26. Kepler drehte sich im Kreis und sah dabei hoch. Anschließend winkte er Hefaisoii zu sich und zeigte auf zwei Kabel, die an einem dicken Mast auf der Spitze des Hügels mit dem Labyrintheingang endeten.
"Wo sind die anderen zwei Kabel?", fragte Kepler den Techniker. "Am Kraftwerk waren es nämlich vier, die die Syths installiert haben."
"Wir hier...", begann Hefaisoii und brach ab. "Äh, die Syths hier – sie brauchten nur einen Teil der Energie. Der Rest wird zum Olymp weitergeleitet."
"Ist Elektrizität nötig, um Gools zu produzieren?", zweifelte Kepler.
"Nein, die Syths züchten sie rein biologisch, dazu benötigen sie nur Menschen oder Tiere, die Gools vermehren sich über Larven", erwiderte Hefaisoii. "Den Strom brauchen die Syths für die Forschung am Virus. Und er dient als Sicherung. Fällt er aus, wird der Stützpunkt abgeriegelt, damit die Gools sich nicht im Freien vermehren können. Die würden sonst den ganzen Planeten kahl fressen."
"Na das trifft sich gut", meinte Kepler.
Er holte das Funkgerät heraus, schaltete es ein und überprüfte, ob die richtige Frequenz eingestellt war. Anschließend drehte er sich in Richtung des Kraftwerks und drückte den Sprechknopf.
"Boom", sagte er und warf das Funkgerät danach weg.
Für Gondwana bedeutete die Zerstörung des Kraftwerks bestimmt erschwerte Lebensbedingungen. Hübsch anzusehen war das Ganze dennoch.
Die von den Maschinen erfundenen Kondensatoren konnten wohl schiere Unmengen an Energie speichern. Und die Syths hatten sie wahrscheinlich noch modifiziert. Der gigantische Feuerball, der in hundert Kilometern Entfernung in den Himmel stieg, bestand anscheinend aus Plasma, er sah wie ein winziger Stern aus. Relativ schnell gewann er an Höhe und verschwand. Kepler hoffte, dass er nebenbei die Raumstation traf. Aber das wäre auch zu schön gewesen.
Doch dafür erschien eine gleißend blaue Wolke am Horizont über dem Blauen Nil. Sie näherte sich rasant, mit mehreren tausend Kilometern pro Stunde. Auf einmal teilte sie sich auf. Ein Teil jagte weiter noch Nordwesten, der andere schoss zum Hügel. Während das blaue Leuchten mit ohrenbetäubendem Surren über ihn hinweg raste, sah Kepler, dass die Kabel hinter der Wolke als schwarze Asche herunter fielen. Der Mast löste sich auf, als die Wolke im Hügel verschwand. Eine Fontäne aus Erde schoss in die Höhe. Die erhitzte Luft über dem Hügel zischte, während sie sich wieder entspannte. Einige Sekunden später regneten Kügelchen aus zu Glas geschmolzenem Gestein nieder.
Im nächsten Moment bebte die Erde. Areía, Koii, Hefaisoii, die beiden Bogenschützen und Goii stürzten, Kepler, Darr und Toii fielen auf die Knie. Das war ihr Glück. Unter der Erde knurrte es dumpf, dann segelte der Überrest der Tür samt Zarge klappernd über ihre Köpfe hinweg in die Weite. Hinter dem Hügel bildete sich ein Netz aus Gräben, als die Erde in die Tunnel einstürzte. Die Zerstörung wirbelte immer mehr Staubwolken in der Ebene auf, während sie sich durch das Labyrinth fortpflanzte und einen Stollen nach dem anderen einstürzen ließ. Dann, allmählich, wurde das Rütteln unter den Füßen weniger, während die Druckwelle der unterirdischen Explosion sich nach Süden ausbreitete. Hinter ihr blieb eine von Gräben durchzogene Landschaft zurück.
"Ha, ich kann sogar Terraforming", meinte Kepler nachdem er sich erhoben hatte. "Bloß – wenn die Syths sich nicht in der Hoffnung ausruhen, dass wir dabei draufgegangen sind, wissen sie jetzt vom Gegenteil bescheid."
Aus dem Norden kam das grollende Echo eines mächtigen Knalls. Kepler drehte den Kopf. In der Weite stiegen zwei schwarze Rauchsäulen auf.
"Jetzt haben die wohl auch ein paar Sorgen", mutmaßte Kepler. "Hoffentlich."
Er wollte bloß weg von hier, aber er beeilte sich nicht mehr. Seine Mission war für ihn klar umrissen. Trotzdem wollte er niemanden mehr verlieren, auch wenn ihm die Menschen dieser Zeit mehr oder weniger gleichgültig waren oder er das hier nur träumte. Aus diesem Grund ließ er die Gruppe auf den Hügel klettern.
Sie alle brauchten frische Luft und das Gefühl der Ruhe. Und im Moment war alles ruhig. Abgesehen vom dumpfen Donnern, das aus dem Norden kam.
Auch die beiden schwarzen Berge wären von hier aus besser zu sehen. Aber jetzt waren nur ihre mächtig rauchenden Spitzen sichtbar, die zwei Vulkanen glichen. Ansonsten waren die Berge von dichtem Rauch umhüllt. In ihm zuckten unregelmäßig und an unterschiedlichen Stellen kurze Blitze. Sie verursachten das Grollen nicht, das schien von heftigen Explosionen im Inneren der Berge zu kommen. Anscheinend hatte Hefaisoii wirklich Recht, die Syths mussten wohl tatsächlich größere Probleme in ihrem Stützpunkt bewältigen.
Kepler verließ sich weder auf die Worte eines Gefangenen, noch auf die eigene Hoffnung, dass die Syths in Schwierigkeiten waren, noch auf den Anblick der schwarzen Berge. Er ging an den Rand des Hügels, setzte sich dort im Schneidersitz hin und konzentrierte sich auf die Umgebung.
