IV.

20. Die Motoren hielten das aufgetauchte Boot in der Mitte des Flusses quer zur Strömung. Kepler blickte über Areías Schulter auf den Kommunikator.

"Sie haben einigen Intellekt, oder?", stellte er mehr fest, als dass er fragte.

"Soviel wie Primaten", antwortete die Technikerin. "Wieso?"

"Es ist zwar nicht die einzig mögliche, aber die am besten geeignete Stelle zum Anlanden", antwortete Kepler. "Und dieses... Ding da scheint das zu wissen."

"Wir könnten ein paar Stadien weit den Fluss herunter fahren", meldete Koii sich, der hinter ihm stand und über seine Schulter blickte. "Vielleicht gibt es dort auch eine gute Stelle. Oder wir gehen am anderen Ufer ans Land."

"Nein. Früher oder später müssen wir auf das zephyrstliche Ufer", erwiderte Kepler. "Und wenn wir wegfahren, rennt das Vieh uns hinterher und holt noch paar Kumpels dazu. Dreh uns bitte einmal um dreihundertsechzig Grad", wies er Areía an. "Ich will wissen, ob es allein ist."

"Um was soll ich uns drehen?", fragte die Technikerin.

"Im Kreis, Mensch", gab Kepler zurück.

"Um zwei Radianten also?", vergewisserte Areía sich.

"Wenn es denn so kompliziert bezeichnet werden muss – ja", erwiderte Kepler.

Ohne weitere Kommentare drehte die Technikerin das Boot, diesmal ohne dass es ruckte. Das Ufer verschwand vom Bildschirm. Die Wasseroberfläche wurde vom Wind gekräuselt, sonst war sie still. Das andere Ufer schob sich auf den Schirm. Es war leer. Dann kam eine Ansammlung aus grauen, dreißig Meter hohen Betonpfeilern in Sicht. Sie standen eng beieinander über die ganze Flussbreite. Der Blaue Nil floss gemächlich zwischen ihnen in das tiefe Dunkel des Kraftwerks hinein. Auf der Überdeckung, die die Pfeiler überspannte, war keine Bewegung erkennbar. Areía stoppte das Boot, als das westliche Ufer wieder den ganzen Schirm des Kommunikators ausfüllte.

"Bring uns auf zwanzig Meter an das Ufer heran und dreh uns mit der Steuerbordseite zur Landestelle", sagte Kepler.

"Mit welcher Seite?"

"Mir der rechten", brummte Kepler. "Aber was von Radianten quasseln."

Während Areía seine Anweisung ausführte, zwängte er sich zwischen den Bogenschützen zurück zur Luke. Sie machten ihm bereitwillig Platz, aber als er sich davor stellte, hoben sie unwillkürlich die Armbruste. Kepler brachte die Glock mit beiden Händen in Anschlag und schloss die Augen.

"Schießt mir nicht in den Rücken", bat er vorsichtshalber. "Areía, aufmachen."

Die Verriegelung im Inneren der rechten Klappe wurde gelöst und sie begann von oben nach unten abzukippen. Kepler öffnete langsam die Augen, während das Tageslicht immer mehr das stickige Innere des U-Bootes erhellte. Die heiße Luft der afrikanischen Savanne, gewürzt mit dem frischen Duft des Nilwassers, ließ Kepler kurz lächeln. Dann berührte die Laderaumklappe das Wasser.

Der Gool am Ufer wirkte verdattert. In einer fast menschlich anmutenden Pose verharrte er und glotzte das Boot an. Anscheinend konnte er nicht begreifen, dass sein Mittagessen sich quasi zu seiner selbst einlud. Ohne zu blinzeln hielt der Gool seine geistlosen, düsteren roten Augen auf das Boot gerichtet. Dann hoben seine Arme sich abwartend. Kepler musterte ihn, jetzt hatte er mehr Zeit dazu, als vor ein paar Tagen auf dem Weg nach Gondwana.

Das Monster glich vollkommen den dreien, die Kepler getötet hatte. Es sah zwar grässlich aus, aber das konsequent. Der riesige, massive, aber absolut symmetrische und vollkommen ausgewogen proportionierte Körper mit enormen Muskeln war eine bis ins Detail vollendete Katastrophe. Die Natur konnte dieser resolut zum Vernichten geschaffenen Bestie überhaupt nichts entgegensetzen, der Gool war jedem Lebewesen kompromisslos überlegen. Nur eines störte seine makellose tödliche Perfektion.

Mit seiner weißen Haut konnte der Gool sich in der Savanne nicht verbergen, die Farbe war zwar fahl, stach dennoch deutlich aus der Umgebung heraus. Andererseits, diese Ausgeburt brauchte sich nicht zu verstecken, sie hatte keine natürlichen Feinde. Dennoch störte seine Farbe den ansonsten beinahe tadellosen Eindruck noch auf eine andere Weise. Hier und da schimmerten auf der völlig glatten harten Haut rötliche Flecke. Anscheinend fehlte den Syths etwas Entscheidendes, um ihrer grausamen Kreation auch noch die Tarnfähigkeit zu verleihen – und um sie vor Sonnenbrand zu schützen. Dafür hielt die Haut des Gools nur den Klingen der Syths und Lichtbogenstrahlen nicht stand, gegen jede menschliche Waffe dieser Zeit war sie jedoch ausreichend resistent.

