16. Nachdem er die Tür geschlossen und sich umgedreht hatte, blickte er in das verschlafene Gesicht des Adjutanten. Der richtete sich gerade eulenhaft blinzelnd auf der Bank auf, die an der Wand der Tür gegenüber stand. Dann erkannte er Kepler und sein Blick wurde überspitzt gefällig und er lächelte haschend.
"Hey. Ich bin Goii", stellte er sich vor und neigte höflich den Kopf.
"Dirk", entgegnete Kepler abwartend.
"Im Gegensatz zu den anderen fand ich, dass wir euch sehr viel Dank schulden", behauptete der Adjutant. "Für die Waffe." Er lächelte Kepler gewinnend an. "Es war ein großartiger Kampf mit dem Gool."
"Danke", gab Kepler kurzangebunden zurück.
"Kann ich etwas für dich tun?", erbot Goii sich.
"Ja", entschied Kepler nach kurzem Überlegen, "bring mich zu einem Heiler."
Er bedauerte es nicht, Gondwana wieder nur im Zwielicht der Dämmerung zu sehen. Wie Vineta war ihm auch diese Stadt zu steril und zu akkurat. Eigentlich müsste ihm als einem Deutschen dabei warm ums Herz werden. Aber das tat es nicht. Vielleicht war er schon zu lange in Afrika. Oder einfach nur mental in einer Zeit geblieben, in der das Chaos einfach ein Teil des Lebens war.
Wenn die meisten Gebäude in dieser Welt beinahe steril anmuteten, dann war das Krankenhaus geradezu keimfrei. In einer langwierigen Prozedur musste Kepler auch hier drei Schleusen passieren. Er wurde ausgesaugt, mit irgendetwas benässt und nochmal trocken gesaugt. Mit dem Duschen hatte das Ganze nun gar nichts zu tun, aber er fühlte sich porentief sauber. Seine Kleidung war sauber, genauso wie alle anderen Dinge, die er an und bei sich hatte. Und wenn irgendwo an ihm eine Bakterie überlebt hatte, dann war sie auch sauber.
Auch sonst stellte das Klinikum sich nur in etwa so dar wie ein Krankenhaus aus der Zeit, die Kepler vertraut war. Es gab einen Wartebereich, in dem sehr bequeme Liegesessel standen, aber anscheinend waren sie mehr für Besucher gedacht. Kepler sah weder solche noch eindeutige Patienten, viel zu tun gab es hier anscheinend nicht. Während Goii ihn durch den Wartebereich führte, sah Kepler, wie die Medizin hier funktionierte. Menschen waren in dieser Zeit nur dazu nötig, Verletzte und Kranke zu bergen. Verarztet wurden sie von Maschinen. Diese sahen wie kompakte Sarkophage aus. Es gab wohl verschiedene für unterschiedliche Zwecke. Vier für die leichteren Verletzungen standen direkt im Wartebereich. Drei waren leer, im vierten schlief ein junger Mann.
Kepler sah sich um. Außer dem Mann im Sarkophag war kein Mensch da.
"Und, Kobi... äh, Goii, wie geht es weiter?", erkundigte Kepler sich.
"Ich kümmere mich um dich, keine Sorge", antwortete der Afrikaner.
Im Gegensatz zu seinem großspurigen Ton war sein Gesicht aber ratlos.
Plötzlich öffnete sich eine unscheinbare Tür und eine Krankenschwester trat aus ihr hinaus. Goii streckte die Brust heraus, sein Gesicht nahm einen ziemlich überheblichen Ausdruck an. Die Frau schenkte ihm professionell ein eingeübtes warmes Lächeln, sah zu Kepler und bedachte ihn mit einem echten Lächeln, was Goii, der sie aufmerksam beobachtete, sichtlich missfiel. Dann stutzte sie, als sie Kepler in die Augen sah. Sie enthielt sich aber eines Kommentars.
"Der Oberheiler wartet schon auf dich, Fremder", sagte sie stattdessen.
Kepler folgte der Krankenschwester in einen anderen Raum und fragte sich, warum ein Arzt ihn sehen wollte, statt ihn in einen Sarkophag zu stecken.
