der Syth hervor und trat ihr mit aller Kraft gegen den Kopf. Der rutschte vom anderen Bein herunter und die Syth regte sich nicht mehr. Kepler schob das Hosenbein hoch. Die Wunde war nur ein tiefer Kratzer.
Während Kepler das Schwert herauszog, bewegte die Syth sich nicht. Dafür begann Kepler zu zittern. Seltsam, nach einem Feuergefecht oder nach einer normalen Schlägerei hatte das Adrenalin nur noch selten diese Wirkung auf ihn.
"Physik, du Monsterin, einfache Hebelgesetzte", sagte er, um seine Anspannung abzubauen. "Die Technik besiegt die Kraft."
Er hörte einen schrillen Schrei und sah auf. Darr, Arr und Borr hasteten zum Gleiter. Der Wissenschaftler winkte drängend. Kepler sah sich um. Die sensenartige Lichtbogenwaffe war beschädigt, die Waffen der anderen Syths konnte er im Schnee nicht ausmachen, und Zeit, um sie zu suchen, hatte er nicht.
Darrs Plan könnte funktionieren. Kepler steckte sein Schwert trotzdem ein und holte die Armbrust. Dann nahm er sich die Zeit, um den Umhang einzusammeln.
Weil der erste ungeplante Schuss jede Planung hinfällig machte.