Gegen eine Erfindung aus der Vergangenheit überhaupt nicht. Die natürliche Hautpanzerung schälte die Ummantelung des Geschosses ab und dessen harter Kern stanzte ein akkurates Loch in die Brust des Gools. Verblüfft sprang das Monster rückwärts und sah auf die Wunde herunter, aus der dunkles Blut sickerte. Verwirrt hob der Gool den Kopf. Sein Maul öffnete sich, doch das Kläffen wirkte nicht drohend, sondern konfus. Kepler zielte höher und schoss. Kleine Wolken aus Blutspritzern hinterlassend, drangen zwei Geschosse in den Schädel des Monsters ein. Es taumelte und fasste mit beiden Pranken an den Kopf.

Die Neunmillimeter hatte nicht genügend Energie, um auch die hintere Schädelwand durchzuschlagen, aber dafür zündeten die Brandsätze in den Geschossen. Das tausende Grad heiße Zirkoniumfeuer kochte die Feuchtigkeit im Hirngewebe sofort auf, zwischen den Klauen schoss Dampf aus dem Kopf heraus.

Der Gool wackelte eine Sekunde lang, dann brach er zuckend zusammen. Einige Sekunden lang zitterte der ideal grässliche Körper noch, dann verflüchtigte der Rauch über den Einschusslöchern sich und der Gool wurde still.

Die Brandsätze waren nicht optimal wirkungsvoll, sie verbrannten einfach zu schnell, Splittergeschosse wären besser gewesen. Dennoch halbwegs zufrieden nahm Kepler die Glock herunter. Und sah im Augenwinkel, dass Toii mit erhobener Armbrust seitlich hinter ihm stand und mit offenem Mund hinaus starrte.

"Mein breiter Begleiter", rief Kepler sachte, "der Gool ist verschieden, also nimm bitte deine monströse Waffe runter. Vorsichtig."

Toiis Kiefer schlossen sich mahlend, der Riese senkte die Armbrust, die doppelt so groß wie die Waffen der anderen war, und nahm den Finger vom Abzug.

"Danke", sagte Kepler. "Areía, los, ans Ufer."

Er war froh, dass die Spitze des gigantischen Bolzens in Toiis Armbrust mittlerweile nach unten zeigte. Diesmal ruckte das Boot ziemlich stark, als die Technikerin es hastig in Bewegung setzte. Toiis Waffe löste nicht aus. Kepler sah auf ihren Abzug. Areía hatte es mit einer Sicherung modifiziert.

Drei Minuten später waren alle an Land und gruppierten sich zwanzig Meter vom Gool entfernt. Die Bogenschützen hielten die Armbruste in alle Richtungen. Darr zog seinen Tarnanzug an. Der schien jetzt um einiges flexibler zu sein.

Kepler sah zum Kraftwerkgebäude. Die Maschinen hatten unbestreitbar keinen Sinn für Harmonie. Das Bauwerk störte den Fluss anscheinend überhaupt nicht, aber es wirkte inmitten der Flusslandschaft hässlich deplatziert. Die streng kantigen Wände schmiegten sich zwar nahtlos an die Ufer, ragten aber irgendwie selbstherrlich in die Höhe. Etwa in der Mitte zweigte vom Hauptgebäude des Kraftwerks im geraden Winkel ein rechtwinkliger niedriger Trakt weit in die Landschaft hinaus. Das Kraftwerk war an keiner einzigen Stelle beschädigt und Kepler konnte sich nicht vorstellen, wieviele Jahre es schon hier stand. Kein Riss, keine Verwerfung, nicht einmal eine Verfärbung störte die makellos grauen Flächen. Nur hier und da wuchsen unweit der Wände einige niedrige Büsche, den nahen Fluss und den Schatten des Bauwerks ausnutzend.

"Weiter", sagte Kepler. "Wir haben erst ein Zehntel der Distanz hinter uns."

"Was ist mit der Argonaute?", wollte Areía wissen.

"Wenn jemand zurück will, soll er sie nehmen", antwortete Kepler. "Ansonsten ist es mir egal, solange wir sie nicht um das Kraftwerk schleppen können."

Areía zuckte die Schultern. Ein paar Bogenschützen schienen gründlich über Keplers Worte nachzudenken, aber keiner ging zurück zum U-Boot.

"Nicht so nah an der Wand", rief Kepler, als Areía die Lichtbogenwaffe anhob und sich in Bewegung setzte.

Sie marschierten hintereinander los. Die Wand zweihundert Meter rechts von ihnen türmte sich in den Himmel. Obwohl nur dreißig Meter hoch und im warmen grauen Ton, zeichnete sie sich bedrohlich dunkel und scharf gegen den blauen Himmel ab, an dem langsam krause Wölkchen dahin zogen.

Kepler wurde nach einem Kilometer langsamer. Im Gegensatz zu den Gondwanern und Darr fühlte er sich nicht müde, sondern ganz im Gegenteil. Ihn beschäftigte nur die Überlegung, ob sie drei zusätzliche Kilometer um den Flügel herum gehen sollten, oder lieber durch ihn hindurch. Falls es eine Tür gab.

Er sah in den Himmel. Bis zur Dämmerung waren es noch fünf Stunden. Kepler entschied, das monumentale Zeugnis maschineller Fertigkeit nicht zu betreten, er sollte lieber draußen bleiben. Dort, wo er sich auskannte. Seine Augen streiften über die Oberkante der Wand des Hauptgebäudes.