Die Krankenschwester brachte ihn in einen Raum, der im zweiten Stockwerk lag, und ließ ihn dort allein. Kepler setzte sich in den Sessel und schob die Hosenbeine hoch. Der von der Syth-Klinge hinterlassene Kratzer war längst vom verkrusteten Blut überzogen. Damit war der Schaden an der Hose viel größer als der am Bein. Kepler knibbelte an der Blutkruste über dem Schnitt.
"Finger weg davon, junger Mann", wies eine barsche Stimme ihn an.
Kepler richtete sich auf. Vor ihm stand ein Mann. Er trug einen blütenweißen Kittel und einen ordentlich gestutzten Bart. Seine linke Gesichtshälfte war verbrannt. Der Wangenknochen war grotesk deformiert und mit einer unnatürlich glatten und leuchtend roten Haut überzogen, aber das linke Auge war erstaunlicherweise intakt. Der Blick des Arztes war nicht nur eindringlich, klug und willensstark, sondern auch voll offener Freundlichkeit. Während er dünne Handschuhe über die Hände stülpte, kniete der Arzt sich vor Kepler hin.
"Ich bin Doktor Asklepoii", stellte er sich knapp vor.
"Aesculapius höchstpersönlich?", benutzte Kepler den entsprechenden lateinischen Namen. "Wo sind dein Stab und die Schlange?"
Seine erstaunte Erheiterung, weil der Name des Arztes dem des griechischen Gottes der Heilung glich, bemerkte Asklepoii nicht, oder er ignorierte sie. Eilig, beinahe schon hastig, schob er Keplers rechtes Hosenbein hoch.
Dann nahm er sich sehr viel Zeit. Zuerst tastete er die Wunde ab. Danach holte er aus einer Kitteltasche ein Skalpell heraus. Sorgfältig entfernte er das verkrustete Blut. Sofort kam frisches nach. Ohne sich darum zu kümmern, dass es auf den Bonden tropfte, griff der Arzt in die andere Tasche. Er holte einen Tupfer heraus und drückte ihn solange gegen die Wunde, bis er sich mit Blut vollgesogen hatte. Der Arzt holte einen zweiten Tupfer heraus, deutete Kepler, diesen gegen die Wunde zu drücken, und sah sich den ersten aufmerksam an.
"Du bist nicht vergiftet", meinte er dann.
"Okay", erwiderte Kepler.
"Was?", stutzte der Mediziner.
"Ist gut."
"Wir stecken dich trotzdem in den Heiler", beschloss der Doktor im Ton einer Anwesung. "Er baut auch das zerstörte Gewebe nach."
Kepler war es völlig egal, ob er eine Narbe mehr oder weniger hatte.
"Muss nicht sein", erwiderte er.
"Doch, muss es", bestimmte Asklepoii. "Zu prophylaktischen Zwecken."
Kepler sah ihn an. Gegen diesen rigorosen Doktor sträubte er sich besser nicht.
"Jawohl. Vielen Dank", erwiderte er höflich.
"Gern. Ich schicke gleich jemanden, der sich um dich kümmert." Der Arzt bedachte ihn mit einem Lächeln. "Eine Hora, dann bist du wie neu."
Asklepoii erhob sich und griff wieder in die Tasche. Diesmal holte er einen Beutel heraus. Er legte den blutigen Tupfer hinein, versiegelte die Tüte und steckte sie ein. Dann nickte er knapp und verließ eilig den Raum.
Eine Minute später erschien die Krankenschwester und brachte Kepler zurück nach unten. Dort fixierte sie sein Hosenbein mit einem Klebeband damit es nicht herunterrutschte, half Kepler in den Sarkophag, obwohl er das auch allein ganz gut gekonnt hätte, und drückte einige Knöpfe auf dem Bedienpult. Danach erkundigte sie sich, ob Kepler noch etwas brauchte. Er verneinte. Die Frau wünschte ihm gute Heilung und ging. Es dauerte etwas, bis die Maschine die Verletzung analysiert hatte, bevor sie mit dem Heilungsprozess begann.
Eine Zeitlang konzentrierte Kepler sich auf das angenehme Streicheln an seinem Bein. Leise unaufdringliche Musik begann im Sarkophag zu plätschern. Sie wirkte sanft und einschläfernd. Gemäß alter Soldatenweißheit, bei jeder sich bietenden Gelegenheit möglichst viel zu schlafen, schloss Kepler die Augen.