Einige Zeit nach der Explosion machte das karge Leben der Savanne einen anderen Eindruck als am Tag zuvor. Es wurde sichtbarer und hörbarer und es wirkte voller und fröhlicher, wie in den Tagen, als Kepler durch Sudan gestreift war.
Im Moment waren also keine Gools und keine Syths unterwegs.
Nicht nur Tiere, Vögel und Insekten hatten die Änderung bemerkt. Auch die Mitglieder der Gruppe schienen die interstellare Bedrohung vergessen zu haben und konzentrierten sich darauf, ihren Heimatplaneten zu bewohnen. Obwohl sie Waffen hatten, um die Invasoren zu bekämpfen.
Jetzt handelten sie sogar damit.
Toii hatte anscheinend Angst, die Glock kaputt zu machen. Oder sie war ihm einfach zu klein. Dass sich damit ein Syth oder ein Gool trefflicher töten ließ als mit einer Axt, spielte für den Riesen keine Rolle. Fast sofort nachdem die Gruppe sich auf dem Dach des unterirdischen Labyrinths niedergelassen hatte, quetschte er sich zwischen die beiden Bogenschützen, die sich unweit des verkohlten Mastes hingesetzt hatten. Eine halbe Stunde lang grinste jeder in der Gruppe beim Anblick des Riesen, der bettelnd auf den schmächtigen Homeroii einredete, der neben ihm wie eine Puppe wirkte.
Letztendlich bekam Toii was er wollte. Ob seiner Rednergabe wegen, oder weil er trotz des zahmen Gesichtsausdruckes bedrohlich wirkte. Die nächste Viertelstunde lang streichelte er zufrieden die Lichtbogenwaffe.
Dann nahm er Areía in Beschlag. Die junge Frau, die sich vom Schock in der Mine vollständig erholt zu haben schien, erklärte dem Giganten langsam und ausführlich die Bedienung der Lichtbogenwaffe. Homeroii unterhielt sich währenddessen mit Koii. Den Umgang mit der Glock verinnerlichte er schnell, zumindest hatte Kepler den Eindruck, dass dem so war. Danach sprachen der Bürgermeister und Homeroii über irgendetwas anderes. Anschließend gesellte der Geschichtenerzähler sich zu Areía, nachdem sie mit Toii fertig war.
Kepler fand es gut, dass die Gondwaner halbwegs zur Normalität zurückfanden, und wenn es nur für einen Moment war. Er selbst fühlte sich überhaupt nicht entspannt. Der Hunger quälte ihn immer stärker. Jeder in der Gruppe wäre vielleicht bereit, mit ihm sein Pulver zu teilen, aber jeder hatte nur noch eine Tüte davon. Theoretisch musste das bis nach Ofir reichen. Praktisch stand das in den Sternen. Außerdem hing Kepler der spezifische Bananengeschmack zum Hals heraus. Er hätte das Pulver wohl gegessen, wenn es für alle genug gegeben hätte, aber er war irgendwie auch froh, dass dem nicht so war.
Das konnten die anderen nicht nachvollziehen, die Bogenschützen, Toii und Areía versuchten, ihm einen Teil ihres Proviants aufzudrängen. Kepler verwies darauf, dass Hefaisoii auch noch da war. Danach hatte er Ruhe und der einstige Gefangene etwas zu essen.
Essen war eine Sache. Noch etwas missfiel Kepler. Er gönnte den anderen die Freude am Leben zu sein, und er freute sich selbst auch darüber. Allerdings vergaß er im Gegensatz zu ihnen nicht für eine Sekunde, wie kurz diese Freude manchmal währte. Aber einzig Toii sah sich ständig ziemlich wachsam um.
Kepler holte die Tarndecke aus dem Rucksack, faltete sie doppelt und schnitt ein Loch in die Faltkante. Danach schnitt er an jeder Seite einen Streifen ab.
Die improvisierte Robe umhüllte Darr beinahe vollständig und aus den beiden Streifen wurden ein passabler Schal und ein Turban. Nach der Einkleidung sah der Wissenschaftler irgendwie grotesk komisch aus. Doch sowohl ihm als auch Kepler war es egal, es zählten nur die Resultate. Die verstörten Blicke der anderen, weil Kepler sich nur um Darr kümmerte, zählten auch nicht.
Danach ließ Kepler aufbrechen.
Anderthalb Stunden später befand die Gruppe sich auf einer Anhöhe, die vom Weiten gar nicht als eine zu erkennbar gewesen war. Doch sie ragte sogar relativ hoch über die Savanne. Kepler blieb stehen und sah nach Norden. Der Rauch um die Berge war noch dichter geworden, die Blitze zuckten noch öfter darin und das Grollen bestand jetzt nicht mehr aus einzelnen Explosionen, sondern aus einem unregelmäßigen, aber beständigen Donnern. Jetzt dämpfte der tosende Kampf im Stützpunkt das vorhin so aufgelebte Leben der Savanne wieder.
Kepler richtete den Blick nach Westen.
Er verharrte, ging auf ein Knie, ohne nunmehr die Augen zu bewegen, und zog das Gewehr vom Rücken. Toii und Areía, die neben ihm standen, sahen verdattert zu, wie er die Waffe in Anschlag brachte und schoss.
Die Kugel traf in anderthalb Kilometern Entfernung eine Gazelle genau ins rechte Auge. Der Kopf des Tieres wurde zersprengt, die kleinen Hörner flogen davon und der Boden färbte sich rot, als die Gazelle zu Boden stürzte.
Kepler stand zufrieden auf. Toii drehte den Kopf zu ihm und sah ihn perplex an. Areía blickte fassungslos und mit weit offenem Mund zu ihm.
"Warum hast du das getan?", stammelte sie.
"Ich habe Hunger", gab Kepler zurück.
"Und was kann das arme Tier dafür?"
"Nichts. Aber etwas dagegen – ich werde es essen."
"Was?!"