"Stopp!", rief er.

Als die Kolonne anhielt, lief er nach links weiter ins offene Land hinaus. Nach einhundert Metern sah er sich um. Danach winkte er Darr zu sich, zog das Satellitenbild aus der Tasche heraus und faltete es auf.

"Was ist denn?", fragte der Wissenschaftler etwas atemlos.

"Sie sagten, unbefestigte Städte wären leer." Kepler zeigte auf die Karte. "Ist diese Siedlung in der Nähe von Khartum... äh – Ofir, vielleicht doch bewohnt?"

Darr zog den Kommunikator aus der Tasche, tippte darauf herum und las.

"Mit Sicherheit nicht", behauptete er anschließend. "Das ist nämlich keine Siedlung, sondern eine technische Einrichtung. Sie ist garantiert verlassen."

"Wurde sie früher vom Kraftwerk gespeist?"

Darr tippte kurz auf seinem Kommunikator herum.

"Nein, über Solarzellen", antwortete er.

"Und die Maschinen verlegen die Kabel in der Erde, richtig?", fragte Kepler weiter. "Zumindest habe ich keine Strommasten gesehen."

"Richtig", bestätigte Darr, dieses Mal ohne den Kommunikator zu benutzen.

"So. Wohin laufen dann diese Kabel?", wollte Kepler wissen.

Der Wissenschaftler sah zum Kraftwerk, wohin Kepler mit dem rechten Zeigefinger deutete. Von hier aus war soeben ein Mast erkennbar, der aus dem Dach ragte. Von diesem zogen sich vier dicke dunkle Kabel nach Norden. Kepler drehte sich mit ausgestreckter Hand nach links. An der Biegung des Flusses hinter dem Kraftwerk kamen die Kabel an einem Strommast am rechten Ufer wieder in Sicht. Danach folgten sie dem Verlauf des Flusses nach Nordwesten und verloren sich bald im Blau des Himmels.

"Sie haben erzählt, in der Nähe der Versiegelten Stadt befände sich ein Syth-Stützpunkt", sagte Kepler. "Ich sehe ihn auf dem Bild aber nicht."

"Doch", widersprach Darr. "Er ist nur nicht als solcher zu erkennen. Hier", er berührte mit der Fingerspitze die Stelle, wo sich vor Jahrmillionen die sudanesische Hauptstadt befunden hatte, "diese zwei Berge sind künstlich."

"Ist aber eine lange Leitung."

"Diese Stelle des Flusses ist die energieergiebigste", erwiderte Darr. "Es ist wohl einfacher, Leitungen zu ziehen, als Kraftwerke zu bauen..."

Ein warnender Schrei unterbrach ihn. Kepler sah sofort zu den anderen. Mehrere Bogenschützen standen auf den Knien mit den Armbrusten im Anschlag, einer winkte heftig. Kepler blickte über die Schulter.

Noch weit weg, etwa siebenhundert Meter von ihnen entfernt, hob sich eine kleine Staubsäule von der Erde. Trotz der Entfernung war es deutlich, wer die Staubfahne verursachte. Ein schnell laufendes weißes Wesen.

Kepler nahm das Gewehr vom Rücken, ging auf ein Knie und winkelte den linken Arm nach vorn an. Er legte den Schaft des Gewehrs auf die Ellenbeuge, öffnete die Visierklappen und legte den Finger auf den Abzug.

Der Gool raste nicht direkt auf sie zu, sondern schien einen Bogen machen zu wollen, als ob er auf das Dach des Kraftwerks kommen wollte, um von oben anzugreifen. Kepler verfolgte ihn mit dem Lauf, während er nachrechnete.

Der rote Faden erschien im Absehen und Kepler drückte ab. Im selben Moment änderte der Gool jedoch abrupt die Richtung und schwenkte auf die Gruppe ein. Das Geschoss würde ihn verfehlen. Kepler schoss nochmal.

Und knurrte innerlich. Nichts ging für ihn über ein Repetiergewehr, nicht einmal die Waffe, die er selbst erdacht hatte. Aber mit seinem geliebten AWSM hätte er niemals so schnell zweimal hintereinander schießen können.

Im Gegensatz zur Neunmillimeter blieb das Lapua-Geschoss nicht im Schädel des Gools stecken. Die kinetische Energie dieses Projektils war enorm, es riss dem Monster den halben Kopf weg. Der Gool stürzte vornüber zu Boden, seine Beine und der Schwanz flogen in einem Bogen nach vorn über, dann überschlug der Gool sich nochmal und rutschte einige Meter weiter, bevor er reglos in einer Staubwolke liegen blieb. Sie hellte sich gleich von innen auf. Der Zirkoniumbrand war nicht spektakulär, aber verheerend, die glühenden Funken fraßen sich durch das Gewebe und beendeten das, was das Projektil eingeleitet hatte.

"Haben die Syths jetzt also nur ein paar Wächter aktiviert oder eine ganze Armee?", murmelte Kepler. "Los, weiter."

Als er und Darr zurückkamen, sahen die Bogenschützen ihn nicht ganz wie einen Übermenschen an, aber auch nicht weit davon entfernt. Areía lächelte ihn sogar an. Nur Goii blickte angestrengt gleichgültig zur Seite.