Er wurde von lauten, panischen Schreien geweckt. Er griff zur Glock, dann erst wurde ihm der Grund für die Aufregung ersichtlich.
Geburten waren hier wohl nicht mehr allzu häufig, fünfzehn Weißgekleidete scharrten sich um eine Frau, bei der anscheinend gerade die Fruchtblase geplatzt war. Ein wenig unkoordiniert kümmerten die Mediziner sich um die werdende Mutter. Dann kamen zwei Sanitäter mit einer Trage dazu. Die schreiende Frau wurde darauf gelegt und weggebracht. Im Raum wurde es wieder still.
Kepler dämmerte gerade wieder ein, als der Sarkophag leicht erzitterte.
"Werter Patient, du bist geheilt", sagte eine sanfte, wohlklingende weibliche Stimme. "Gehe nun in Frieden nach Hause."
"Danke schön", entgegnete Kepler.
Der Sarkophag öffnete sich geräuschlos. Kepler sah auf sein Bein. Vom Kratzer war nichts mehr da. Kepler stieg hinaus und streifte das Hosenbein herunter.
"Hey, du bist wieder ganz, was", hörte er.
Er drehte den Kopf nach links. Goii stand neben ihm.
"Ich heiße Dirk, nicht Hey", erwiderte er.
Der Afrikaner grinste ihn weiterhin ohne jegliche Verlegenheit an, dann deutete er vorwurfsvoll auf das Loch in seiner Hose.
"Das sieht sehr unästhetisch aus", verkündete er.
"Sag das der Syth", gab Kepler zurück. "Ich nähe das schon zu."
"Was willst du tun?", fragte Goii erstaunt.
"Nähen", antwortete Kepler. "Die Hose wieder heile machen."
"Wozu?" Goii deutete nach vorn. "Dort steht doch ein Garderober."
"Ein was?", fragte Kepler.
"Ach ja, das kennst du nicht, Koii sagte, du kommst aus früherer Zeit", meinte Goii leicht abfällig. "Ein Garderober ist eine Maschine, die Kleider macht."
"Ne, danke." Kepler gab seinen Wunsch auf, er trug lieber die zerrissene, aber die eigene Kleidung. Ein Anliegen hatte er trotzdem. "Ich muss etwas essen."
"Dann komm mal mit", wies Goii ihn selbstgefällig an.
Als sie den Eingang erreichten, sah Kepler den Oberarzt. Asklepoii hastete aus einer Tür hinaus und atmete durch. Dann holte er ein Gerät aus der Kitteltasche heraus. Es sah wie ein Smartphone aus, zumindest hatte es einen Bildschirm, auf dem etwas geschrieben stand. Asklepoii runzelte die Stirn, dann lächelte er und steckte das Gerät wieder ein. Im selben Moment flog die Tür hinter ihm scheppern auf und die eben noch schwangere Frau stürmte in den Flur. Sie krallte sich in den Arm des Arztes und schüttelte Asklepoii so heftig, dass er fast umfiel.
"Heiler!", kreischte sie fassungslos. "Deine Helferin hat gesagt, dass der Bürgermeister die Reservekondensatoren entladen hat und dass alle Maschinen, die nicht unmittelbar der Lebenserhaltung dienen, nun abgeschaltet sind!"
"Junge Mutter", erwiderte Asklepoii sanft, "das ist doch nicht schlimm."
Die Frau sah ihn verdattert und hilflos an.
"Doch!", schrie sie dann schrill im panischen Ton. "Ich hatte doch gerade eben eine Geburt! Und das Kind hat jetzt keinen Namen!"
Das entstellte Gesicht des Arztes verzog sich angewidert.
"Die Ära der Maschinen ist vorbei", raunte er beißend. Dann lächelte er die Frau mit dumpfer Genugtuung an. "Wir müssen unser Leben selbst in die Hand nehmen. Gib deinem Kind selbst einen Namen."
"Was?", keifte die junge Mutter in verzweifelter Bestürzung. "Wie? Welchen?"
Darauf wusste Asklepoii aus dem Stehgreif keine Antwort, er dachte nach. Bei der Frau versagten indessen die Beine, ob der Aufregung wegen oder nach den Strapazen der Geburt. Der Arzt fing sie auf, aber ungeschickt, und stürzte deswegen beinahe zusammen mit seiner Patientin. Kepler sprang zu ihm, stützte ihn und half ihm, sich und die Frau wieder aufzurichten.