"Brüll nicht so", herrschte Kepler die junge Frau an. "Wir haben nun mal den Kannibalismus überwunden, deswegen muss ich an deiner statt ein Tier essen."
"Warum?", kreischte Areía wütend. "Bist du ein Gool geworden?"
"Um nicht vor Hunger zu sterben." Kepler deutete ihr zu schweigen. "Deswegen essen die Menschen und die Tiere sich seit Anbeginn der Zeit gegenseitig."
"Ich vergaß", Areías Wut verwandelte sich in eine sehr deutlich hörbar ablehnende Ironie, "du kommst ja aus grauer Vorzeit."
"Richtig. Toii, komm mit, wir sollten uns beeilen, bevor Raubtiere hier auftauchen." Kepler sah über die Schulter kurz zu Darr, der ihn genauso verblüfft wie die anderen alle ansah. "Sie folgen uns mit der Gruppe. Die Pause wird länger."
Das brachte ihm erstaunte Blicke ein. Koii schien ihn giftig fragen zu wollen, warum er plötzlich ein anderes Verhalten an den Tag legte, entschied sich dann aber doch dagegen. Wahrscheinlich, weil er dankbar dafür war.
"Sollten wir nicht besser schneller weiter ziehen?", fragte Darr ablehnend.
"Rauchen die Berge noch?", erkundigte Kepler sich ohne die Augen von der toten Gazelle zu wenden.
"Ja", kam die sachliche Antwort. "Der linke etwas mehr als der rechte", präzisierte Darr sogleich. "Und es blitzt dort ziemlich heftig."
"Schön", meinte Kepler. "Damit haben wir etwas Zeit geschenkt bekommen, und wir sollten sie nutzten, um uns auszuruhen. Früher oder später werden wir kämpfen müssen, und ich möchte das im Vollbesitz meiner Kräfte tun."
"Okay", gebrauchte Darr fast selbstverständlich das Wort.
"Sammeln Sie bitte auf dem Weg trockene Zweige ein", bat Kepler. "Da weiter rechts steht ein verdorrter Busch, nehmen Sie ihn mit."
"Okay", wiederholte der Wissenschaftler.
Kepler fand, dass Darr immer lässiger mit dem Ausdruck umging.
"Danke, bis gleich", sagte er, winkte Toii und lief los.
Der Riese folgte ihm mit gerunzelter Stirn und ohne etwas zu sagen. Warum auch immer, aber Areía setzte sich ebenfalls in Bewegung.
Auf dem Weg sah Kepler, dass die Umformung der Landschaft zum richtigen Zeitpunkt erfolgt war, die ganze Savanne war nunmehr mit Steinen übersät, die durch die Explosion an die Oberfläche hinausgestoßen worden waren.
Zwanzig Minuten später standen Kepler und Toii nur noch wenige Meter von der Gazelle entfernt. Areía war zurückgeblieben und hatte sich umgedreht. Kepler repetierte das Gewehr einmal durch und fing die ausgeworfene Patrone auf.
"Toii", rief er und hielt sie dem Riesen hin, "kümmere dich bitte um ein Feuer, ja." Er deutete auf mehrere große Steine, die ringförmig verteilt rechts von ihnen lagen. "Zwischen denen da, damit es windgeschützt ist."
"Hier gibt es aber nirgends eine tote Syth", entgegnete Toii ratlos.
"Aber genügend trockenes Gras und einige Zweige", erwiderte Kepler.
"Und?", wollte Toii wissen.
"Schichte sie hinter den Steinen auf, zerleg die Patrone, zünde das Schießpulver an, dann das Gras und damit die Zweige. Ist das so schwer?"
"Äh...", machte Toii ratlos.
"Ist es anscheinend wirklich", kommentierte Kepler. "Areía, komm her!"
"Wozu das denn?", fragte sie ohne sich umzudrehen.
"Damit du nicht ungeschützt die Landschaft herum verschönerst."
Die Gondwanerin sah den Sinn der Anweisung wohl ein. Sie trat jedoch rückwärts näher zu Kepler.
Er brauchte der Gazelle die Kehle nicht durchzuschneiden, damit das Tier ausblutete, das geschah von allein wegen des fehlenden Kopfes. Kepler schichtete das Gras und die Zweige zwischen den Steinen auf. Wenigstens bekam Toii in der Zeit die Patrone zerkaut. Mit ihrem Schießpulver setzte Kepler das trockene Gras in Brand und erklärte Toii, wie er das Feuer aufrechterhalten musste.
In dieser Zeit kamen die anderen an. Kepler musste die Tötung der Gazelle nochmal erklären, danach schickte er die Männer paarweise Holz sammeln. Darr wiederholte seinen Befehl nachdrücklich, und auch sehr interessiert und wissbegierig. Koii nickte nur, als die Männer fragend zu ihm sahen.
Nachdem sie sich entfernt hatten, winkte Kepler den nunmehr neugierig blickenden Toii zu der Dama-Gazelle. Die im Sudan verbreitete Gattung mit dem charakteristischen weißen Fleck an der Kehle gehörte zu den größten Gazellen überhaupt. Die hier wog etwa fünfzig Kilogramm und hatte knapp anderthalb Meter Schulterhöhe. Kepler drehte sie auf den Rücken, schnitt um jeden Huf herum, nach unten und dann bis zum Kopf. Er ließ Toii das Tier festhalten und zog ihm das Fell ab. Danach hatte der Riese keine Schwierigkeiten, die Gazelle zu heben, damit Kepler sie ausweiden konnte. Allerdings sah Toii dabei zur Seite und atmete durch den Mund, Areía erbrach sich ein paar Meter weiter. Nachdem Kepler fertig war, ließ er Toii die Gazelle wieder auf dem Fell ablegen und schnitt aus dem Nacken einen Streifen Fleisch heraus. Darr war schon zurück und gab ihm einen langen geraden Ast, den er finden sollte. Der Wissenschaftler hatte sogar zwei besorgt. Nachdem Kepler sein Steak vorbereitet hatte, bat Darr um das Messer, schnitt auch etwas Fleisch aus der Gazelle und spießte es auf.