"Hört zu", sagte Kepler an alle gerichtet. "Wir bleiben im Freien, damit wir sie kommen sehen. Und wir bleiben stets zusammen. Nicht einmal wenn ihr pinkeln müsst, geht ihr allein weg, sondern mindestens zu zweit."

Alle nickten. Areía war allerdings nicht begeistert darüber. Dafür war Goii es plötzlich umso mehr. Er sah die junge Frau an und blickte gleich wieder weg.

"Deckung!", schrie Kepler im nächsten Moment.

Mittlerweile kannte er das Geräusch, es hörte sich an, als ob ein glühender Gegenstand durch die Luft flog.

Die Gondwaner kannten diesen Laut wohl besser als sonst jemand auf der Welt. Sie warfen sich nieder noch während Kepler geschrieen hatte. Arr, Darr und Koii folgten ihrem Beispiel nach kurzem Zögern. Kepler ging auf ein Knie, während er die Kapuze überwarf. Dann krümmte er sich und sah nach oben.

Das Geräusch, das fast erstorben war, nachdem der Gleiter über das Kraftwerk hinweg gejagt hatte, schwoll wieder an. Diesmal war es leiser, der Gleiter kehrte viel langsamer zurück. Keplers Finger tasteten sich automatisch zum Abzug des Gewehrs vor, während der Gleiter noch langsamer wurde, rasant an Höhe verlor und sich dann in eine langgezogene Kurve legte. Er überflog in einem halben Kilometer Höhe das Kraftwerk und vollendete den Kreis dort, wo der Flügeltrakt endete. Dort richtete der Gleiter sich aus und beschleunigte. Eine Sekunde später war er verschwunden. In Richtung Gondwana.

Die Bogenschützen erhoben sich sichtlich erleichtert, weil sie für den Moment einem tödlichen Kampf entgangen waren. Erst dann wurde ihnen bewusst, wohin die Außerirdischen hingeflogen sind.

Keplers Schrei war ein Reflex gewesen, er wusste, dass die Syths die Gruppe sehen würden. Er hätte nur gern gewusst, ob sie auch ihn gesehen hatten. Aber er hatte sich mit dem Ghillie viel Mühe gegeben, eigentlich musste er sowohl im Infrarot als auch visuell unsichtbar gewesen sein. Die Freude der Bogenschützen und die noch größere von Darr und Arr teilte er dennoch nicht.

"Warum sind sie nicht gelandet?", fragte er im Versuch zu begreifen, ob er etwas übersah oder ob ihm wieder Informationen fehlten.

Niemand antwortete ihm, er blickte nur in ratlose Gesichter. Die meisten schienen nicht einmal seine Überlegung nachzuvollziehen.

"Darr, gibt es einen Eingang ins Kraftwerk?"

Der Wissenschaftler zog die Erkundigung sofort über den Kommunikator ein.

"Ja."

"Kommen Sie da rein?"

"Ja."

Kepler wandte sich zu Koii.

"Masta, habt ihr die Funkgeräte mit... ich meine – die Kommunizierer, die ihr in Gondwana benutzt habt?", fragte er.

"Ja, natürlich."

"Wie groß ist die Reichweite?"

"Kommt auf die Frequenz an", antwortete Darr anstelle von Koii. "Mit Langwelle und im freien Gelände sind es an die achtunddreißigtausend Stadien. In einer Stadt wie Gondwana etwa ein Zehntel davon. In Gebäuden viel weniger."

Kepler rechnete die Angaben in zweihundert und zwanzig Kilometer um und streckte die Hand aus. Koii reichte ihm ein Walkie-Talkie. Das Gerät bestand aus zwei Hälften, aber Schrauben, die sie zusammenhielten, sah Kepler keine.

"Können Sie es aufmachen?", fragte er Darr, doch mehr pro forma.

"Wie denn?", wollte der Wissenschaftler wissen.

"Mit einem Werkzeug", brummte Kepler.

Er zog das Feldmesser heraus und kniete sich hin. Das Funkgerät gegen die Erde drückend, stocherte er in dem winzigen Spalt zwischen den Hälften, dann jagte er das Messer mit einem Schlag durch das Plastik durch. Einige Stücke splitterten ab. Kepler hebelte das Gerät vorsichtig auseinander. Von Elektronik verstand er nicht viel, aber er sah deutlich, dass er eine sehr fortschrittliche Technologie vor sich hatte. Die Platine war winzig, die Bauteile darauf kaum sichtbar. Wenigstens hatte sich der menschliche Organismus noch nicht soweit entwickelt, Radiowellen direkt aufnehmen zu können, deswegen gab es sowohl einen deutlich erkennbaren Lautsprecher als auch ein Mikrophon. Beide waren über kurze Drähte mit der Platine verbunden. Kepler sammelte das zerlegte Funkgerät auf, winkte Arr zu sich und gab ihm das Gerät.

"Dann los", befahl er anschließend. "Darr, führen Sie uns zum Eingang."

"Was haben Sie vor?", wollte der Wissenschaftler wissen. "Vorhin wollten Sie nur weg, wieso wollen Sie jetzt doch hinein? Wozu?"

"Ablenkung", antwortete Kepler. "Irgendetwas bereiten die Syths vor."

Er schulterte das Gewehr. Koii war schon zielstrebig zum Flügel losmarschiert.