"Danke, Fremder", sagte Asklepoii. "Alles wieder gut?"
"Mit mir? Ja, vielen Dank", antwortete Kepler und lächelte die Frau an. "Gratuliere zu der rasanten Geburt. Ist es ein Junge oder ein Mädchen?"
"Junge", stammelte die Frau, ihm erschrocken in die Augen blickend.
"Nenne ihn Prometheus", schlug Kepler vor. Er sah Asklepoii an. "Oder halt Promethoii. Einer Legende nach hatte der Typ der Menschheit das Feuer gebracht. Einer mit eigenem Namen könnte für euch auch erleuchtend sein."
Der Arzt lächelte, seltsam zufrieden und mit einigem Unverständnis. Die Frau sah Kepler dagegen mit sprachloser Verwirrung an, die jedoch ziemlich abrupt ins Entsetzen umschlug, sobald sie kurz in seine Augen geblickt hatte.
"Was ist er?", japste sie, sah zum Arzt und deutete mit zitternder Hand auf Kepler. "Warum guckt er so?", brüllte sie. "Ist alles vorbei? Ist das das Ende?"
Bevor der verblüffte Arzt etwas sagte, schloss sie stöhnend die Augen und sank kraftlos auf den Boden, sich an den Kittel des Mediziners klammernd. Er sah auf ihre bebenden Schultern und blickte dann Kepler an.
"Geh weg, bevor sie noch einen koronaren Anfall bekommt", bat er.
"Kann sie von ganz alleine einen Herzinfarkt bekommen oder braucht sie auch dazu einen Computer?", interessierte Kepler sich spöttisch.
"Es ist sehr schwer, selbst zu entscheiden", nahm der Arzt die Frau in Schutz.
"Wäre wohl die erste eigene Entscheidung seit Äonen", mutmaßte Kepler und wollte gehen. Dann hielt er inne. "Eine Frage, Doc. Weißt du, was Nähen ist?"
Der Arzt sah ihn an, dann schüttelte er den Kopf.
"Ihr seid echt bis aufs unterste Niveau hochentwickelt", bescheinigte Kepler ihm. "Na, ihr werdet es wohl wieder lernen. Viel Spaß dabei."
Missmutig drehte er sich um und stampfte davon.
Das Gebäude, zu dem Goii ihn geführt hatte, war von außen so leblos wie jedes andere. Dessen Inneres könnte dagegen glatt für eine Kneipe des fünfzehnten Jahrhunderts durchgehen. Fast.
Es roch hier nicht völlig synthetisch nach Nichts, sondern nach Männern, die kurz zuvor körperlich gearbeitet hatten. Es wurde laut gesprochen und nicht so gestelzt und besonnen wie sonst in dieser seltsamen Epoche. Die Tische und die Stühle waren zwar eindeutig von Maschinen hergestellt worden, aber sie glänzten stumpf, unzählige Male von mehr oder weniger gut gewaschenen Händen angefasst. Das Licht kam nicht indirekt von überall her, sondern wurde von drei großen Lampions abgestrahlt, die von der Decke hingen und deren Schirme gelblich vom Rauch waren. Der stammte nicht vom Tabak, dieser Geruch und der nach Alkohol fehlten hier. Der Rauch kam von einem richtigen Grill, der ein Bestandteil der Bar war, und dessen Abzug nur mäßig gut funktionierte.
Kepler war erstaunt, dann wandelte diese Empfindung sich in Erheiterung um, als er sah, was hier gegrillt wurde. Zwei Köche hantierten hinter der Theke und einer entnahm gerade aus der Nahrungsmaschine ein frisch synthetisiertes Stück von Etwas, das wohl rohes Fleisch sein sollte. In einer geübten Bewegung legte der Mann dieses Ding auf den Grill. Und der war elektrisch.
Es war besser als nichts und Kepler freute sich schon auf eine bessere Imitation eines Steaks als die, die Darr ihm vorgesetzt hatte. In diesem Moment drehte sich der zweite Koch um. Dieser Koch war eine Frau.