"Salz wäre jetzt schön", murmelte Kepler, während er den Ast schräg so zwischen den Steinen einklemmte, dass das Fleisch über den Flammen positioniert wurde. "Toii, du solltest auch etwas Eiweiß essen", rief er über die Schulter.
Der Riese brummte unverständlich irgendetwas. Kepler drehte sich um. Toii schüttelte den Kopf, aber zweifelnd.
"Dann schütte die Gedärme mit Erde zu", bat Kepler ihn, "sonst kommen noch Schakale her, und die sind echt penetrant."
Er drehte sich wieder um und beugte sich, um den Ast fester einzuklemmen, der hatte sich geneigt. Als er sich wieder aufrichtete und dabei den Kopf hob, sah er direkt vor sich, nur zwanzig Meter hinter dem Feuer ein Schimmern in der Luft. Er beugte sich wieder, rüttelte nochmal am Ast, ließ das Messer fallen, riss die Glock aus dem Halfter, richtete sich auf und feuerte.
"Was ist?", schrie Darr neben ihm auf.
Kepler antwortete nicht, sondern zielte nur weiter nach vorn. Aber dort war nichts, nur die erhitzte Luft flimmerte über den Flammen. Und Keplers Blick wurde für einen Moment etwas trübe. Wahrscheinlich wegen des Hungers war sein Blutdruck mächtig abgesackt.
"Wohl gar nichts", erwiderte er langsam ohne die Glock zu senken und mit den Augen über die Savanne streifend.
Er ging trotzdem dahin wo er das Schimmern gesehen hatte.
Dort war nichts. Nur ein Graben zog sich einige Meter weit. Der Erdaufwurf war frisch, aber das war jeder Aufwurf in der Umgebung. Kepler überlegte, ob dieser Graben sich über dem Verkehrstunnel befand, der in die Versiegelte Stadt führte. Doch dann wäre der Tunnel zugeschüttet. Wahrscheinlich war es wirklich nur ein Produkt der Fantasie, auf das Kepler geschossen hatte.
Sich umblickend ging er zurück. Die einzigen ungebetenen Gäste im Lager waren zwei Fliegenschwärme. Einer kräuselte sich über dem blutigen Rest der Gazelle, der andere über Toii, der einen Erdhaufen über die Gazelleninnereien aufschüttete. Sonst sah Kepler nichts Verdächtiges. Die Figürchen der Männer, die auf der Suche nach Holz durch die Savanne streiften, waren alle vollzählig da. Kepler steckte die Glock ein, behielt die Hand aber in ihrer Nähe.
Toii beeilte sich mit dem Vergraben, danach schleifte er das Fell samt Gazelle einige Duzend Meter weit weg und die Fliegen folgten ihm.
Dafür kehrten die Bogenschützen zurück. Für ihre Eigenschaft als hochentwickelte Stadtmenschen hatten sie eine Menge an Holz gefunden. Kepler bedankte sich und lud die Männer ein.
Außer Hefaisoii wollte niemand. Der schien bei den Syths einiges gelernt zu haben, er spießte das Fleisch viel eleganter auf als Darr es getan hatte, und er briet es ziemlich gekonnt. Der Wissenschaftler imitierte indessen nur, was Kepler machte. Aber er dachte nach, warum und wann das Fleisch gewendet wurde.
Bald drehte Kepler fast durch. Er musste sich beherrschen, nicht das noch halb rohe Steak zu verschlingen. Ungeduldig senkte er den Ast, damit das Ganze schneller ging. Währenddessen schien der Geruch des Bratens auch die anderen zu faszinieren. Sie aßen ihr Pulver, aber immer wieder hob einer den Kopf und zog mit der Nase. Erst neugierig, dann zweifelnd. Dann überlegend.
Es war erstaunlicherweise Areía, die als erste zu Kepler kam. Sie stellte sich neben ihn, als er das fertige Steak vom Feuer nahm, und sah fast schon unanständig direkt zu, wie er mit dem Messer einen Streifen abschnitt und ihn in den Mund steckte. Dann leckte sie sich unwillkürlich über die Lippen.
"Wilscht propirn?", erkundigte Kepler sich recht undeutlich, weil das Fleisch noch sehr heiß war.
"Was?"
"Wa-aha-te."
Kepler kaute durch, schluckte, genoss einen Moment lang den Augenblick und vergaß fast die Unart, Fleisch nach Banane oder Erdbeere schmecken zu lassen.
"Willst du probieren?", fragte er dann.
"Es riecht nicht so widerlich wie es ausgesehen hat", meinte Areía.
Ob das nun ein Ja oder ein Nein war, wusste Kepler nicht. Es verlangte ihn auch nicht, das herauszufinden, Areía wusste es selbst nicht. Er schnitt einfach ein Stück von Steak ab und hielt es der jungen Frau vors Gesicht. Sie näherte die Nase vorsichtig dem Fleisch und beschnupperte es wie ein Eichhörnchen. Kepler hatte Hunger. Sobald Areías Mund sich unschlüssig ein kleines Bisschen öffnete, schob er ihr das Fleisch zwischen die Zähne und ließ sie allein herausfinden, ob es ihr gefiel. Areía würgte fast, aber dann kaute sie einmal angespannt und vorsichtig. Dann hielt sie inne. Nach einigen Sekunden bewegte ihr Unterkiefer sich wieder langsam. Sie kaute weiter und sah mit gerunzelter Stirn in die Ferne, als ob sich dort die Antwort befinden würde. Oder vielleicht die Frage.
Es dauerte, bis sie sie fand – oder eben nicht. Kepler vertilgte das halbe Steak, bevor Areía wieder den Kopf zu ihm drehte und ihn auffordernd ansah.
"Noch?", fragte er daraufhin pro forma.