Darr starrte ratlos auf den zerstörten Handscanner an der Wand neben der Tür und wusste nicht weiter. Genausowenig wie der Rest der Gruppe, die sich sammelte. Dass es Probleme geben würde, damit hatte Kepler nicht gerechnet – er hatte es gewusst. Er wünschte sich, die nachfolgenden würden alle von der Art des momentanen sein. Er warf nur einen Blick auf das kaputte Schloss, musterte kurz die Tür und drehte sich zu Areía.

"Aufmachen."

"Ich?", staunte sie.

"Ja", bestätigte Kepler. "Du bist die einzige, die das auf die Schnelle kann."

"Ich weiß aber nichts von Sperrern", stammelte Areía. "Für die Argonaute gab es einen Kommunikator und die Lichtbogenwaffe habe ich lange studiert..."

"Eben", unterbrach Kepler sie. "Richte das Ding auf die Tür und drück das Knöpfchen oder wünsche es dir oder wie auch immer diese Knarre funktioniert."

"Oh", machte Areía verlegen. Dann wurde ihr Blick entschlossen. "Alle Mann zurücktreten!", brüllte sie.

Sie ging zehn Meter rückwärts, dann noch zwei. Sie vergewisserte sich, dass niemand gefährdet war und zielte sorgfältig. Kepler zog die Glock.

Der Strahl aus blendendweißem Plasma leuchtete für einen Augenblick grell auf, dann jagte der Stromstoß durch ihn und pulverisierte ein Stück der Tür dort, wo auch Kepler das obere Scharnier vermutet hätte. Areía senkte die Waffe und eine Sekunde später klaffte auch unten links ein rauchendes Loch in der Tür. Ein Moment verging. Langsam kippte die Tür nach hinten und krachte ins Gebäude hinein. Staub wurde dabei keiner aufgewirbelt. Nur ein ganz leichter Hauch, der kaum wahrnehmbar nach synthetischem Öl roch, kam aus dem Kraftwerk.

Kepler hielt die Glock in den dunklen Eingang gerichtet. Nach zwanzig Sekunden senkte er die Pistole, aus dem Gebäude kamen weder sonderbare Geräusche noch seltsame Gerüche noch sonst irgendetwas.

"Arr, Darr und zwei Schützen – mitkommen", wies er an. "Die anderen bleiben hier und sichern. Areía, vor allem du", fügte er unmissverständlich hinzu, als er die Regung der jungen Frau sah. "Toii, du auch."

Mit der wieder angehobenen Glock betrat er das Kraftwerk. Seine Augen brauchten einige Sekunden, dann konnte er halbwegs gut sehen. Viel Licht gab es hier nicht, aber es war auch nicht völlig dunkel. Das Dach des Gebäudes bestand aus dunklen, aber halbwegs durchsichtigen Platten mit einem feinen Maschenmuster. Die Maschinen hatten nicht nur den Fluss ausgenutzt, um Energie zu gewinnen. Wenn man schon in Afrika war, dann sollte man auch die Sonne nutzen, die Platten waren Fotoelemente. An der Wand links neben sich sah Kepler eine Tür und daneben eine Tafel. Darauf standen zwar Buchstaben die er kannte, aber die Worte ergaben für ihn keinen wirklichen Sinn.

"Darr, was ist das hier?", wollte er wissen.

Der Wissenschaftler überflog die Schrift und runzelte kurz die Stirn.

"Äh", begann er im Versuch, die Aufschrift in eine Sprache zu übersetzen, die Kepler verstand. "Das Kraftwerk ist selbstorganisierend. Hier ist der Wartungstrakt. Äh... die Maschinen bauen hier sich selbst nach, wenn sie kaputt gehen."

"Okay. Wir müssen zu der Stelle, wo die Energie abgegriffen wird."

Darr deutete nach rechts, in Richtung des Hauptgebäudes.

"Da lang."

Kepler ging vor. Er bewegte sich zügig, aber nicht zu schnell. Seine Sinne nahmen trotzdem keine Veränderungen wahr. Erst nach und nach begann er, immer deutlicher ein leises Brummen zu hören. Es war völlig mechanisch und rührte wahrscheinlich von den Turbinen her, die vom Fluss gedreht wurden.

Nach vierhundert Metern erreichten sie das Hauptgebäude. Eine Tür fehlte, nur ein Torbogen markierte den Übergang. Das Brummen war einen Deut deutlicher geworden. Kepler blieb stehen und sah über die Schulter. Arr schloss zu ihm auf, Darr war hinter ihm. Dahinter gingen Goii und ein Bogenschütze mit der Armbrust im Anschlag. Kepler sah nach oben. Durch die Platten hindurch waren die Kabel kaum wahrnehmbar, es dauerte, bis Kepler sie ausmachen konnte. Er drehte sich nach rechts und ging weiter. Nach einigen Metern blieb er stehen.

"Was ist?", fragte Darr sofort.

"Hier riecht es anders", antwortete Kepler unschlüssig.

"Ja?", fragte der Wissenschaftler ratlos. "Ich rieche nichts."

"Aber ich."

"Was denn?"

"Keine Ahnung", erwiderte Kepler zaudernd. "Algen oder so."

"Dirk." Darr sah ihn schief an. "Wir sind in der Nähe eines Flusses."