Sie trug ein Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, eine Schürze mit ein paar Flecken und ein stramm gebundenes Kopftuch, aber eine Locke schmiegte sich an ihre Wange. Sie hielt inne und Kepler erstarrte.
Trotz des schummrigen Lichts, und obwohl die Köchin ihn aus verengten Augen anblickte, sah Kepler deutlich, dass ihre Augen nicht so vollkommen braun waren wie bei jedem Menschen hier sonst, sondern ganz leicht grünlich.
Die Köchin war sehr jung, und genauso hatte Kepler sich Lisa als Mädchen vorgestellt. Sie hatte wie Lisa ein längliches Gesicht mit scharf gezeichneten Lippen, ihre Haare waren auch brünett und sogar der spöttisch entschlossene und kaum merklich gütige Blick glich dem von Lisa.
Der Gedanke war absurd, aber Kepler dachte ihn zu Ende. Vielleicht blickte er gerade seine Urenkelin an, mit einer unendlichen Anzahl an Urs. Das implizierte jedoch, dass er und Lisa trotz seiner Unfruchtbarkeit irgendwann mal Kinder haben würden. Wie das möglich sein sollte, das konnte Kepler sich nicht ausmalen. Nur die Vorstellung dessen erfüllte ihn mit Zuversicht.
Er würde das hier überleben und zurückkehren und die Sache mit den Chinesen hinbekommen. Und dann würde er wieder mit Lisa zusammen sein.
Die Köchin rührte sich wieder. Während sie zur Nahrungsmaschine griff, bewegten ihre Lippen sich. Einer der Männer an der Theke blickte Kepler an, sagte danach etwas zu seinem Nachbarn und innerhalb von Sekunden verbreitete die Nachricht sich durch das ganze Lokal. Die Augen aller Anwesenden richteten sich auf Kepler. Er und Goii waren auf dem halben Weg zur Theke, als ein Mann sich von einem Hocker am Tresen erhob. Im Lokal wurde es plötzlich ganz still. Kepler ging weiter, während Goii stehenblieb und dann einige Schritte zur Seite machte. Das war verständlich, der aufgestandene Mann war zwei Köpfe größer als Kepler und hatte dermaßen breite Schultern und schmale Taille, dass er wie ein Kreuz wirkte. Wortlos baute er sich vor Kepler auf.
Einige Sekunden vergingen. Kepler hörte sich die schweren Atemzüge des breiten Mannes an, dann neigte er sich nach links und sah an dessen Schulter vorbei zum Tresen. Dort blickte jeder angespannt zu ihm, sogar die junge Köchin, die dabei etwas an der Nahrungsmaschine machte. Der Hocker direkt vor ihr war jetzt frei. Kepler hob den Kopf und sah dem breiten Kerl ins Gesicht.
"Stören auch dich meine Augen – oder etwas anderes?", erkundigte er sich.
Der Breitschultrige schien den Sinn der Frage nicht begriffen zu haben.
"Womit auch immer du beschäftigt bist, bist du damit fertig?", erkundigte Kepler sich bei ihm. "Sonst geh mir aus dem Weg und mach allein weiter."
Der Riese schnaubte. Kepler seufzte gespielt theatralisch und wollte an ihm vorbeigehen. Der Mann legte ihm eine Hand drohend auf die Schulter.
"Dir haben wir die Gools zu verdanken", grollte er, aber nicht direkt feindselig.
"Falsch", erwiderte Kepler. "Die waren schon da, als ich hier ankam. Außerdem bin ich nur auf der Durchreise." Er sah dem Mann in die Augen. "Ich habe drei von ihnen erledigt, mit dir werde ich gar keine Schwierigkeiten haben. Also, wenn du nicht krank werden willst, geh zur Seite. Ich muss was essen."
Die Finger des Mannes drückten seine Schulter stärker zusammen. Aber noch brauchte Kepler diese Stadt, um weiterzukommen. Sich zu einer Schlägerei provozieren lassen sollte er erst dann, wenn er seine Ausrüstung hatte. Mit einer schnellen Bewegung drehte er seine Schulter aus der massiven Hand, trat zur Seite und ging weiter, während der Riese erstaunt auf seine leere Pranke blickte.
"Hallo", grüßte Kepler die Köchin.