Er bekam keine Antwort. Aber er hatte auch mit keiner verbalen gerechnet, Areías Blick war deutlich genug. Kepler schnitt einen größeren Streifen ab, gab ihn Areía und beeilte sich, damit er nicht noch weiter enteignet wurde.
Auch damit hatte er Recht. Die junge Dame bedauerte sichtlich die Kürze ihrer kulinarischen Reise, bat aber nicht um ein eigenes Steak. Dafür wurde ihr Blick noch auffordernder. Diesmal ignorierte Kepler den stummen Appell. Er setzte sich hin, lehnte sich an den größten Stein, der unweit der Feuerstelle lag, und genoss dessen warme Oberfläche in seinem Rücken. Areía sank in die Hocke.
"Es schmeckt gar nicht schlecht", rang sie sich die Feststellung ab.
Kepler überging auch diese Andeutung geflissentlich. Er hatte keine Lust, noch ein Steak zu braten. Aber noch mehr Kälte brachte er nicht übers Herz. Er biss großzügig vom Fleisch ab und reichte Areía den Rest.
"Es schmeckt sogar gut", behauptete er und streckte sich aus. "Jetzt noch einen Kaffee und ein bisschen Weltfrieden, und alles wäre fast perfekt."
Die junge Frau wischte mit dem Handrücken das Fett von ihrem Kinn, kaute recht gierig weiter und sah Kepler dabei stirnrunzelnd an.
"Was ist Kaffee?", wollte sie wissen.
"Ein Genussmittel meiner Zeit", antwortete er. Dann sah er, dass Areía auch mit diesem Begriff nichts anfangen konnte. "Miserabler Ersatz für Sex."
"Wieso willst du Ersatz, wenn du richtigen haben kannst?", staunte Areía.
"Kann ich im Moment aber nicht", gab Kepler nicht minder perplex zurück.
Areía linste ihn von der Seite an und richtete die Augen in die Weite.
"Kannst du schon", behauptete sie.
Bevor Kepler etwas sagte, erhob sie sich. Unweit eines winzigen Büschchens, das etwa fünf Meter entfernt etwas abgesondert stand, lagen ihre Sachen. Areía ließ sich dort nieder und sah zu Kepler. Er drehte den Kopf weg. Dabei sah er, dass Goii ihn und Areía mit schweren Blicken beobachtete.
Verschnaufpausen gab es im Krieg immer. Sie waren gut, man entspannte sich und fand wieder die Lust am Leben.
Aber man konnte dabei sehr schnell nachlässig werden. Dann verlor man nicht nur die Lust, sondern auch das Leben. Deswegen stand Kepler auf.
Etwa achthundert Meter westlich ragten die Überreste eines Mähdreschers aus dem Gras. Kepler legte das Gewehr an, stellte die Vergrößerung auf Maximum und inspizierte die Maschine visuell. Dann winkte er Hefaisoii zu sich.
"Haben die Maschinen wie die da", Kepler deutete zum Mähdrescher, "hydraulische Komponenten?"
"Äh", machte Hefaisoii. "Ja", erinnerte er sich, "zum Kippen des Korntanks."
"Womit arbeitet das System?", wollte Kepler wissen.
"Polyglukole-basierte Flüssigkeiten", meinte Hefaisoii etwas unsicher.
"Das ist auch bei euch das Erdöl, oder?"
"Was für Zeug?"
"Ein natürliches Gemisch aus Kohlenwasserstoffen... ich meine – aus Corbonium-Hydrogenium. Meist schwarz und übelriechend."
"Äh", machte der ehemalige Gefangene zweifelnd. "Ach so, ja, ich habe davon gehört. Aber wir hatten es nie für irgendetwas benutzt..."
"Weil wir euch nichts davon übrig gelassen hatten", ergänzte Kepler.
Hefaisoii sah ihn erstaunt an.
"Nein, weil die Technologie der Gravitationsumwandlung nicht nur für Antriebe dient", sagte er. "Mit ihr kann aus Hydrogenium alles synthetisiert werden."
"Riechen eure Polyglukole nun übel oder nicht?", wollte Kepler nur wissen.
"Und wie", erwiderte Hefaisoii inbrünstig, "übler geht es kaum noch."
"Prächtig", meinte Kepler.
Er hatte den anderen verboten, sich allein zu entfernen, und um zu zeigen, dass für ihn dieselben Regeln galten, bat er Toii ihn zu begleiten. Areía kam ungefragt mit, anscheinend von der ihr eigenen ausufernden Neugier getrieben. Kepler sparte sich den Atem, das zu unterbinden. Zumal sie ihn nicht einmal fragte, was er vorhatte. Vielleicht benutzte sie jetzt wirklich den Kopf und es war offensichtlich, dass sie bald erfahren würde, was er wollte.
Dass die Maschinen das Grau bevorzugten, hatte Kepler schon längst festgestellt. Dass die angeblich künstliche Intelligenz nicht einen Funken des Gefühls für die Abwechslung hatte, ebenfalls. Der Mähdrescher bestätigte das voll und ganz. Aus der Nähe erwies er sich als eine Kopie der Gebäude, quadratisch und praktisch. Wahrscheinlich war er auch gut, um dem Slogan der Schokoladenwerbung aus grauer Vergangenheit zu folgen. Menschliche Mechaniker aus eben dieser Vorzeit hätte der Mähdrescher jedoch zur Weißglut gebracht, zum Reparieren war das Ding nicht geeignet. Kepler brauchte eine halbe Stunde, bis er eine Klappe fand, hinter der er einen Hydraulikschlauch sah. Er stach ihn vorsichtig mit dem Messer an. Heraus kam eine dunkle Flüssigkeit. Es war eine Emulsion mit einem gigantischen Wasseranteil, wohl damit sie biologisch gut abgebaut werden konnte. Wenigstens roch sie tatsächlich nach Mineralöl.
Kepler sah sich um und begann sich auszuziehen. Areía, die ihm zuvor völlig baff und erstaunt zugesehen hatte, musterte ihn jetzt eingehend und leicht lächelnd. Dann warf sie einen auffordernden Blick auf Toii. Der Riese ignorierte ihn entweder, oder er hatte ihn nicht verstanden, er ging nicht weg.