"Schon...", machte Kepler. "Seid einfach vorsichtig."

Er ging langsamer weiter. Dann bog der Gang nach Süden ab. Das Brummen der Turbinen wurde leiser, dafür begann die Luft sich beim Atmen ganz leicht knisternd anzufühlen. Sie war vom elektrischen Strom ionisiert, die Verteilerstation lag wohl nicht mehr weit entfernt. Kepler sah nach oben. Hier waren die Platten etwas klarer, er sah die Kabel sofort. Weit war es nicht mehr.

Nach einigen Metern wurde es dunkler, als die Gruppe unter einem weiteren Torbogen durchging. Zehn Meter weiter lichtete der Raum sich wieder. Kepler beschleunigte die Schritte, jetzt hörte er das Knistern des Stromes.

Im nächsten Moment hörte er etwas. Reflexartig warf er den Oberkörper nach links und senkte dabei den Kopf. Etwas flog an ihm vorbei. Er hörte einen weichen schmatzenden Aufschlag, in dem ein angesetzter Schrei unterging, der voller Entsetzen war, danach den Fall eines Körpers. Zugleich sah Kepler zwei Meter vor sich eine Bewegung am Boden. Er feuerte, bevor er realisierte, worauf.

Das Gebäude war gewiss aus feuerhemmendem Material errichtet, die Zirkoniumfunken von zwei Geschossen verglühten in den Wänden und im Boden. In ihrem flüchtigen Schein korrigierte Kepler die Ausrichtung der Glock. Die nächsten drei Geschosse trafen, und er sah dunkle Flüssigkeit spritzen. Zugleich hörte er wieder eine haschende Bewegung, diesmal nur wenige Zentimeter entfernt an der Wand. Er sprang zur gegenüberliegenden Seite des Ganges und schoss. Die Projektile trafen ins Leere, was immer sich dort bewegte, es war zu schnell. Doch die Funken trafen es und warfen es herunter. Ein seltsames Wesen fiel rücklings auf den Boden. Es sah wie ein Gool aus, war aber nur einen halben Meter groß. Rasant rollte das Wesen sich auf die Beine. Kepler schoss, aber das kleine Monster war schon gesprungen. Die ersten drei Geschosse verfehlten es, die nächsten beiden trafen es im Flug. Obwohl die Projektile es nur durchlöcherten, spritzte dunkles Blut. Das meiste landete an der Wand, aber einiges tropfte auf Arrs Beine. Sie warfen sich hoch. Nur war dieser Schmerz nicht der größte, den der Techniker erleiden musste. Auf sein Gesicht drückte sich der miniaturisierte Gool, dem Kepler ausgewichen war. Der winzige weiße Körper lag auf dem Gesicht des Technikers, die spitze Fratze des kleinen Gools drückte sich in die klaffende Wunde in Arrs Stirn. Die grotesk knorrigen Ärmchen umklammerten den Hals des Technikers, der Schwanz peitschte wie eine wütende kleine Schlange gegen Arrs in letzter Abwehr erhobene Arme. Indessen verwandelten die Beine des Technikers sich in einen zähen, wässrig-gelblichen Brei, der langsam aus den Hosenbeinen heraus floss.

Während Kepler das Magazin wechselte, rutschte er mit dem Rücken an der Wand auf den Boden. Zwei Sekunden später streckte er die Glock aus.

Die anderen drei Männer standen immer noch bewegungslos da. Dann regte sich Darrs rechte Hand, in der er die Glock hielt. Im selben Moment hörte Kepler ein zischendes Rascheln über den Boden und blickte sich um.

"Runter!", schrie er, als er endlich den nächsten kleinen Gool sah.

Darr warf sich auf den Boden, aber wahrscheinlich mehr deswegen, weil Kepler die Glock auf ihn richtete, als dass er das Monster sah, das in zwei Metern Höhe über die Wand zu ihm rannte. Kepler schoss. Eine Kugel verfehlte den Gool, der im selben Augenblick von der Wand absprang. Die nächsten beiden Geschosse erwischten ihn direkt in das sich unter der Haut abzeichnende Rückrat. Die Wucht der Projektile schleuderte den Gool zurück an die Wand. Als er dagegen schlug, presste der Aufprall zwei Blutstrahle aus ihm hinaus. Die dunkle Flüssigkeit spritzte direkt ins Gesicht des zweiten Bogenschützen. In unerträglichem Schmerz schrie der Mann auf, ließ seine Armbrust fallen und drückte die Hände ans Gesicht. Sein Wehruf wurde dadurch dumpfer, und gleichzeitig greller, als auch seine Hände sich rauchend aufzulösen begannen. Er fiel auf die Knie und krümmte sich. Kepler brauchte eine Sekunde, um zu begreifen.

Die Erinnerung an den Moment, als er das Blut des Gools in die Wunde bekommen hatte, half ihm. Dabei war er erstens immun gegen das Virus und zweitens hatte er Indolenz, aber wenn er schon den Schmerz spürte, dann war der für normale Menschen brutal. Der Bogenschütze litt entsetzlich.