Sie nickte nur, den Blick auf den breiten Kerl gerichtet. Kepler sah über die Schulter. Der Riese hatte seine Hand heruntergenommen und überlegte unschlüssig etwas. Die Köchin blickte ihn belustigt, aber nicht schadenfroh an.
"Werte Dame", rief Kepler. "Was für Fleisch kannst du mir machen?", erkundigte er sich, nachdem die Köchin zu ihm sah.
"Ich heiße Kiía", belehrte sie ihn kurzangebunden, "nicht Dame."
Ihre warme Stimme klang so ruhig, sanft und entschlossen, dass sie der von Lisa glich. Für einen Moment glaubte Kepler, dass er Lisa gehört hatte.
Kiía verstand natürlich nicht, warum er sie fasziniert ansah oder warum er ihr den ganzen Tag lang zuhören könnte. Seinen Namen wollte sie auch nicht wissen. Aber sie hatte viel zu tun und nach einer Sekunde seufzte sie ungeduldig.
"Was möchtest du?", erinnerte sie Kepler sachlich.
"Rind", antwortete er lakonisch.
"Was ist das?"
"Bitte nicht", murrte Kepler. "Also von vorne – was für Fleisch ist möglich?"
"Fleisch halt."
"Welches so?", verlangte Kepler zu wissen.
"Was möchtest du eigentlich?", fragte Kiía im zweifelnden Ton zurück.
Kepler knurrte und dachte dann an den Berg und den Propheten. Wenn der erste partout nicht zum zweiten wollte, dann musste es halt andersherum gehen.
"Zwischen was kann ich wählen?", sondierte er erstmal die Lage.
"Gewürzt mit...", begann die Köchin sachlich.
Die Bezeichnungen klangen vertraut, Kepler fragte sich nur, ob das was hier Ingwer hieß auch Ingwer war, und nicht vielleicht vergorenes Gift einer Kobra.
"Stopp", unterbrach er die Aufzählung. "Nach welchem Tier schmeckt das Fleisch, das will ich wissen, nichts anderes."
"Tier?", staunte Kiía. "Was hat Fleisch denn mit einem Tier zu tun?"
"Gar nichts", stöhnte Kepler. "Hör mal. Mach einfach einen Fladen aus reinem Fleisch und grill ihn ordentlich durch. Ist das möglich?"
"Natürlich", schnauzte die Köchin zurück. "Sag das doch gleich. Stehst da und faselst was von Tieren daher..."
"Vergib mir bitte."
Kiía erteilte der Nahrungsmaschine einen Befehl und die begann zu rumoren.
Kepler sah der jungen Frau zu, die sich jetzt freundlich und kalt distanziert um einen anderen Gast kümmerte, und versuchte, sich nicht in die Vorstellung hineinzusteigern, dass Kiía seine Gene in sich trug. Eine Bewegung links von ihm lenkte ihn von diesem eigentlich absurden Gedanken ab.
Der breite Typ war seltsam. Entweder war er ein sehr langsamer Denker, oder aber ein sehr gründlicher. Beides widersprach allerdings seiner zügigen Handlung, als er sich Kepler in den Weg gestellt hatte. Aber vielleicht war das einer der Grundsatzreflexe des Riesen. Denn bis er sich zur nächsten Entscheidung durchgerungen hatte, war einige Zeit vergangen. Nun war der Typ entschlossen zur Theke gestampft. Als er neben Kepler stehenblieb, machte der Mann links neben ihm zügig den Hocker frei. Der Riese setzte sich darauf. Eine Sekunde verging, dann richtete er die Augen grübelnd auf Kepler.
"Was ist das für eine Waffe, die du benutzt?", fragte er die Worte dehnend.
"Eine Armbrust", antwortete Kepler genauso gemächlich, weil er den Eindruck hatte, dass der Typ zwar ein unerschrockener Kämpfer war, aber etwas langsam von Begriff. "Masta Koii lässt für euch welche anfertigen."
"Hat er schon", setzte der Riese ihn in Kenntnis. "Ist ein gutes Ding", meinte er bemüht versöhnlich, "aber sehr zerbrechlich." Sein Blick wurde anklagend. "Ich habe die Sehne zerrissen, als ich sie spannen wollte."
Kepler musste ein Lachen unterdrücken.
"Sag den Typen, die sie gebaut haben, sie sollen für dich eine machen, die einen doppelt so großen Bogen und eine stärkere Sehne hat", riet er.