Als er nur noch die Unterhose anhatte, nahm Kepler das Kampfmesser. Während Areía über sein Tun rätselte, schnitt er den Schlauch durch. Die Hydraulikflüssigkeit schoss mit ziemlichem Druck aus ihm heraus, die Maschinen konnten wirklich gut bauen, das System war nach so vielen Jahren noch absolut dicht gewesen. Kepler lenkte den Ölstrahl auf sich.
"Iii!", kreischte Areía angewidert und empört auf.
Toii bekam runde Augen, sagte aber nichts, sondern sicherte weiter die Umgebung. Kepler ließ den Schlauch los und verteilte die Emulsion über seinen Körper. Areía sah ihm mit so verzogenem Gesicht zu, als ob ihr schlecht wäre.
"Wozu ist das denn gut?", würgte sie.
"Tarnung", gab Kepler zurück und machte weiter.
"Was?"
"Ich stinke", antwortete Kepler deutlich. "Und weit und breit ist keine Dusche in Sicht. Und nach dem, was Darr mir gesagt hatte, setzen die Gools bei der Jagd primär den Geruchssinn ein. Früher oder später bekommen wir Besuch von ihnen, sollten wir es nicht bis heute Abend nach Ofir schaffen." Während er sprach, verrieb Kepler weiterhin die Emulsion. "Ich bin im Infrarot unsichtbar, und wenn ich mich nicht bewege, sieht mich auch im sichtbaren Licht niemand, aber diese Viecher riechen uns. Jetzt werden sie einen Mähdrescher riechen."
"Du bist ziemlich konsequent", sagte Areía vorwurfsvoll und bedauernd.
"Nur deswegen lebe ich noch", gab Kepler zurück.
Seine Erleichterung verflog ziemlich bald. Die Maschinen waren wirklich sehr gut im Konstruieren, der Mähdrescher kam mit sehr wenig Hydraulikflüssigkeit aus. Nach fünf Litern tropfte die Flüssigkeit nur noch aus der extrem dünnen Leitung und Kepler musste sie regelrecht ausquetschen, um sich vollständig mit der Emulsion einreiben zu können. Damit blieb für die anderen nichts übrig.
Kepler sah keine weiteren Mähdrescher in der Nähe. Er stellte sich breitbeinig mit dem Gesicht zur Sonne. Es dauerte nicht lange, bis seine neue Hautfarbe trocken war. Abgesehen davon, dass sie schmierte, war Kepler zufrieden. Das Gemisch schien wie eine Sonnenmilch eine Öl-in-Wasser-Emulsion zu sein, damit würde er sie bald nicht mehr spüren. Er drehte sich mit dem Rücken zur Sonne und mit dem Gesicht zum Mähdrescher.
Nach zwanzig Minuten war die Emulsion vollständig ausgetrocknet. Kepler begann sich anzuziehen. Als er die Hose in die Hand nahm, sah er einen gigantischen Skorpion, der aus dem Schatten des Mähdreschers hervorkroch. Anscheinend hatte ihn die auslaufende Hydraulikflüssigkeit aus seinem Versteck vertrieben. Irgendwie unkoordiniert krabbelte das Tier am Vorderrad des Mähdreschers hoch. Kepler zog die Hose an und beugte sich zum Shirt. In diesem Moment zischte ein Blitz neben ihm auf und ein Elektrostoß jagte knisternd an ihm vorbei. Einen Wimpernschlag später existierte der Skorpion nicht mehr. Genausowenig wie der halbe Mähdrescher. In dessen Rest klaffte ein monströses Loch.
Kepler war instinktiv auf die Knie gefallen und hatte nach seiner Glock gegriffen. Jetzt drehte er den Kopf nach hinten. Toii stand in Kampfpose da, die Lichtbogenwaffe in beiden Händen, und sah zufrieden auf die von ihm angerichtete Zerstörung. Kepler ließ die Pistole los.
"Jo, du Riesen-Teddybär!", brüllte er. "Was soll das? Ich habe schon genug auf dem Herzen, du musst mich nicht auch noch erschrecken?"
"Die Viecher sind giftig", belehrte Toii ihn.
"Ist schön, dass du das weißt, Großer", sagte Kepler, nachdem er durchgeatmet hatte. "Aber Folgendes. Haben die Skorpione gigantische Scheren und einen kleinen Stachel, sind die kaum giftig. Andersherum, wenn die Scheren klein sind und der Stachel monumental – darfst du auf die Viecher ballern. Okay?"
"Was?", fragte Toii, vom Informationsschwall beinahe benommen.
"Ob das klar ist?"
"Ist", entschied der Riese nach einigen Sekunden. "Danke."
"Bitte", gab Kepler zurück und erhob sich.
Im nächsten Moment stürzte er wieder fast, verdrehte sich und schlug unwillkürlich mit der Hand gegen das linke Ohr.
"Dirk, alles in Ordnung?", kreischte Darrs Stimme schrill im Kommunizierer.
"Hören Sie auf so zu keifen!", brüllte Kepler zurück. "Noch einer!"
"Ich wollte nur wissen was passiert ist", sagte Darr um eine Oktave leiser.
"Toii hat herausgefunden, was von einem Skorpion übrigbleibt, wenn er direkt von einem Lichtbogen getroffen wird", murrte Kepler.
"Was?!"
"Na gar nichts! Sogar seine Asche wird pulverisiert", antwortete Kepler. "Darr, äußern Sie Ihre Sorge nochmal in dieser Lautstärke, werden Sie mich in die Vergangenheit tragen müssen. Soll ich einen Herzinfarkt kriegen, oder was?"
"Also – ist alles gut?", vergewisserte der Wissenschaftler sich.