Kepler tötete ihn mit einem Schuss in den Kopf und riss die Glock wieder zur Arkade hin. In der plötzlichen absoluten Stille hörte er nichts außer dem gepressten Atmen von Darr und Goii und dem wispernden Zischen des kleinen Gools. Kepler sah hin. Das Monster pulsierte leicht, während es Arrs Blut aussaugte. Seine vorhin durchsichtige Haut schimmerte jetzt rötlich durch. Arr lag nun kalkweiß und völlig bewegungslos da. Kepler zielte sorgfältig und zerteilte den kleinen Gool mit sechs Schüssen in kleine Fetzen. Danach erhob er sich langsam und ging tief geduckt in kleinen Schritten vor.

"Darr?", rief er. "Darr!"

Der Wissenschaftler riss sich vom Anblick seines Freundes los und hob die Augen. Einige Momente lang waren sie trüb, dann klarten sie halbwegs auf. Im nächsten Augenblick war sein Gesicht eine wie üblich ausdrucklose Maske.

"Was sind das für Kobolde?", fragte Kepler.

"Das Virus macht fast unsterblich", begann Darr tonlos sachlich. "Sobald die Gools verhungern, fallen sie in eine Starre, ihre Lebensfunktionen kommen fast zum Erliegen und sie schrumpfen. Bei dreißig Zentimetern sterben sie. Wittern sie zuvor jedoch ein Lebewesen, haben sie noch eine Energiereserve, um es anzugreifen. Dann saugen sie sein Blut aus, lösen den Körper zu Brei auf und fressen ihn. Finden sie so genug Nahrung, werden sie wieder vollständige Gools."

"Wenn die Dinge meiner Zeit sich in eurer Zeit wiederholen", sagte Kepler beunruhigt, "dann müssten sich sieben dieser Zwerge hier herumtreiben."

Er hob die Glock wieder an und ging weiter zum Durchgang. Aus ihm hinausgetreten, fand er sich in einem großen Raum wieder.

Hierhin hatte er gewollt. In der Mitte des Raumes sah er einen riesigen Kondensator, der einem gigantischen metallenen Fass glich. Oben ragten mehrere dicke Stangen aus ihm heraus und verschwanden in der Decke. Weitere Stangen, Kabel und Rohre zogen sich aus den Tiefen des Raumes zum Kondensator und endeten in seinen Seiten. Unweit von ihm, von Kepler aus links, befand sich an einer Säule ein schrankähnlicher Kasten.

Es waren keine sieben Zwerg-Gools hier, zumindest sah Kepler nur fünf Gegenstände, die an Zwangsjacken erinnerten und direkt vor dem Kondensator an den Boden angekettet waren. Sie waren groß genug, um einen ausgewachsenen Gool zu verschnüren. Ein geschrumpfter konnte sie mühelos verlassen.

Vier Korsetts waren leer. Die Oberfläche des fünften wölbte sich plötzlich durch ruckartige Bewegungen im Inneren auf. Im nächsten Moment erschienen im Kragen erst winzige scharfe Stoßzähne, dann zwängte sich eine wirklich winzige, aber deswegen nicht weniger grässliche Fratze eines Gools hinaus.

Kepler feuerte sofort. Die Kugel erwischte das Monster im Sprung und riss ein riesiges Loch in seinen Körper. Das Monster klatschte auf den Boden. Es war jedoch nicht tot, schrill winselnd und wild mit Armen und dem Schwanz peitschend, wand es sich im Todeskrampf.

Der Anblick jagte Kepler einen Schauer über den Rücken und er feuerte das Magazin auf den Gool leer, lud nach und durchlöcherte alle Korsetts. Dann drehte er sich abrupt um. Darr, der zu ihm gekommen war, duckte sich erschrocken herunter. Während Kepler die Glock neu aufmunitionierte, sah der Wissenschaftler forschend zu den Korsetts und atmete erleichtert durch.

"Ein Glück", krächzte er, "es ist nur ein Nest."

"Was ist daran gut?", fragte Kepler zweifelnd und hob die Glock. "Dann müsste noch das Schneewittchen irgendwo hier sein."

"Bitte wer?"

"Kraftwerk-Goolchen halt", gab Kepler angespannt zurück. "Eine weitere Kreatur, die eine ganz innige Beziehung zu uns aufbauen will."

"Es treiben sich keine weiteren Monster hier herum", versicherte Darr nachdrücklich. "So wie die Gools draußen Patrouille laufen, sind diese fünf als Wache hierhin gelegt worden."

"Und wann?", fragte Kepler misstrauisch.

"Die können jahrzehntelang an der eigenen Substanz zerren."

"Aber woher wussten die Viecher, dass wir kommen?"

"Sie spüren die Herzströme eines potentiellen Opfers."

Kepler horchte in das dämmrige Zwielicht des Kraftwerks. Außer dem Surren des Stromes nahm er kein Geräusch war. Er senkte die Pistole.

"Holen Sie den Rucksack von Arr und den zerlegten Komminizierer her", befahl er. "Wir erledigen das wofür wir hergekommen sind, und verschwinden."

Darr nickte und ging zurück. Kepler hob die Glock und ging langsam zu der Säule, an der die Steuerkonsole stand.

Eine Minute später, nachdem er die Umgebung der Säule inspiziert hatte, kamen Darr und Goii. In einer Hand hatte der Wissenschaftler den Rucksack von Arr, in der anderen die Glock des Technikers. Seine eigene Pistole steckte hinter seinem Gürtel. Goii hielt mit angeekelt verzogenem Gesicht das zerlegte Funkgerät in den Händen. Kepler nahm Darr den Rucksack ab und öffnete ihn.