Der breite Mann blinzelte daraufhin nur und runzelte ratlos die Stirn.
"Die größere Spannweite wird deiner Kraft standhalten", erklärte Kepler. "Sag aber auch, dass sie für dich auch stärkere Bolzen bauen müssen."
Das waren anscheinend zu viele Informationen auf einmal. Der Riese drehte den Kopf und starrte grübelnd zum Grill, wo Kiía gerade den Fleischfladen umdrehte. Eine Minute verging, dann noch eine. Die Köchin nahm das Fleisch vom Grill, legte es auf einen Teller und stellte den vor Kepler hin. Im selben Moment drehte der Riese wieder den Kopf zu ihm und lächelte einfältig beseelt.
"Danke, Mann", sagte er.
"Dafür nicht", gab Kepler zurück.
Der Riese erhob sich recht hastig und warf dabei fast den Hocker um. Er fing ihn auf, stellte ihn hin und hielt ihn eine Sekunde lang fest, um ganz sicher zu gehen, dass er nicht wieder umfiel. Dann eilte er zur Tür. Sie flog auf, kaum dass er sie berührte. Plötzlich verharrte der Mann.
"Fremder!", rief er, obwohl Kepler zu ihm sah. "Guten Appetit", wünschte er sehr manierlich und eilte hinaus.
Kepler drehte sich wieder zu Kiía. Ohne sie mit Fragen nach dem Getreide zu verwirren, bestellte er einen Brotfladen. Die Frage nach einer Dippsauce artete in eine ergebnislose Diskussion aus. Völlig ratlos bemühte Kiía die Essmaschine um Gemüse. Kepler dankte. Er schnitt das Fleisch in kleine Stücke, faltete den Fladen zu einer spitzen Tüte und füllte sie mit dem Fleisch. Anschließend bekam er zwei kleine, etwas matschige Brikettkugeln, die entfernt nach Gemisch aus Tomaten und schwarzem Pfeffer schmeckten. Die zerquetschte er kurzerhand in die Fleischtüte. Danach entschied er, draußen zu essen, seit er hier war, blickten alle Besucher nur noch zu ihm. Er bestellte Wasser und bekam einen großen Becher aus etwas, das sich wie Pappe anfühlte.
"Danke. Was bin ich schuldig?", erkundigte er sich und sah sich nach Goii um, weil er kein zeitgemäßes Geld hatte.
"Was meinst du?", fragte Kiía stutzig.
"Wieviel muss ich bezahlen?", erkundigte Kepler sich wehleidig.
"Be – was?"
"Oh Lady... Was bekommst du für das Essen?"
"Was soll ich dafür bekommen?", fragte Kiía zurück und sah ihn wie ein völlig geistesverwirrtes Individuum an.
"Du hast keine Ahnung was Geld ist, oder?", vermutete Kepler.
"Benutze bitte normale Worte", verlangte die Köchin leicht aufgebracht.
"Kommunismus hat tatsächlich etwas für sich", stellte Kepler amüsiert halblaut fest, "man braucht für Einheitspulver nicht zu bezahlen." Er deutete auf das Essen. "Ich stehe jetzt auf, nehme das mit und gehe einfach. Und alles ist gut?"
"Wenn du es essen und keinen Unfug damit treiben willst – ja", gab Kiía etwas ungehalten zurück. "Hat der Gool dir dolle auf den Kopf gehauen oder was?"
"Nicht der Gool", erwiderte Kepler. "Ein durchgeknallter Wissenschaftler tat das. Zumindest im übertragenen Sinne", murmelte er, nahm das Essen und den Becher mit dem Wasser und sah Kiía prüfend an. "Danke sehr."
"Gute Besserung", erwiderte sie ein wenig schroff.
Kepler lächelte sie an. Kiía hatte ihn an Lisa erinnert. Und für diese für einen Augenblick so lebendige Erinnerung war Kepler ihr unendlich dankbar.
"Dir auch alles Gute, Kiía", wünschte er.
Wo immer Goii gewartet hatte, er tauchte unvermittelt auf, als Kepler die Tür erreichte, und hielt sie ihm sogar auf.
"Wo warst du?", fragte Kepler, während er hinausging.