"Von dem Weltkrieg und meinem beinahen Nervenkollaps abgesehen?", präzisierte Kepler. Dann entspannte er sich. "Ja, bei uns ist alles gut. Bei dem Skorpion allerdings überhaupt nicht. Doch er hat das nicht mal gemerkt."
Darr atmete hörbar erleichtert durch, lachte aber dennoch etwas zittrig.
"Neue Haare auf mein Haupt", wünschte er sich.
"Was bedeutet dieser Ausdruck?", wollte Kepler wissen.
"Äh... ja", stockte der Wissenschaftler. "Dass alles gutgegangen ist, nachdem man sich fürchterlich gefürchtet hatte. So wie Ihr okay. In etwa. Glaube ich."
"Na dann sagen Sie das nächste Mal einfach okay", empfahl Kepler. "Okay?"
"Okay", bestätigte Darr.
"Okay."
Kepler unterbrach die Verbindung und drehte sich um.
Das von Toii geschaffene Loch erwies sich als sehr hilfreich, um auf den Korntank zu klettern. Von dort aus konnte Kepler gut nach Norden sehen.
Der Rauch war nicht weniger geworden, aber der rechte Berg rauchte nicht mehr. Blitze der Lichtbogenwaffen gab es nach wie vor und genauso intensiv, aber auch mehr am linken Berg. Das Grollen war etwas leiser geworden.
Kepler kletterte vom Mähdrescher herunter.
Am Lagerplatz sah Areía mit einem undefinierbaren Blick kurz zu ihm, setzte sich abgesondert hin und hob das Gesicht zur Sonne. Kepler war es egal, dass sie tat, als ob er nicht existieren würde, ihn regte auf, dass niemand Wache hielt.
Die Ruhe hatte sich jedes Mitgliedes der Gruppe bemächtigt. Goii saß mit dem Rücken zum Feuer etwas weiter entfernt, beugte sich tief vor und machte etwas an seinem Bauch. Hefaisoii und ein Bogenschütze standen über der toten Gazelle und unterhielten sich. Darr und Koii drückten sich in den Schatten eines Busches, der etwas abseits stand. Homeroii zerrte Toii an die Seite, kaum dass der Riese beim Feuer war, und begann sofort, ihn über die Geschehnisse im Labyrinth auszufragen. Kepler wies die beiden an, die Umgebung im Auge zu behalten und ging zu dem Busch, an dem Darr und Koii sich unterhielten.
"Masta, die jährliche Gesundheitsuntersuchung wird doch trotz des Verlustes des Kraftwerks ganz normal weiterlaufen?", hörte er den Wissenschaftler fragen.
"Was spielt das denn noch für eine Rolle?", entgegnete der Bürgermeister von Gondwana. "Der Zeitsprung wird das alles eh egalisieren."
"Ja... ähm", machte Darr. "Ich will nur sichergehen, dass die Menschheit überlebt, falls wir scheitern, Masta. Also, läuft die Untersuchung?"
Koii ging nicht auf die angespannte Frage ein.
"Wir dürfen nicht scheitern, Orlikon", sagte er im Ton eines Befehls. "Wir müssen alles dafür tun, ist das klar? Nur deswegen habe ich deinen Mutanten, der ein Mischling aus Syths und Gools ist, das arme Tier fressen lassen."
"Falsch", widersprach Darr sofort und kalt. "Gools fressen, Syths jagen. Er tötet. Mach dir bloß nichts vor, Koii, du hast es ihn nicht machen lassen, du hast gemacht was er wollte. Er schafft es ohne dich nach Ofir. Du ohne ihn – nicht."
Es war nicht überheblich, nur eine scharfe Erinnerung an die Verhältnisse. Jedoch klang es fast zu deutlich durch, dass Darr alles hatte, weswegen er nach Gondwana gekommen war. Das traf zwar zu, war aber undiplomatisch. Und vielleicht brauchten Kepler und der Wissenschaftler diese Leute doch noch.
"Masta Koii", rief Kepler, bevor die gegenseitige Abneigung beider Männer offen ausbrach, "komm mal bitte."
Der Bürgermeister erhob sich und ging zu ihm. Sein Gesicht war abgehalftert und müde, sein Blick erbost.
"Masta, was denkst du, sollten wir jetzt weiter?", wollte Kepler wissen.
Er hatte betont sachlich gefragt. Genau das fehlte Koii, eine Bestätigung seiner Person. Er schien Darrs Kränkung sofort vergessen zu haben und dachte nach, ernst und etwas übertrieben lange.
"Wir sollten uns solange ausruhen wie es geht", entschied er.
Kepler wusste, dass der globale Zeitsprung eine Lüge war, aber solange der Bürgermeister von Gondwana ein Ziel hatte, würde er alles daran setzen, um es zu erreichen. Und damit Kepler helfen, zurück nach Hause zu kommen.
"Danke für den Rat", sagte er. "Dann machen wir es so."
Koii nickte und ging mit aufgehelltem Gesicht davon.
Kepler sah über die Schulter. Darr war aus dem Schatten des Busches weggegangen, er stand jetzt fast genau an der Stelle, die Kepler inspiziert hatte. Wenige Meter weiter begann eine ausgedehnte Fläche, auf der sich ein Teppich aus fast einen Meter hohem Gras ausbreitete. Kepler ging zu Darr.
Der Wissenschaftler hörte ihn nicht, er stand mit dem Rücken zu ihm und war in ein Gespräch über das Funkgerät vertieft. Kepler drückte zwei Mal ans Ohr.
"Asklepoii, wie läuft die Untersuchung?", fragte Darr gerade drängend.
"Schleppender als erhofft, Lehrer", bekam er die Antwort. "Die Menschen sind verängstigt. Erst waren wieder Syths in der Stadt, dann fiel das Kraftwerk aus."
Der Name und die Stimme ließen Kepler sich an den Arzt mit der Narbe im Gesicht erinnern, der ihn versorgt hatte. Allem Anschein nach war er wie Hefaisoii einer von Darrs Handlangern. Und der zog wohl eine Verschwörung durch.