"Stellen Sie die Frequenz für die größte Reichweite ein", wies er den Wissenschaftler an, während er eine Granate aus dem Rucksack herausholte.

Darr nahm Goii das Funkgerät ab. Kepler zog langsam den Zünder aus der Dynamitstange heraus. Er atmete durch, nachdem er die Granate entschärft hatte, und sah zu Goii, dessen Blick zwischen ihm und Darr huschte.

"Sichere die Umgebung", wies er ihn barsch an.

Goii wollte etwas sagen, unterließ es aber nach einem Blick auf ihn. Stattdessen hob er die Armbrust und drehte sich um. Kepler riss mit einer ruckartigen Bewegung den Auslöseknopf vom Zünder ab. Zwei winzige Kabelenden blieben an den Seiten der mit Knallquecksilber gefüllten Kapsel zurück.

"Ausmachen und her damit", sagte Kepler.

Darr machte das Funkgerät aus und reichte es ihm. Kepler zog das Messer heraus und schnitt die beiden Kabel am Lautsprecher ab. Sie waren kurz, er konnte sie gerade soeben mit den Drähten der Zündkapsel verbinden. Nachdem er damit fertig war, legte er beides vorsichtig, damit die Verbindungen sich nicht lösten, auf den Boden. Er holte aus dem Rucksack die Tarndecke heraus und schnitt einen langen Streifen von ihr ab. Danach nahm er die Dynamitstange, ging zur Säule und suchte an ihr eine Stelle, von der aus die Stahlkugeln sowohl den Kondensator als auch den Steuerschrank treffen würden. Dort band er das Dynamit mit dem Streifen an die Säule fest. Danach nahm er das mit dem Zünder verbundene Funkgerät und kniete sich vor die Granate hin. Langsam und vorsichtig führte er die Zündkapsel in die Dynamitstange ein. Darr sah mit angespannt verzogenem Gesicht zu, Goii schob sich in winzigen Schritten rückwärts zurück zur Arkade. Kepler atmete durch und schaltete das Funkgerät ein. Er und Darr duckten sich dabei unwillkürlich. Im Display leuchtete kurz die eingestellte Frequenz auf, dann wurde es allmählich dunkler. Kepler richtete sich auf.

"Das wird eine ziemlich explosive Durchsage, hoffe ich", murmelte er. "Und jetzt weg hier", befahl er, "bevor irgendwo noch ein Korsett wach wird."

Misstrauisch zum Sprengsatz schielend kam Goii einige Schritte zurück.

"Ich kriege seine Waffe", bat er verlangend.

"Hol mir erst den Kommunizierer von dem anderen", wies Kepler ihn zurück.

Sichtlich unwillig und angewidert kniete Goii vor den toten Bogenschützen, dessen Kopf nur noch eine breiige Masse aus aufgelöstem Gewebe, Blutt und Gehirn war. Beinahe würgend drehte Goii den Mann auf die Seite und fingerte das Funkgerät aus seiner Brusttasche.

"Kann ich jetzt die Waffe haben?", fragte er, als er es Kepler überreichte.

"Nein. Nimm die Bolzen deines toten Kameraden."

Zurück rannten sie. Kepler ließ Goii als ersten laufen. Er hatte keine Lust, einen Bolzen in den Rücken zu kriegen, ob aus Versehen, weil der Afrikaner wieder fast panische Angst hatte, oder mit Absicht, weil er die Glock haben wollte.

Zwei Bogenschützen standen innerhalb des Gebäudes an der Tür. Sie traten hastig zurück, als sie Goii sahen. Kepler rannte hinter ihm hinaus.

Er schloss für einen Moment im hellen Tageslicht die Augen und sog die Lungen mit frischer, würziger Luft der afrikanischen Savanne voll.

"Die anderen beiden haben es nicht geschafft", sagte er kurzangebunden nachdem er die Augen aufhatte und fragende Gesichter um sich herum sah. "Darr, geben Sie dem Bürgermeister die zweite Pistole und erklären Sie ihm, wie er mit ihr umgehen muss." Dann sah er die Bogenschützen an. "Der erste, der einen Syth oder ein Gool tötet, bekommt diese Waffe. So, und dass mir niemand niemals auf der Frequenz Siebzehn-Siebzehn sendet. Darr, wir teilen den Inhalt von Arrs Rucksack zwischen uns auf. Geben Sie dem Masta ein paar Magazine."

Der Bürgermeister wollte etwas sagen, aber im selben Moment wurde in der Weite ein dumpfes Grollen hörbar. Alle drehten sich nach Südosten. Einige Zeit verging, dann sahen sie, wie in der Ferne ein im Sonnenlicht fast unsichtbarer Feuerball in den Himmel stieg. Vielleicht war in Gondwana aus Versehen die zweite Lichtbogenwaffe explodiert. Oder der nächste Syth wurde angesichts des Todes von einem Satelliten ausgelöscht.

Kepler wollte es gar nicht wissen, er war schon so wütend genug. Weil zwei gute Männer gefallen waren. Und weil – wie sie hatten sterben müssen.

Und zwischen ihm und Lisa lagen Jahrmillionen.

Und etwas mehr als einhundert Kilometer von Afrika. Die mit der Welt, wie er sie kannte, nichts ähnlich oder gemeinsam hatten.