"Äh... habe auf die drei Freunde von Toii aufgepasst", stammelte Goii, aber dann wurde seine Rede sofort wieder gleichmäßig und anmaßend. "Die sind genauso dumm wie er, wenn er eine Schlägerei angefangen hätte, würden sie ihm helfen, obwohl es unfair wäre. Du wärst mit ihm ja vielleicht fertig geworden, aber nicht mit allen vieren. Du hast ihn gut abgewimmelt", lobte er.
Kepler warf einen Blick auf ihn. Goii war von der Sorte, die auf Kosten anderer weiterkamen. Clever, aber hinterhältig. Doch im Krieg musste man zusehen, wo man blieb. Und sonst eigentlich auch immer.
Nach einigen Metern sah Kepler ein irgendwann einmal ordentlich angelegtes Beet. In seiner Mitte stand ein Baum, davor eine Bank. Überall in Gondwana wucherte schon seit anscheinend Jahrzehnten das Unkraut, aber der Weg zu der Bank war halbwegs frei. Kepler setzte sich auf sie und biss in die Fleischtüte.
Wie die Briketts in Atlantis, war das Essen nahrhaft und genauso kaum zwischen Fleisch, Brot und Tomate zu unterscheiden. Nur ganz leicht war der Pfeffer wahrnehmbar. Und der Grundgeschmack war Banane, nicht Erdbeere.
Kepler warf einen Blick auf Goii. Die gleich klingenden Namen waren ihm schon in Vineta aufgefallen. Hier wiederholte sich das Muster, nur dass die Namen anders endeten. Fürs Essen nicht zu bezahlen war ganz nett, aber dass Maschinen den kommunistischen Grundgedanken, dass jeder und alles gleich sein musste, so konsequent vorangetrieben hatten, war schon ziemlich bizarr.
"Was lernt ihr eigentlich in der Schule so?", fragte Kepler, um sich vom Geschmack einer gepfefferten Mischung aus Obst und Gemüse abzulenken.
"Was?", fragte Goii zurück.
"Kannst du lesen und schreiben?", formulierte Kepler die Frage um.
"Das tun nur Wissenschaftler und solche, die wichtige Posten haben", antwortete der junge Mann unüberhörbar abfällig. "Wozu auch? Ein visueller Kommunikator sagt und zeigt dir alles viel schneller und besser."
"Schon mal über den Zusammenhang zwischen wichtigen Posten und der Fähigkeit zu lesen nachgedacht?", erkundigte Kepler sich amüsiert.
Dieser Gedanke war für Goii sichtlich neu. Aber er erfasste seinen Sinn sehr schnell und er begann zu überlegen.
"Hast du einen Kommunikator dabei?", fragte Kepler.
"Ja."
"Dann frag ihn bitte, in welchem Jahr wir sind."
Goii sah ihn völlig ratlos an. Wenigstens hatte er genügen Verstand, ihm nach einigen Augenblicken das Gerät zu reichen. Es erinnerte Kepler an sein HTC-Smartphone. Mit dem Unterschied, dass es keine Knöpfe gab, der Kommunikator wurde nur durch Sprache gesteuert.
Kepler fragte, in welchem Jahr er sich befand. Eine sanfte melodische Stimme antwortete, dass im viertausendeinhundertdreiundzwanzigsten.
Es dauerte einige Zeit, bis der Kommunikator begriff, dass Kepler wissen wollte, von welchem Zeitpunkt an gezählt wurde. Es war das Jahr, in dem die Technokratie die Macht übernommen hatte. Wieviele Jahre die Zivilisation bis dahin existiert und was sie in dieser Zeit durchgemacht hatte, wusste der Computer nicht. Schließlich fragte Kepler, wie lange die Erde schon existierte. Der Kommunikator verstand die Frage nicht. Kepler stellte sie für Terra. Die Antwort lautete, dass es zwischen vier und fünf Milliarden Jahre waren.
"Soweit waren die Wissenschaftler zu meiner Zeit auch", murrte Kepler und gab Goii den Kommunikator zurück. "Ich liebe Sex zwar, aber man kann damit versklaven und den Verstand rauben. Ihr seid von den Maschinen im übertragenen Sinne ziemlich brutal vergewaltigt worden."
Er konzentrierte sich auf sein Essen. Goii schwieg.