"Aber ich schaffe das schon, Darr", schloss Asklepoii munterer.
"Danke, mein Freund", hauchte der Wissenschaftler erleichtert aus.
"Du musst mir nicht danken, Lehrer", sagte der Arzt. "Es ist für uns alle."
"Ich danke dir für deinen Glauben, Asklepoii."
"Ich habe auch keine Wahl, oder?"
"Niemand von uns hat sie", bestätigte Darr bedrückt und machte eine längere Pause. "Hast du noch Zugriff auf die Satelliten?"
"Ja."
"Und? Kommen sie?"
"Nur etwa eine halbe Million ist in Atlanta aufgebrochen..."
"Aus allen Städten?", fragte Darr niedergeschlagen.
"Ja."
"Zu wenig..."
"Und die Hälfte ist umgekehrt", ergänzte Asklepoii. "Viele sind erfroren."
"Verstehst du jetzt, warum wir das machen müssen?", hakte Darr nach.
"Du hast Recht, so wie sie sind, werden die Menschen niemals siegen. Nicht mal überleben", erwiderte Asklepoii ein wenig scharf. "Doch das habe ich schon vor dreißig Jahren verstanden. Nachdem die Experimente missglückt waren."
"Ohne Norri war es für dich schwierig, Krieger zu erschaffen", sagte Darr versöhnlicher. "Aber du hast dennoch die richtigen Gene manipuliert und die Titanen sind wirklich keine schlechten Kämpfer geworden. Toii ist dir wirklich sehr gut gelungen. Und Areía ist wirklich brillant."
"Danke", brummte Asklepoii ebenfalls in einem sanfteren Ton. "Nur ein wenig dösig sind die Titanen alle irgendwie." Er atmete hastig ein. "Du, du... befürchtest du nicht, dass es wieder so kommt?"
"Nein", antwortete Darr fest. "Wir hatten Athleten genommen. Jetzt haben wir auch den Verstand beigemischt."
"Ah, richtig", sagte Asklepoii erleichtert.
"Was ist mit den Atlantiden, die weiter gehen?", wechselte Darr das Thema.
"Sie schaffen ein paar Stadien am Tag", antwortete Asklepoii.
"Jagen die Syths sie?"
"Weder die noch die Gools, Atlanta ist wie leergefegt von ihnen", berichtete Asklepoii. "Ach was, der ganze Planet ist es seit ein paar Tagen."
"War wohl nichts mit der Ablenkung", bedauerte Darr.
"Dafür schaffen vielleicht ein paar es doch bis nach Afrika."
"Hoffentlich bringen sie wirklich gute Gene mit", wünschte der Wissenschaftler seufzend. "Asklepoii", fuhr er nüchtern fort, "wir sind nur noch einige Stadien entfernt, länger als ein paar Tage haben wir nicht mehr."
"Ich nehme die jüngsten und stärksten Frauen zuerst", erwiderte der Arzt.
"Über Atlanta breitet sich eine neue Eiszeit aus", sagte Darr. "Ich glaube nicht, dass die Kälte bis hierhin kommt, aber geh mit den Frauen für alle Fälle an die Küste des schmalen Meeres. Es gibt dort genügend Nahrung, und der Kontinentalgraben bewegt sich gerade, das erzeugt Ultraschallwellen, deswegen gibt es dort nicht all zu viele wilde Tiere."
"Die Tiefebene, die gerade zu einer Depression wird?"
"Ja."
Beide Männer verstummten. Kepler überlegte, er hatte das Gefühl, dass er eigentlich wissen müsste, was es mit dem Afar-Dreieck am Roten Meer in Äthiopien an sich hatte. Die Region war einzigartig, dort gab es gleich drei aktive Grabenbrüche, die wegen des Kontinentendrifts verursacht wurden. Aber das tat sich dort angeblich schon seit dreißig Millionen Jahren. Falsch, korrigierte Kepler sich, plus die Viertelmilliarde des Galaktischen Jahres. Er hatte die Gegend auf der Karte nur flüchtig gesehen, ihm war dort nichts Besonderes aufgefallen.
Seine Überlegungen wurden vom Wissenschaftler unterbrochen.
"Noch was, mein Freund", begann Darr irgendwie verschlagen bittend, "versteck bitte irgendwo eine Probe in einer Kapsel mit einem Marker. Und zwar zehn Stadien tief."
"Versuche ich", antwortete Asklepoii. "Wozu eigentlich?"
"Für alle Fälle", wich Darr aus. "Das war es dann", sagte er dann hohl.
"Wir werden uns nie wiedersehen, oder?", fragte Asklepoii zutiefst bedauernd.
"Zumindest nicht so", echote Darr mit ebenfalls belegter Stimme.
Asklepoii atmete durch.
"Für die Menschheit, Lehrer", sagte er bemüht munter.
"Für die Menschheit, Asklepoii", echote Darr schwermütig.
Er beendete das Gespräch und starrte einige Momente reglos in die Weite, bevor er auf das Funkgerät in seiner Hand blickte. Mit einer endgültigen Bewegung warf er es zur Seite weg. Dann drehte er sich um und zuckte zusammen.
"Worum ging es?", fragte Kepler.
"Das betrifft Sie... nicht", antwortete Darr. "Lauschen Sie etwa?"
"Klar. Ist sonst langweilig, dazustehen und auf Sie aufzupassen", antwortete Kepler. "Darr, es ist mir echt Latte, was für einen Putsch Sie da anzetteln, es ist Ihre Zeit. Aber – ich will in meine zurück und nur Sie können mich dahin schaffen." Er sah den Wissenschaftler unmissverständlich an. "Sie werden sich nie, niemals wieder soweit entfernen, es sei denn, ich erlaube das, klar?"
"Ja. Es tut mir leid", antwortete Darr ergeben.
"Nicht, dass es wehtut", setzte Kepler warnend nach. "Und jetzt kommen Sie mit. In meinem Rucksack ist noch Munition, und Sie haben leere Magazine."